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Einladung zum Sterben - Thorsten Beck
Thorsten Beck atmete Staub ein und schmeckte Schmutz. Im ersten Moment war sein Blick verschwommen, bis er ein dunkles Schemen fand, an dem er sich orientieren konnte. Seine Sicht wurde klarer und er erkannte eine kleine Holztür.
Der Staub brachte Husten mit sich. Beck keuchte, holte rasselnd Luft und spuckte Blut in die Hand. Einen Moment lang starrte er fasziniert auf den Auswurf, bevor er ihn am Hosenbein seiner Jeans abwischte.
Mit den Händen stützte er sich ab und richtete sich auf. Beinahe wären seine Füße unter ihm weggeknickt. Das Kribbeln begann - sein Blut floss wieder in gewohnten Bahnen.
Neugierig sah er sich um. Der Raum war klein, hatte nur die eine Tür, die er schon beim Aufwachen gesehen hatte, und war ansonsten vollkommen kahl und unmöbliert. Bis auf die Staubschicht und einen schwarzen Kasten in einer Ecke, knapp unterhalb der Decke. Ein kleiner roter Punkt zwinkerte ihm dahinter beständig zu. Beck kniff die Augen zusammen und erkannte eine Kamera.
Ohne ihr weitere Beachtung zu schenken, wandte er sich von ihr ab und ging auf die Tür zu. Er hatte gerade die Hand auf den Knauf gelegt, als es im Lautsprecher knackte.
"Guten Abend, Herr Beck. Ich hoffe, es war Ihnen nicht allzu unbequem auf dem Boden."
Er schwieg und dachte stattdessen daran, wie diese charmante Stimme ihm und den anderen gegenüber unmissverständlich ausgedrückt hatte, dass sie sterben würden. Hier sterben würden. Zu seinem Privatvergnügen.
"Es war allerdings notwendig, Sie verstehen das sicherlich. Der nächste Raum wurde ganz allein für sie hergerichtet."
Beck ließ die Hand vom Knauf rutschen und hielt den Kopf gesenkt.
Was für eine Teufelei wird dich da drin erwarten?
"Na schön. Wenn Sie es vorziehen zu schweigen, so soll es mir Recht sein. Ich muss mich nun sowieso von Ihnen zurückziehen. Frau Görlitz ist soeben aufgewacht.
Görlitz. Die Frau, die ihm beim Essen gegenüber gesessen hatte.
"Baron …". Er war weg - wenn man seine Stimme überhaupt als Anwesenheit bezeichnen könnte.
Beck legte die Hand an das Holz der Tür. Es war warm. Wärmer als er es vermutet hätte und als er mit dem Ohr ganz nah heranging, konnte er Geräusche hinter der Tür hören, die aber zu gedämpft und fremd klangen, um sie zuordnen zu können.
Vorsichtig zog er die Tür auf.
Sofort umfing ihn Wärme. Schwaden heißen Dampfes schwebten ihm entgegen und hüllten ihn ein. Beck schlug die Tür zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Eine Hand hatte sich zu seinem Bauch gestohlen und fest auf den Magen gepresst. Unter ihr lag das Blutgerinnsel, wie ein bösartiger Fötus. Der Gedanke ließ ihn breit grinsen.
Jawohl, Kumpel. Man kann mit Fug und Recht behaupten, du wurdest vom Tod gefickt.
Schlimmster Galgenhumor, aber er musste lachen. Und mit dem Lachen kam der Husten zurück. Er schüttelte ihn und verteilte winzige Bluttropfen um ihn herum.
Beck schloss die Augen, beruhigte sich und atmete ein paar Mal tief ein und wieder aus. Dann hielt er die Luft an und riss die Tür auf.
Der Dampf stand wie eine Wand vor ihm, legte sich um ihn, raubte ihm sofort die Sicht und mit ihr alle Orientierungspunkte. Schon nach wenigen Schritten konnte er die Tür hinter sich nur noch als schwach leuchtenden Fleck erkennen. Die Hitze benebelte ihn, ließ ihn schwindeln und trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Ein paar Meter weiter klebten ihm seine Klamotten schwer am Körper.
