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Einladung zum Sterben - Markus Hansen
Hansen erwachte mit einem Gefühl vollkommener Desorientierung. Der grob gekachelte Raum hatte keinerlei Ähnlichkeit mit seinem vertrauten Schlafzimmer. Auch der schwere Lehnstuhl war ihm fremd.
Langsam lehnte er sich vor und verzog angewidert das Gesicht beim Knirschen seines steifen Rückens. Während er den Nacken kreisen ließ, um die Starre zu vertreiben, tastete er nach dem Päckchen Pall Mall in seiner Brusttasche.
"Sind Sie sicher, dass Sie dies in Ihrem Zustand machen möchten, Herr Hansen?", krächzte eine elektronisch verzerrte, doch unverkennbare Stimme. Von Barnim.
"Lassen Sie mich in Ruhe", stöhnte Hansen und hob eine Hand an die noch schmerzende Schläfe. "Ich sagte Ihnen, dass ich bei Ihrem kranken Spiel nicht mitmachen werde."
Hansen fischte eine Zigarette aus dem zerknautschten Paket, zündete sie an und inhalierte tief. Der kratzende Rauch in seinen Lungen beruhigte ihn ein wenig und half ihm, sich zu konzentrieren.
"Wo bin ich hier?"
Von Barnims krächzende Lache klang über den Lautsprecher noch schlimmer als im Original.
"Sie befinden sich im Keller meines Anwesens. Ich dachte mir, dass es wesentlich spannender für uns wäre, wenn wir den Startpunkt etwas schwieriger wählen."
"Für uns? Für UNS?" Hansen schrie den Lautsprecher und den Unsichtbaren dahinter an. "Schlag dir das wieder aus dem Kopf, Arschloch!"
"Ich mag Ihre cholerische Art, Herr Hansen, doch befürchte ich, dass Ihrem Herz dieser Ausbruch nicht gefällt. Vielleicht sollten Sie sich erstmal wieder beruhigen."
"Beruhigen? Ich soll mich beruhigen?" Hansens Stimme war nah dran überzuschnappen. "Ich bin ruhig!"
Ein silberner Stich raste durch seinen Brustkorb. Sein Herz schien einen ganzen Strom glühender Lava zu pumpen. Eine Hand in die Brust gekrampft, rang Hansen nach Atem und wartete darauf, dass die Attacke abklingen würde - betete darum, dass sie es überhaupt tun würde.
"Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es keine gute Idee ist zu rauchen. Vom Schreien wollen wir jetzt mal gar nicht reden. Aber das haben Ihnen die Ärzte sicherlich auch schon gesagt."
"Was wissen Sie darüber?" keuchte Hansen.
"Na, mal schauen." Über den Lautsprecher hörte Hansen Papier rascheln.
"Markus Hansen. Geboren am Fünfundzwanzigsten August Neunzehnhundertsiebzig. Starker Raucher. Zwei leichte und zwei schwere Herzattacken. Sie haben bereits drei Operationen hinter sich, doch die Sanduhr ist beinahe abgelaufen. Die Ärzte haben Sie als hoffnungslosen Fall eingestuft und warten eigentlich nur noch darauf, dass Sie umkippen."
"Sie... Sie... Haben Sie da etwa meine Krankenakte?" Hansen brüllte empört auf und achtete nicht auf den Schmerz. "Ich verschwinde hier. Schluss jetzt!"
"Nichts anderes erwarte ich von Ihnen. Aber denken Sie daran: Nicht aufregen!" Von Barnims Lache hallte durch den Raum und wurde dann ganz plötzlich abgeschnitten. Die Verbindung war tot.
"Scheißkerl."
Hansen stand vorsichtig auf, prüfte ob seine Beine ihn tragen würden und fiel zurück in den Stuhl. Schwärze war vor seinen Augen explodiert. In seinen Ohren rauschte das Blut und nahm der Welt um ihn herum alle Töne.
