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Einmal Fassonschnitt, bitte
Eine Kindheitserinnerung
"So Willi, hier hast du 6 Mark. Jetzt gehst du zum Friseur Fechtelkötter und sagst ihm ganz brav: 'Meine Mutter hätte gern einen Fassonschnitt für mich. So wie immer. Ohren und Nacken frei.' Und wage dich nicht nach Hause zu kommen mit auch nur einem Haar, das über das Ohr ragt! Und den Nacken soll er auch ausrasieren. Schließlich soll mein Willi ja ordentlich aussehen. Oder soll sich die Mama schämen, wenn sie in der Stadt so einen Sohn an der Hand hat, dem die Haare bis über die Ohren gehen? Nein, das möchte mein Willi doch wohl nicht. Also, du weißt Bescheid. Und pack dir nicht wieder die abgeschnittenen Haare in die Hosentasche wie beim letzten Mal."
Ich ging. Zum Friseur Fechtelkötter. Damen- und Herrensalon. "Hier schneidet der Meister selbst!" steht in Schönschrift auf der gläsernen Eingangstür. Der Behandlungsstuhl ist noch besetzt. Da sitzt mein Freund Helmut drauf. Und der Helmut, der hat es gut. Dem sagt seine Mutter immer: "Helmut, lass nur die Spitzen abschneiden. Das reicht. Dann werden die Ohren auch nicht kalt."
So eine Mutter hätte ich auch gern. Dem Helmut wachsen die Haare nämlich nicht nur halb über die Ohren. Nein, sogar hinten über den Kragen! Fast einen Zentimeter! Der Helmut ist jetzt fertig. Der Friseurmeister Fechtelkötter wedelt ihm noch die paar Haarspitzen von seinem Pullover. Da ist nicht viel zu wedeln. Helmut legt 4 Mark auf den Tisch. Billiger ist das auch noch als mein Fassonschnitt. Er steht so lange rum, bis ich mich auf den Behandlungsstuhl setzen muß. Jetzt wird es peinlich. Der Helmut ist sechs Zentimeter größer als ich. der kann sich schon normal auf den Stuhl setzen und wird nur hochgepumpt. Obwohl ich ja auch noch im Wachstum bin, holt der Fechtelkötter wieder das komische Brett hinter dem Vorhang hervor und legt es auf die Lehnen des Stuhls. Für mich dreht er noch nicht einmal den braunen, faltigen Sitz mit dem Griff hinten dran um. "So, dann hüpf mal drauf." Ob ich rot geworden bin, weiß ich nicht. Ich habe nur gesehen, wie der Helmut dann grinsend gegangen ist, nachdem ich auf den Stuhl geklettert bin. "Bis später, Willi," hat er noch gesagt.
Der Fechtelkötter brauchte dann bei mir den Stuhl gar nicht mehr hochpumpen, weil ich schon so hoch saß. Ich meine ja, das Brett hätte er sich sparen können. Ein wenig mehr Pumpen als beim Helmut hätte sicherlich gereicht.
Als ich nach einer viertel Stunde wieder draußen war, wurden meine Ohren kalt. Und auch in meinem kahlen Nacken zog es. Fassonschnitt! So etwas würde ich später meinen Kinder nie antun. Nie! Das schwor ich mir in die Hand und spuckte dreimal auf den Boden. Aber Haare hatte ich doch wieder in meine Hosentasche getan. Ein ganzes Büschel. Für die Zigarrenkiste unter meinem Bett. Ich wollte die Haare aufheben für meine Kinder. damit die mal später sehen sollten, wie gut sie es haben. Die sollten später auch nur sagen müssen: "Bitte nur die Spitzen abschneiden." Und nicht "Einmal Fassonschnitt bitte. Und die Ohren frei."