Der Atem begann ihm bereits in den Lungen zu brennen. Sie gierten danach, sich mit klarer, frischer Luft voll zu saugen, waren aber unter den gegebenen Umständen auch dazu bereit, es mit dem stickigen Dampf aufzunehmen.
Beck kämpfte sich eisern weiter durch den Nebel, bis er gegen die Wand vor ihm taumelte.
Die Tür… wo ist die Tür? Du wirst hier drinnen verrecken, du Idiot!
Sein Blick flog von links nach rechts, suchte nach dem dunklen Schatten der Tür, nach irgendeinem Anhaltspunkt.
Wo lang?
Scheißegal wo lang, aber würdest du dich jetzt bitte entscheiden, statt hier rum zu stehen? Von mir aus zurück!
Beck sah nach hinten. Wo war zurück? In dieser Suppe konnte er keine zwei Schritt' weit sehen, geschweige denn eine Richtung erkennen.
Helle Flecke tanzten vor seinen Augen, seine Lungen waren kurz davor aufzugeben, einfach weiterzuatmen - Scheiß auf die Konsequenzen.
Die Hand, die er hob, schwankte einen kurzen Moment vor seinen Augen, bevor sie sich an die glatte Wand legte, durch Wassertropfen schmierte und sich vor ihm her schob, als er in lostaumelte.
Die Punkte wuchsen, verschwammen, blendeten ihn.
Wo ist die Tür? Wo ist die Tür?
Und wenn es gar keine gibt?
Er fühlte, wie der tödliche warme Dampf sich in seinen Lungen ausdehnte. Sein Husten zwang ihn in die Knie, und obwohl er versuchte den Sturz mit den Händen abzufangen, verlor er das Gleichgewicht und schlug mit dem Kinn auf dem Boden auf.
Mit jedem Husten, jedem eingesogenen Atemzug wurde es schlimmer.
Raus hier. Raus, raus!
Beck kroch weiter, verteilte rote Spritzer vor sich und verwischte sie mit den Knien. Seine Arme wollten ihn kaum noch halten, zitterten und schmerzten.
Dick traten an seinem Hals die Adern hervor, schwollen an, während er würgte und um Atem rang. Tränen liefen ihm aus den Augenwinkeln und ließen das letzte bisschen Sicht verschwimmen.
Es ging nicht mehr weiter. Zwei Wände waren zusammengelaufen. Er war in eine Ecke gekrochen.
Nein! Nein! Nein!
Wo ist die Tüüüüür?
Der Nebel schien sich in seinen Kopf gedrängt zu haben, ließ alles um ihn herum kreiseln und wollte ihn zur Mitte des Raumes zurück zerren, ihn einfach so krepieren lassen.
Becks Finger stießen gegen eine Kante. Schmerz und Hoffnung durchschossen ihn.
Ist sie das?
Er konnte nichts erkennen. Alles war grell und verwischt. Seine Finger flogen irgendwo vor ihm in der Luft, suchten und fanden schließlich. Der Husten wollte ihn wegreißen, schüttelte ihn, doch Beck krampfte seine Finger um die Klinke und zog sich daran hoch, schob sich durch den Durchlass und ließ sich fallen. Beck schloss die Augen, als kühle Luft über seinen schweißnassen Rücken floss und sich in seinen Atem schmeichelte.
Becks Atem ging wieder ruhig und gleichmäßig.
Wie lange habe ich hier gelegen?
Er ließ seine Hand über das Hemd streichen und lauschte dem trockenen Flüstern.
Vielleicht doch ein wenig länger, als ich zuerst dachte.
Aber die Ruhe hatte ihm gut getan und er fühlte sich erholt, als er aufstand und sich umsah. Ein Gang, fast schon ein Schacht aus unbehauenem Fels, Fackeln an den glitschigen Wänden.
Das kann doch alles nicht wahr sein.
Trotz der Fackeln war das Licht spärlich. Der Gang schien es aufzusaugen und Schatten auszuspucken. Eine schrecklich verdrehte Photosynthese.
Beck sah die Flammen in unregelmäßigen Abständen tanzen, doch verliefen sie sich in der Entfernung. Das Ende des Ganges ließ sich schwer abschätzen und ob er überhaupt ein Ende hatte.