Oh Gott. Werd' jetzt bloß nicht ohnmächtig, Markus. Reiß dich verdammt nochmal zusammen!
Er schaffte es sich aufzurichten und stand nun schwankend mitten im Raum, eine Hand an der Stuhllehne um sich zu stützen. Die Szene im Speisesaal kam ihm in den Sinn, in der er eine ähnliche Haltung gehabt haben musste. Wut stieg erneut in ihm auf.
Für wen hält sich dieser Kerl eigentlich?
Pochender Schmerz, der wie eine wilde Bestie im Dunkel seines Käfigs wartete, bereit losgelassen zu werden und zu wüten.
Bleib ruhig. Stay cool.
Hansen atmete tief durch und fühlte, wie sich sein Herz endlich entkrampfte.
Gut so. Und nun... sieh hoch. Wo ist der Ausweg aus dieser Scheiße hier?
Er blickte hoch und sah sich zum ersten Mal richtig in dem Raum um, in dem er aufgewacht war. Im ersten Moment fühlte er sich an ein altes Badezimmer ohne Einrichtung erinnert - Kacheln an den Wänden, veraltete Sterilität; vollkommene Unpersönlichkeit unter dem Dreck der Jahre.
In der Ecke, die der Tür gegenüberlag, hingen ein Lautsprecher und eine Kamera.
Hansen hob die Hand, zeigte dem Objektiv den Mittelfinger und grinste breit. Danach fühlte er sich besser.
Die Tür führte auf einen schmalen, nur spärlich beleuchteten Gang.
Unbewusst lauschte Hansen auf die Klänge eines alten Klaviers und starrte in dunkle Ecken. Es hätte ihn in keinster Weise überrascht, wenn ihm Zombies entgegen gewankt wären.
Zombies? Hey, jetzt werd mal nicht verrückt. OK, hier ist es verdammt gruselig und der alte Sack ist mehr als bekloppt, aber vielleicht solltest du dich eher nach Stolperdrähten und Bärenfallen umsehen, statt nach Nosferatu.
"Nosferatu ist ein Vampir, Idiot. Moment... ich rede mit mir selbst." Der Klang seiner eigenen Stimme klang viel zu fremd in der Stille, dennoch beruhigend.
Und wo geht's nun lang? Links oder rechts?
Hansen sah die Gänge hinunter, konnte in den Schatten jedoch nichts erkennen. Er entschied sich, seine stärkere Hand bei Streitfragen den Ton angeben zu lassen und so wandte er sich nach rechts.
Das Knacken hinter ihm ließ ihn herum wirbeln, einen überraschten Schrei auf den Lippen, den er im letzten Moment hinunterschlucken konnte. Von Barnim - Baron Beobachter - hatte sich zurückgemeldet.
"Sind Sie sicher, dass Sie dort entlang möchten? Wir wollen doch nicht, dass es all zu schnell vorbei ist, oder?"
Hansen kniff die Augen zusammen und fand den Lautsprecher in einer schlecht ausgeleuchteten Ecke, knapp unterhalb der Decke. Selbst wenn er sich streckte, käme er nicht ganz heran.
"Hier muss doch etwas...", murmelte er, als sein Blick auf das Gemälde einer Frau fiel.
Ach du Scheiße. Da muss der Künstler entweder sehr blind, oder sehr arm gewesen sein.
"Was tun Sie da, Hansen?"
"Ich tue der Welt einen Gefallen, Meister."
"Lassen Sie das Kunstwerk hängen."
Hansen wuchtete sich das Bild über den Kopf und schlug es hart gegen den Lautsprecher.
"Jetzt ist Sendepause!"
Das Knirschen des Metalles hörte sich zutiefst befriedigend an.
Und jetzt wollen wir doch mal herausfinden, wo er mich nicht haben wollte.
Auf dem weiteren Weg zerschlug er noch drei Lautsprecher, dann gab er es auf. Es schien einfach zu viele zu geben und den Aufwand, den es teilweise kostete, war das Resultat einfach nicht wert. Kaum war einer kaputt, quäkte die Stimme des Barons ein paar Meter weiter schon wieder los.