Natürlich hat er ein Ende. Irgendwie bist du doch auch nach hier unten gekommen.
Und wenn er mich eingemauert hat?
Ein Schauder floss seinen Rücken hinunter. Er hatte Geschichten gehört und gelesen, in denen Menschen qualvoll in engen Nischen verhungert oder erstickt waren. Eingemauert von einem verrückten Liebhaber.
Du vergleichst den Baron mit einem Liebhaber?
Ach, leck mich doch.
Beck tastete sich vorsichtig an der feuchten Wand entlang, lauschte dem Knirschen kleiner Steine unter seinen Schuhsohlen und starrte durch die Schatten vor seine Füße. Er wollte keinesfalls in ein Loch oder auf einen…
…Teppich?…
…treten.
Was macht der Läufer hier unten? Da ist doch was faul!
Beck kniete sich nieder und fasste den Teppich mit spitzen Fingern an den Kanten. Dann zog er ihn mit einem Ruck fort. Darunter…
… Grube. Schlangen. Skorpione…
…nichts!
Er schloss die Augen und atmete aus. Das wäre wirklich zu plump gewesen.
Ein Zittern lief durch seine Knie, als er aufstand.
Beruhig dich, Mann. Da war doch nichts.
"Nichts?", Beck zuckte zusammen und sah sich um. Niemand war da, niemand hatte ihn gehört. Trotzdem hielt er die Stimme zu einem Flüstern gepresst, als er weiter sprach.
"Ich bin im Haus eines Irren gelandet. Ich werde nicht friedlich in meinem Bett sterben. Nichts?" Er schnaubte.
Warum bin ich eigentlich hier her gekommen? Warum nicht zuhause geblieben? Auf der Couch sitzen, beim Fernsehen verblöden und Kreuzworträtsel lösen. Stattdessen schleiche ich hier einen kalten Gang entlang für… Ja, für was eigentlich? Zehn Millionen Euro, die ich niemals zu sehen bekommen werde. Lächerlich. Bescheuert.
Der Gang bog um eine Ecke und bot eine Überraschung. Beck blieb am Fuße einer Leiter stehen.
In den Schatten konnte er den Durchlass erspähen, doch kein Licht. Da oben war es dunkel, dunkler als hier unten. Beck sah den Gang hinunter, der sich irgendwo in der Schwärze verlief.
Rauf oder weiter?
Rauf natürlich. Der Baron meinte irgendwas von Keller, also…
Beck zog die Hand von der rostigen Sprosse und sah noch einmal über die Schulter.
Was machst du? Rauf. Oder nicht?
Gleich. Ich will nicht noch einmal blindlings irgendwo rein laufen. Keine weiteren Überraschungen.
Er endete an einer weiteren Tür, unscheinbar und doch vollkommen fehl am Platze. Beck wusste nicht, was ihn an ihr störte, aber ein ungutes Gefühl beschlich ihn.
Du hättest die Leiter rauf steigen sollen! Geh zurück.
Einen Moment noch. Nur ein Blick. Ich will sicher sein, dass… Oh Gott.
Beck hatte noch nie zuvor in seinem Leben einen Toten gesehen. Noch nie einen echten Toten.
Den Mann, der wenige Meter vor ihm auf dem Boden lag, mitten in einem dichten Knäuel aus Seilen und Schnüren, aufgespießt wie ein übergroßer Käfer, erkannte er sofort. Hansen.
Oh-Keee, wir gehen vielleicht doch besser zurück.
Beck zog seinen Blick gewaltsam von der Leiche fort, dessen blonde Haare an einigen Stellen vom Blut fast schwarz gefärbt waren.
Zurück zur Leiter! Los jetzt!
Vorsichtig zog Beck die Tür zu; ganz leise, als wolle er den Toten nicht wecken.
Er schloss die Augen, doch das Bild hatte sich eingebrannt. Hansen hatte ausgesehen, als sei er durch die Hölle gegangen. Seine Kleidung war zerrissen und Beck hatte einige Wunden in dessen Gesicht und Hals erkennen können. Und einen Teil der absurd großen Klinge, die aus Hansens Rücken ragte.
Ohne Zweifel war er auf dem Weg hierher gewesen. Was bedeutete das für ihn? Würde es ab jetzt wirklich schlimm werden?
War dir dein Saunabesuch noch nicht schlimm genug?
Das ist doch gar nicht die Frage. Ist dem Baron der Saunabesuch schon genug gewesen?
Ein Kichern, ganz tief in ihm drin, ließ ihn frösteln. Die Stimme hatte nichts menschliches, nichts gesundes, als sie sprach.
Nun, mit Sicherheit noch nicht genug. Du atmest noch!
Becks Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, dennoch musste er sich seinen Weg mehr ertasten, als dass er ihn sah, nachdem er an der obersten Sprosse angekommen war.
Ein Gewölbe, eine Leiter … fehlt nur noch ein kleines Rinnsal Brackwasser und der Geruch nach Schei…
Ammoniak. Es stank bestialisch nach dem Zeug und brachte Erinnerungen an Zoobesuche, Löwen- und Tigerkäfige.
Nicht zu nah heran treten. Die Tiere verspritzen Urin.
Panik.
Beck lag auf den Knien und hatte sich schon aus der Luke herausgezogen. Sie war nur ein Schatten, ein Schemen, links neben ihm. Kein Licht drang herauf und erhellte den Raum in dem er sich befand.
Ruhig.
Er lauschte auf ein Scharren, das Klicken von Krallen auf Stein, hörte aber nur seinen eigenen, rasselnden Atem. Ansonsten Stille. Und dieser Gestank.
Beck hatte sich zusammengekauert und wartete, was passieren würde, doch es geschah nichts. Irgendwann - Sekunden oder Minuten später - streckte er eine Hand aus und schrak zurück als er an eine Wand stieß.
Beruhig dich, verdammt!
Irgendwas ist hier drin. Ist hier drin bei mir!
Du bist hier drin! Sonst nichts!
"Ja … sonst nichts."
Er sah sie nicht, konnte aber das Zittern seiner Hand spüren, als er sie ausstreckte und vorsichtig die Wand entlang tastete.
Die Panik fiel wie eine Last von ihm ab.
Raum? Gang? Du steckst in einem Schrank!
Beck schrie ein hysterisches Lachen. Ein Schrank, das ist gut!
Sein Magen krampfte sich zusammen und er würgte Blut. Das Zittern ließ nicht nach, schüttelte ihn, bis er sich zusammenrollte und leise vor sich hin summte. Zum ersten Mal, seit er zehn Jahre alt war, dachte er an seine Mutter.
Sie hatte so strahlende Augen gehabt. So ein wunderbares Lächeln. Nachdem sie fort war, hatte er sich oft in den Schlaf geweint und an die Lieder gedacht, die sie ihm vorgesungen hatte.
"Mein kleiner Liebling", hatte sie ihn immer genannt. "Süßer, kleiner Toto."
Er war nicht auf ihrer Beerdigung gewesen. Hatte ihr Gesicht nicht vergessen wollen.
"Schlaf, Kindlein, schlaf. Dein Vater hüt' die Schaf…"
Seine Stimme war brüchig und abgehackt. Die Melodie nur in seinem Kopf. Sie sang für ihn.
"Mama."
Ein Daumen schob sich in seinen Mund und erstickte die Worte. Die andere Hand lag an seinen hochgezogenen Knien.
Du kannst hier nicht liegen bleiben, Toto.
Ich will zu dir, Mama.
Ich weiß, mein Kleiner. Aber du musst jetzt gehen. Sei ein tapferer Junge.
Was ist hier? Was ist da draußen?
Ich weiß es nicht, Toto, ich weiß es nicht.
Dann war ihre Stimme fort und er war wieder allein mit seinen Tränen und der Angst. Aber sie hatte Recht. Er musste weiter, egal, was auf ihn wartete.
Als er die Tür öffnete, erstickte ihn der Gestank des Ammoniaks beinahe. Ekel schwappte in ihm hoch und gesellte sich zu seinem treuen Begleiter Angst.
Beck zögerte kurz und stieß die Tür ganz auf.