Hansen nahm sich vor ihn einfach zu ignorieren.
Am Ende des Ganges wartete eine schwere Holztür. Hansen runzelte die Stirn. Bislang war der Horroranteil an diesem Abend ziemlich gering gewesen. Bliebe es dabei, wäre es leicht verdientes Geld.
Er hatte die Hand gerade erhoben, um die Klinke zu drücken, als er das Schaben auf der anderen Seite hörte. Mitten in der Bewegung verharrte er und lauschte. Das Schaben war verschwunden.
Hansen legte den Kopf schräg an die Tür, um besser lauschen zu können.
Auf der anderen Seite war erst nur Stille, dann wieder dieses Schaben und schließlich ein Schnauben, wie von etwas Großem.
"Was zum Geier..." Hansens Stimme war zu einem Flüstern gedämpft. Die Worte des Barons kamen ihm wieder in den Sinn, Bitte seien Sie sich im Klaren darüber, dass von Ihnen erwartet wird in dieser Nacht zu sterben. Ich bezahle für Ihre Schreie. Für Ihre Qual, Ihr Leid. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Hansen konnte nicht verhindern, dass es hektisch Schwall um Schwall durch seine Adern pumpte.
Ruhig! Bleib ruhig! Atme, verdammt!
"Was ist das?", keuchte er. "Von Barnim, hören Sie mich? Ist das einer der anderen?"
Hinter der Tür wurde etwas Schweres umgestoßen und zerschellte krachend am Boden.
"Von Barnim?" Hansen brüllte nun. Er fühlte das Blut durch seine Schläfen hämmern und wie sein eigener Herzschlag in den Ohrläppchen pochte.
"Von..."
"Ich bin ja da, Herr Hansen. Sie haben sich also doch dazu entschieden wieder mit mir zu sprechen?" Es war unglaublich, aber der Baron klang tatsächlich beleidigt.
"Was ist das auf der anderen Seite?"
"Warum schauen Sie dann nicht einfach nach?"
Hansen zögerte. Von Barnim hatte ihn anfangs nicht hier hin haben wollen. Oder doch? In jedem Falle wollte Hansen nicht mehr hier hin. Genau genommen, wollte er nicht mal mehr hier sein. Er wollte die Augen öffnen und an seine Schlafzimmerdecke blicken. Er wollte Spiegeleier mit Speck, kross gebraten. Cholesterin? Fick dich, Cholesterin! Hansen wollte eine schöne Frau neben sich und er wollte an ihr riechen, diesen warmen, lieblichen Duft nach...
... Urin?
Hansen schnupperte. Ja, es roch eindeutig danach.
Er sah an sich herunter und wappnete sich gegen den dunklen Fleck in seinem Schritt... doch er war trocken.
Vorerst noch, Junge. So wie ich das sehe, hat der Abend gerade erst begonnen!
Hansen wusste nicht mehr, wie lange er an der Tür gestanden und die Risiken gegeneinander abgewogen hatte. Wie der Fall zu liegen schien, lauerte hinter dieser Tür irgendetwas ziemlich tödliches. Andererseits lauerte in ihm selbst auch etwas tödliches - sein Herz. Hinter der Tür war eine unbekannte Gefahr - und nach den Geräuschen zu urteilen, eine große - doch er wollte zumindest sicher gehen, dass es nicht von alleine herauskäme und sich hinter ihm her schlich, wenn er den Gang zurück ginge.
Den Ausschlag gab dann das Misstrauen gegenüber dem Baron. Was, wenn wirklich einer der anderen hinter der Tür war? Zu zweit hätten sie sicherlich bessere Chancen einen Weg hier heraus zu finden.
Und der Gestank nach Pisse?
Hey, vielleicht pinkelt Baron von Barnim gerne in seine Bibliothek.
Hansen öffnete die Tür vorsichtig einen Spalt weit.