Schummriges Licht, das durch farbige Fenster in der hohen Decke fiel. Das Zimmer war wesentlich größer als er erwartet hatte und musste sich über zwei, vielleicht drei Stockwerke erstrecken. Und es war voll gestopft mit Regalen. Tausende und abertausende von Büchern.
Beck schob sich in das Zimmer hinein, versuchte mit den Augen überall gleichzeitig zu sein und die Gefahr - das Tier, was immer es auch war - zu entdecken, bevor es ihn erspähte.
Hinter ihm knallte die Tür zurück ins Schloss. Ein viel zu lautes Krachen, gefolgt von einem Brüllen, das Eisklumpen durch Becks Adern schießen ließ. Sein Herz hämmerte. Beck wirbelte herum, wollte die Tür wieder aufreißen.
Flucht!
Keine Klinke. Nur eine verzierte Holzvertäfelung.
Und dann hörte er das Ding auf ihn zu schleichen. So leise es auch sein mochte, es donnerte durch Becks Trommelfell und hämmerte auf sein Hirn.
Flieh! Flieh! Weg hier!
Wohin?
Die Regale!
Beck sprintete los, ahnte aus den Augenwinkeln die Bewegung eines Wesens, das auf ihn zuhetzte. Seine Finger erreichten die obere Kante des Regals und er zog sich im gleichen Moment hoch, als der Aufprall alles erzittern ließ.
Kein Blick nach unten. Was immer es war, es hatte ihn knapp verfehlt.
Hoch! Hoch! wimmerte es in ihm, schrie und keifte es ihn an.
Er war oben. Seine Füße in Sicherheit.
Sicherheit? Wo ist es? Was ist es?
Sein Blick flog hinunter, suchte das Ding, fand es aber nicht.
Mach, dass du hier raus kommst!
Statt des Tieres fand er zwei Türen. Eine fast gegenüber dem Eingang, aus dem er gekommen war, eine am entfernteren Ende der Halle.
Wo ist es, verdammt?
Eine Bewegung links von ihm. Da war es.
Becks Verstand wimmerte auf, als er es sah. Nacktes Fleisch, auf dem in unregelmäßigen Abständen Fellbüschel wuchsen, deren Farbe nicht zu identifizieren war. Kurze Hinterläufe, die in den größten Krallen endeten, die Beck je gesehen hatte. Der gedrungene Körper schmeichelte sich in die Schatten, während orangene Augen zu ihm hinauf funkelten. Im gedämpften Licht sah er Fangzähne aufblitzen und ein dünner Faden Geifer tropfte zwischen ihnen heraus auf den Boden.
"Heilige Scheiße. Was ist das nur für ein Ding?" Seine Stimme war nah an einem Wimmern. Ein Kloß lag ihm dicht und schwer in der Kehle. Er hatte seine Gesichtszüge so stark verzerrt, dass es schmerzte, aber er konnte sich nicht entspannen, konnte seine Finger nicht von dem Rand des Regals lösen, an dem er sich festgeklammert hatte.
Mama, wo bist du?
Sieh weg. Wo ist die Tür? Kannst du sie erreichen?
Er konnte nicht weg sehen. Die monströse Gestalt unter ihm schlich auf ihn zu.
"Geh weg. Bitte, geh weg!"
Ein Knurren, das auch das Grollen einer Steinlawine hätte sein können.
Das Tier legte die Vordertatzen an das Regal und richtete sich langsam auf. Näher und näher schob sich die Fratze mit den gebleckten Zähnen zu Beck hinauf.
Einen halben Meter unter ihm verharrten die Augen, doch die Krallen wanderten weiter.
Beck wich zurück und verlor das Gleichgewicht, ruderte wild mit den Armen und spürte, wie er nach hinten überstürzte. Das Ding tauchte ab.
Neiiin.
Seine Hand fand Halt und zog ihn zurück.
Beck kreischte, wimmerte, fluchte und spie seine Angst und Erleichterung heraus.
Noch nicht. Jetzt noch nicht.
Er saß fest. Konnte nicht nach unten, das Ding nicht herauf.
Hoffentlich …
Beck sah sich um.
Die Regale schienen zum größten Teil miteinander verbunden zu sein und einen tückischen Irrgarten zu bilden. Wenn er nicht auf das Regal geklettert wäre, wenn er nicht den Geruch bemerkt hätte …
Er wollte gar nicht daran denken.
Beck kroch los, traute sich nicht, den Oberkörper vom Regal zu heben.
Kein Risiko mehr.
Kein Risiko … Klingt gut!
Er sah es nicht mehr, hörte es aber unter sich am Regal entlang schleichen. Seine zitternden Synapsen nahmen die Geräusche wie ein Radar auf. Er konnte sie nicht ausschalten, nicht ignorieren, obwohl er den Blick starr auf die Tür gerichtet hielt. Tunnelblick.
Bitte lass es die richtige Tür sein. Nur einmal ein bisschen Glück. Nur einmal!
Dieses Mal keine Verbindung zwischen den Regalen. Eine Lücke, fast zwei Meter.
Nein, nein, nein!
Eine leise Stimme, ganz leise und doch eindringlich.
Spring!
"Was? Da rüber?"
Oder auf den Boden.
Beck sah hinunter und in orange Pupillen. Sofort riss er seinen Blick wieder zur Tür.
"OK. OK. Rüber."
Beck schob ein Knie unter den Oberkörper und versuchte sich langsam aufzurichten, klammerte seine Hände weiter am Regal fest. Er zitterte.
"Ich kann nicht!"
Du musst, Toto. Du musst.
Augen zu. Tief durchatmen.
Er öffnete die Augen und fixierte das Regal auf der anderen Seite des Grand Canyons. Maß zum letzten Mal die Entfernung und sprang ab.
Seine Knie waren zu weich, knickten unter ihm weg und er fiel mehr nach vorne, als dass er sprang.
Zu kurz. Zu kurz, verdammt!
Ein Arm schlang sich über das Regal, seine Beine knallten hart gegen die Rückwand und er strampelte sich hoch. Fort von Reißzähnen, fort von orangenen Augen, fort von …
Das Regal kippte, zog ihn mit sich und dem nächsten entgegen.
Becks Arm wurde zermalmt, als er zwischen den Bücherregalen eingeklemmt wurde. Er schrie, erbrach Blut und schrie weiter. Der Schmerz verdrängte alles. Angst, Panik, Hoffnung waren fort geblasen. Nur der glühende Schürhaken am Ende seiner Schulter existierte noch.
Dann kippte das zweite Regal. Die Kante riss an seinem Arm, brach ihn an zwei weiteren Stellen und gab ihn endlich frei, bevor Beck dem zweiten Regal hinterher purzelte.
Durch den betäubenden Nebel des Schmerzes brüllte eine Stimme. Seine eigene?
Die Tür. Die Tür, verdammt. Weiter, weiter.
Als die Regale zusammenfielen und auf dem Boden landeten, schleuderte es Beck weiter auf die Tür zu. Kein Gedanke mehr an das Vieh, das irgendwo hinter ihm lauerte. Die Stimme peitsche ihn vorwärts.
Loooos!
Beck kam auf die Füße und stolperte dem Ausgang entgegen. Vor ihm drehte sich alles und er sackte auf die Knie, rappelte sich wieder auf und stieß gegen die Tür.
Bittedierichtigebittebitte…
Beck riss die Tür auf und ließ sich hindurch fallen, landete auf dem verletzten Arm und stöhnte auf. Trotzdem schaffte er es irgendwie sich auf den Rücken zu drehen und mit den Füßen die Tür zu zu stoßen. Das Bild eines weit aufgerissenen Maules, messerscharfer Zähne und orangener Augen verfolgte ihn in die Ohnmacht.
"Nicht mehr lange, Toto. Wir sehen uns bald wieder."
"Tut das Sterben weh?"
"Alles im Leben tut weh. Aber ich warte auf dich."
"Ich komme, Mama."
"Nein, Toto. Noch nicht. Noch bist du nicht tot. Du wirst …"
Ihre Stimme verlor sich in einem Nebel aus Schmerz und Schwärze.
"Ich lebe noch. Ich lebe."
Ja. Und deshalb solltest du dich jetzt allmählich mal bewegen.
"Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr. Und ich will …"
Beck hatte eine Treppe entdeckt.