Der durchdringende Geruch von Ammoniak schlug ihm entgegen und raubte ihm den Atem. Hansens Herz pochte immer noch laut in seinen Ohren, seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt und seine Muskeln schienen unter der Anspannung zu vibrieren. Er war bereit, sofort herum zu wirbeln und die Tür zu zu schlagen.
In dem Raum hinter der Tür war es dunkel. Nur ein schmaler Streifen Licht fiel durch den Türspalt und erhellte ein Stück eines edlen Teppichs. Hansen sah ein verwirrendes Muster an Linien und verschlungenen Kreisen... und eine Pranke.
Seine Augen weiteten sich überrascht.
"Was...?"
Über der Pranke funkelten orange Augen. Und sie fixierten ihn direkt.
Hansen erstarrte.
Ich bin ein Kaninchen, schoß es ihm durch den Kopf. Ein Kaninchen, ein kleines Kaninchen.
Die Augen schwebten einfach nur so da, vor ihm in der Luft. Dann begannen sie leicht nach unten zu wandern.
Kaninchen, Kaninchen, Kanin...
"Hansen?"
Von Barnims Stimme riss ihn aus seiner Erstarrung. Keinen Moment zu früh, das Vieh über der Pranke sprang.
Hansen ruckte nach hinten und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür, als diese schon unter dem Gewicht des Tieres erzitterte. Der Aufprall war so heftig, dass es Hansen von den Beinen riss, doch die Tür hielt.
Unglaublich. Von Barnim hatte ihn gerettet.
"Heilige Scheiße! Von Barnim...", Hansens Stimme überschlug sich mehrfach. "Was zur Hölle haben Sie da hinter der Tür? Ist das ein Löwe? Ein Tiger? Irgendeine verschissene andere Raubkatze?"
"Sie liegen gar nicht mal so weit daneben, Herr Hansen. Es ist ein Jäger, aber kein Tier, das Sie kennen dürften." Von Barnims Stimme knisterte über den Verstärker, doch Hansen konnte sich das Grinsen auf den welken Lippen lebhaft vorstellen.
Langsam wich das Adrenalin wieder aus seinem Körper und überließ dem Schock das Feld. Seine Beine begannen unkontrolliert zu zittern und er bekam ein unverkennbares Gefühl in der Magengrube. Hansen sackte rücklings an die Tür gelehnt zu Boden und lehnte sich einfach zur Seite, um sich zu übergeben.
Danach ging es ihm besser. Die dampfende Lache hob seltsamer Weise seine Stimmung erheblich.
Wenn ich hier schon sterbe, kotze ich ihm wenigstens die Bude voll.
Ein geringer Trost, kindisch noch dazu, aber irgendwie war es befriedigend.
Er rappelte sich wieder hoch und hakte im Geiste diesen möglichen Fluchtweg ab. Also doch die andere Richtung.
In seiner Brusttasche fand er eine weitere Pall Mall. Der Geschmack war einfach fantastisch.
Der Gang endete an einer kahlen Wand. Keine weiteren Türen, dafür eine Luke im Boden.
Hansen ließ sich auf ein Knie nieder und spähte vorsichtig in die Dunkelheit. Etwa fünf Meter unter ihm schien der Durchgang zu enden - zumindest schien Licht von dort unten zu ihm hinauf.
Er sah noch einmal über die Schulter zurück, doch die Tür war längst in den Schatten hinter ihm verschwunden.
Kann es denn überhaupt noch schlimmer werden?
Hansen nahm noch einen letzten Zug von seiner Zigarette und ließ sie in das Loch vor sich fallen. Neugierig sah er ihr nach. Nichts geschah. Kein Untier, das sich auf den Glimmstengel stürzte, keine Feuersbrunst, die durch Infrarotkontakte ausgelöst wurde, keine Außerirdischen, die hoch winkten. Er wusste selbst nicht genau, was er eigentlich erwartet hatte.