Eine Treppe. Es geht aufwärts, grinste eine zynische Stimme.
Er kam noch einmal auf die Beine. Die Treppe hatte einen Keim Hoffnung gepflanzt. Vielleicht war es doch noch nicht zu Ende.
Stufe um Stufe schleppte er sich vorwärts, zog sich dem Gipfel entgegen. Sein Arm hing fremd und tot an seiner Seite, angeschwollen und unbrauchbar.
Beck hatte den Kopf gesenkt, starrte auf die Stiegen, die langsam unter ihm im Traum vorbeizogen.
Achte auf Stolperdrähte!
Unglaublich. Irgendetwas in ihm wollte immernoch leben.
Lass mich. Ich bin müde.
Die Stimme verschwand. Sie hatte eingesehen, dass er ausgebrannt war. Ihm war egal, was kommen würde, er käme hier nicht raus.
Versteh doch, ich will nur nicht auf meinen Tod warten.
Entschuldigte er sich da gerade vor sich selbst? Er war zu schwach zum Grinsen.
Vor ihm endete die letzte Stufe. Beck sah hoch. Eine neue Tür.
Was kommt jetzt?
Beck war so überrascht den Speisesaal zu sehen, dass er es im ersten Moment nicht begreifen konnte. Die Stühle, die Wanduhr, die lange Tafel. Es schien Ewigkeiten her gewesen zu sein, dass er hier gesessen hatte.
Nur zwei Räume von hier aus. Du hast es geschafft!
"Ich habe es geschafft!" Die Worte klangen so falsch und fremd, dass er sich erschrocken umsah, doch da war nur die Tür, die in den Abgrund führte. Die Hölle lag hinter ihm.
Die Luft draußen wird himmlisch schmecken. Koste sie, ertränk dich in ihr.
Ein leises Rumpeln durchlief den Raum und ließ den Boden zittern. Beck stolperte vorwärts und hinein in ein Inferno. Als hätte sich ein riesiges Maul geöffnet, brach der Boden unter seinen Füßen weg und verschluckte Stühle und Tische. Beck verlor den Halt und stürzte. Flammen schlugen durch das Loch bis hinauf zur Decke. Schwarzer Qualm hüllte ihn ein, Hitze schoss zu ihm herauf.
Im Fallen schlug seine gesunde Hand auf den Rand des Lochs und klammerte sich fest. Ein Splitter bohrte sich tief ins Fleisch.
Lass nicht loooos.
Beck schaukelte nur wenige Meter über einem Meer aus Feuer. Was immer in dem Zimmer gewesen war, es war verloren, hatte sich in Hitze und Rauch aufgelöst.
Beck hustete. Wie höhnisch der Gedanke an frische Luft doch gewesen war. Stattdessen fraß sich Qualm in seine Lungen, ließ ihn sich zu Tode husten, während er gleichzeitig geröstet wurde.
Die Sohlen seiner Schuhe waren so heiß.
So heiß.
Lass einfach los.
Es wird wehtun.
Und es wird endlich zu Ende sein.
"Zu Ende", krächzte er durch den Husten, als sich plötzlich eine Hand auf seine legte und dann fest seinen Arm packte.
Becks Augen weiteten sich.
Mama?
Über ihm war das Gesicht des Butlers aufgetaucht.
Lass mich los. Es muss zu Ende sein.
Unerbittlich wurde er hinauf gezogen, über den Rand, in Sicherheit.
Beck strampelte. Er wollte zurück.
"Es muss … zu Ende … sein", hustete er.
"Das ist es. Es ist vorbei, Herr Beck. Kommen Sie!"
Beck lag im Gras vor dem Anwesen und sah durch einen Tränenschleier, wie sich die Flammen ihren Weg durch das Haus fraßen, bis sie durch den Dachstuhl schlugen. Der Mann neben ihm schwieg und hing seinen eigenen Gedanken nach.
Was ist nur aus den anderen geworden?
Einen kurzen Moment lang glaubte er, verschwommen ein Gesicht, an einem der Fenster im oberen Stockwerk, gesehen zu haben.
Beck rollte sich zusammen und sah in den Nachthimmel hinauf.