"So wie es aussieht, wirst du hier dein Glück versuchen müssen, Markus", flüsterte er zu sich selbst und schwang ein Bein über den Rand, tastete mit dem Fuß nach der obersten Sprosse und ließ sich dann ganz hineingleiten.
Auf dem Weg nach unten bemühte er sich, nicht genau auf die grob behauenen Wände zu achten. Es war ihm ganz und gar nicht lieb, dass er weiter nach unten steigen musste, schließlich war der Ausgang weiter oben. Und wenn sich dieser Raum unter ihm als Sackgasse herausstellen würde, müsste er sein Glück doch noch mit der Pranke und den orangenen Augen versuchen.
Statt direkt unten auf den weißen Boden zu springen, versuchte Hansen sich zuerst ein wenig an der Leiter nach unten zu hangeln, um einen kleinen Überblick zu bekommen. In dem Raum war ein Geruch, den er einfach nicht zuordnen konnte, aber der ihn an irgendetwas aus seiner Kindheit erinnerte.
Der Raum schien, soweit er es überblicken konnte, leer zu sein und strahlte sogar eine angenehme Wärme aus. Hansen nahm seinen Mut zusammen, schloss sie Augen und sprang die letzten zwei Meter.
Der Aufprall war hart und unkontrolliert, trotzdem wartete er einfach, die Augen geschlossen, den Atem angehalten. Wieder geschah nichts.
Hansen spie die Luft förmlich aus seinen Lungen. Zum ersten Mal, fühlte er sich heute Abend fast wohl.
Die Wände dieses Raumes waren in Grün- und Brauntönen angestrichen. Helle Flecken wanderten darüber und brachten ihm die Erinnerung an den Geruch zurück. Wasser!
Ein Schwimmbad? Hat Baron von Barnim doch tatsächlich einen Pool hier unten.
Das Becken nahm den größten Teil des Fußbodens ein und trennte das Zimmer in zwei Abschnitte - den auf dem Hansen sich befand und den mit der Tür. Links und rechts verlief ein schmaler Steg, der bloß eine Handbreit Platz bot, während das Bassin selbst gute sechs Meter breit war.
"Sie ahnen es doch längst, Herr Hansen", unterbrach die Stimme des Barons Martins Gedanken. "Wollen Sie es nicht mit eigenen Augen sehen? Natürlich wollen Sie das. Die Tür konnten Sie ja auch nicht zu lassen."
Ja, er wusste was ihn erwartete. Kleine Fische mit großen Zähnen.
"Haben Sie Ihre Ideen für dieses Haus eigentlich aus einem Hitchcockfilm, von Barnim? Oder haben Sie einfach James Bond geliebt? ... Sie brauchen diese Frage nicht zu beantworten. Das war Ironie."
Von Barnim quittierte es mit einem scheppernden Lachen.
"Ich mag Ihren Galgenhumor. Ich drücke Ihnen wirklich die Daumen, dass Sie uns noch eine Weile erhalten bleiben, Herr Hansen."
"Klar..."
Hansen war inzwischen an das Becken herangetreten und hatte genau das vorgefunden, was er erwartete. Dutzende von exotisch glitzernden Fischen, die durch das schummrige Dunkel des Beckens glitten. Noch mehr, die einfach nur an verschiedenen Stellen verharrten. Sie alle schienen nur auf Ihn zu warten.
Jetzt und hier, vor den blutgeilen kleinen Kannibalen, erschien die Tür im oberen Geschoss verdammt verlockend, doch Hansen war sich sehr wohl über den Trugschluss dieses Gedankens bewusst. Wenn er jetzt zurückginge würde er überhaupt keinen der beiden Wege gehen. Zudem hatte dieser noch einen weiteren Vorteil: Er wusste ganz genau, was ihn hier erwartete.
Hansen maß noch einmal die Entfernung bis zur anderen Seite und den Anlauf, den er haben könnte. Selbst wenn er gut abspringen würde, könnte er es nie im Leben schaffen, aber mit ein bisschen Glück würde er nah genug an der anderen Seite sein, um sich schnell genug heraus ziehen zu können.
Die zweite Möglichkeit war wesentlich verlockender, wenn auch nicht viel angenehmer: Nur eine Handbreit Platz zwischen der Wand und dem Becken, doch wenn er sich ganz nah andrücken würde, könnte er es schaffen. Der Vorteil lag eindeutig auf der Hand, nämlich die ganze Dicke der Wasseroberfläche zwischen ihm und den Freßmaschinen.
Bei genauerem Nachdenken brachte das aber auch einen ziemlich dicken Nachteil, denn wenn er das Gleichgewicht verlieren würde, würde es vermutlich ein sehr unangenehmer Tod werden.
Hansen fühlte sich hin und her gerissen. Er maß ein weiteres Mal die Entfernung bis zur anderen Seite und sah hinunter in das Becken. Das gab den Ausschlag. Um nichts in der Welt würde er in das Becken springen. Nicht, wenn es sich vermeiden ließe.
Er hatte erwartet, dass der erste Schritt der Schwerste sein würde, doch musste er feststellen, dass immer der nächste Schritt der Schwierigste war. Den Rücken fest an die Wand gepresst stand er da, versuchte möglichst flach zu atmen, damit ihn nicht ein tiefer Atemzug um weitere bringen würde, wenn er aus dem Gleichgewicht geriete, und hatte die Arme weit von sich gespreizt. Ein dünner Schweißfilm lag auf seiner Stirn.
Schau ja nicht nach unten. Tu was du willst, aber schau nicht runter! Denk an die Siegeszigarette, die du dir auf der anderen Seite anzünden wirst und an die lange Nase, die du diesem beschissenen Hurensohn hinter seinem Lautsprecher drehen wirst, aber, Markus, sieh um des lieben Himmels Willen nicht nach unten!
Der Piranha unter ihm schien ihm direkt in die Augen zu schauen.
Nur noch zwei Meter! Reiß dich zusammen!
Stück um Stück schob Hansen sich weiter, der Fisch glitt langsam neben ihm her.
"Such dir ein anderes Abendessen", Markus hatte die andere Seite erreicht und sank auf festen Boden. "Mich kriegst du heute nicht." Der Fisch schwamm unbeeindruckt weiter.
"Und jetzt wollen wir doch mal sehen, was hinter Tür Nummer Eins ist. Ich finde, jetzt hätte ich mir ein ... abgeschlossen?" Hansen wirbelte zu dem Lautsprecher herum. "Barnim, was soll der Scheiß? Wieso ist diese Tür verschlossen?"
"Oh, verzeihen Sie, Herr Hansen. Ich bin noch ganz außer Atem von ihrer spannenden Überquerung. Das war einfach klasse. Meine Hochachtung. Nun, Sie müssen mir verzeihen, dass ich vergaß Ihnen mitzuteilen, dass der Schlüssel an der zweiten Leitersprosse von oben befestigt ist. Sie werden wohl oder übel noch zweimal diesen Weg auf sich nehmen müssen." Von Barnims Lachen dröhnte ein weiteres Mal in Hansens Ohren, der eine gefährliche Mischung aus Frustration und Wut in sich aufsteigen fühlte.
"Vergessen Sie's. Ich werde da nicht noch einmal drüber kraxeln. Lieber renne ich diese Tür Kopf voran ein."
"Wie es Ihnen beliebt, mein Herr."
Hansen wandte sich der Tür zu und rüttelte erneut vergeblich am Knauf.
"Hansen?"
"Was ist jetzt noch?"
"Bevor ich das auch noch vergesse. Haben Sie sich eigentlich über die hohe Schwelle vor der Tür gewundert?"
Die Schwelle war ihm bislang nicht einmal wirklich aufgefallen, doch jetzt, wo er darauf hingewiesen wurde, konnte er sie gar nicht mehr übersehen.
"Was ist damit?"
"Nun... mit der Schwelle an und für sich nichts. Ich wollte Ihnen damit nur andeuten, dass das Becken auch einen Zufluss für Wasser hat. Verstehen Sie, was ich meine?"
Hansen sah sich um. Hatte sich der Wasserspiegel schon verändert? Oder bluffte Barnim? Wohl kaum. Er sollte sich beeilen.
"Scheiß drauf!" Hansen duckte sich kurz und sprang dann mit voller Wucht gegen die Tür. Nichts. Nicht einmal ein leises Zittern.
"Das ist doch wohl nicht wahr."
Noch einmal. Wieder nichts. Dafür ein schmerzhaftes Pochen in der Schulter. Spätestens Morgen würde er den Arm nicht mehr bewegen können. Morgen? Diesen Gedanken nicht weiter denken!
Die Tür würde nicht nachgeben. Bei klarer Betrachtungsweise bezweifelte Hansen sogar, dass er sie mit einer Axt würde aufbrechen können. Also wieder einmal zurück. Verfluchte Sch...
Das Wasser im Becken war inzwischen merklich gestiegen und hatte fast den Rand erreicht. Keine Zeit mehr zum Überlegen.
Ein zweites Mal presste er sich hart an die Wand und glitt Stück um Stück seinem Ziel entgegen, den Blick fest auf die Luke gerichtet. Er merkte nicht, dass er angefangen hatte zu weinen. Die Tränen liefen ihm über die stoppeligen Wangen und tropften auf seine Schulter.
Nicht-fair-nicht-fair-nicht-fair-das-ist-einfach-nicht-fair-nicht-fair...
Den Blick weiter starr auf das untere Ende der Leiter gerichtet, die Schultern hart an der Wand, die Füße, über die bereits Wasser lief, ertasteten sich ihren Weg von allein und fanden ihr Ziel. Erst als Hansen auf Höhe der Leiter war, bemerkte er, dass er knapp drei Meter vollkommen umsonst an der Wand entlang gerutscht war, wertvolle Zeit verloren hatte.
Komm wieder runter, Markus. Cool down. Ohne klaren Kopf kommst du hier nicht raus. Laß dich meinetwegen von deinem Herz umbringen, aber nicht von deiner Panik.
Kommt das nicht etwa aufs Selbe raus?
Hansen schüttelte den Kopf, versuchte klar zu werden, auch wenn das weitere Zeit kostete. Sein Verstand hatte Recht: Wenn er in Panik geriet würde er sich selbst nur schaden und dem Baron das Spiel viel zu leicht machen.
Er sah an sich herunter. Das Wasser hatte seine Füße längst erreicht und begann sich in den Ecken zu sammeln.
Jetzt, oder du kannst gleich oben bleiben!
Er federte kurz in den Knien, sprang ab... und erreichte die unterste Sprosse. Keuchend zog er sich hoch, griff die nächste und fand schließlich auch mit den Füßen Halt.
"Memo an mich selbst: Bei Überleben Rauchen aufgeben! Ende." Er lachte und war überrascht wie gut es tat und wie schnell er sich wieder zu erholen schien.
"Es freut mich, dass Sie ihren Humor nicht verloren haben, Herr Hansen."
"Hat man vor Ihnen eigentlich nirgendwo seine Ruhe?"
"Was wäre ich denn für ein Gastgeber, wenn ich Sie einsam sterben ließe?"
Hansen antwortete nicht und schrie stattdessen triumphierend auf. Seine Finger hatten den Schlüssel gefunden. Hastig machte er sich wieder an den Abstieg.
Das Wasser reichte ihm nun schon bis zu den Knöcheln und stieg mit beängstigender Geschwindigkeit weiter. Noch eine weitere Gratwanderung könnte ihn die Knöchel kosten und ihn erst recht in das Becken stürzen lassen. Wieder das Abwägen zwischen Sprung und der vermeintlichen Sicherheit des Steges, der nun auch schon längst überflutet war... und glitschig noch dazu.
Hansen verbannte alles logische Denken, umklammerte den Schlüssel so fest er konnte und sprintete los.
Der Sprung war gut und trug ihn weiter, als er es erwartet hätte, doch war er immer noch viel zu kurz. Das Wasser schlug über ihm zusammen, drang in seinen Mund und seine Nase ein und in seiner Panik schluckte er noch mehr davon.
Er konnte die Biester nicht sehen, aber er wusste, dass sie auf ihn zuschossen, weit geöffnete Schlünde und jeder wollte seinen Teil von ihm bekommen.
Hansen strampelte sich zur Oberfläche, ruderte wild mit den Armen und suchte nach dem Rand, als er bereits die ersten Bisse spürte.
Bittebittebitte. Ich darf mich nicht unter Wasser gedreht haben.
Der Wasserfilm über seinen Augen nahm ihm jede Sicht, doch dann fühlte er die harte Beckenkante direkt vor sich und zog sich heran. Die Piranhas hatten sich inzwischen an dutzenden Stellen in ihn festgebissen und sein Blut schien sie erst richtig wild zu machen. Der Schmerz war ein glühender Schürhaken, als sich einer durch die Hose in seine Hoden verbiss, doch dann hatte Hansen sich hochgezogen und rollte über den Rand. Das Wasser stand hoch genug, dass einige der Fische hinterherkamen und sie stürzten sich weiter auf ihn. Bissen in seine Wangen und seine Händen. Fanden überall ungeschützte Haut und rissen Sie auf.
Hansen schaffte es sich aufzurappeln und stürzte zur Tür und auf die sichere Schwelle. Dann atmete er durch. Er war entkommen. Zwar ein wenig angeschlagen, aber nichts, was sich nicht mit einer Großpackung Pflaster wieder hinbiegen lassen würde. Naja, und sein Ohrring war in irgendeinem Fischbauch gelandet, zusammen mit seinem Ohrläppchen, aber das war ein geringer Preis für ein Bad in einem Aquarium voller Horrorfische.
Hansen schloß die Tür auf.
Das Klatschen klang wie Schüsse und Hansen duckte sich unwillkürlich, doch dann bemerkte er, dass es bloß über den Lautsprecher kam. Eine weitere kleine akustische Rückmeldung vom Sadisten im Hintergrund.
"Beeindruckend, Herr Hansen, wirklich beeindruckend. Ich gratuliere Ihnen."
Hansen beachtete ihn gar nicht. Er hatte nur Augen für die Apparatur vor sich, die nur dem wahnsinnigen Hirn eines mittelalterlichen Folterknechtes entsprungen sein konnte. Seile, Schnüre, viel Holz und viel zu viele Klingen. Auf den ersten Blick glich der Aufbau einem überdimensionalen Spinnennetz.
"Lassen Sie sich nicht entmutigen. Hinter der nächsten Tür wartet eine kleine Überraschung auf Sie. Dort können Sie sich erst einmal erholen."
"Was ist es?"
"Der Aufbau? Oder die Entspannung?"
"Ach, vergessen Sie es. Ich habe die Schnauze mehr als voll von Ihnen."
"Aber, aber, Hansen ..."
"SCHNAUZE!" Zu viel. Das war nun einmal zu viel gewesen. Sein Herz krampfte sich zusammen und blieb einfach stehen.
Oh, Scheiße. Neinneinnein... Nicht hier. Nicht so...
Er hämmerte sich selbst die Faust auf die Brust. Rang um Luft, spürte dabei aber, wie seine Kraft schwand.
Noch nicht. Noch nicht!
Bunte Lichter tanzten vor seinen Augen, der Blick glitt immer weiter in Schwärze über. Ein letzter verzweifelter Schlag, ein letztes Gebet in höchster Not... und es pumpte wieder.
Noch einmal davongekommen. Der nächste Anfall ist tödlich, das weißt du.
"Sie sehen aber gar nicht gut aus, Hansen. Ganz grau im Gesicht. Ich habe Kerzen gesehen, die sahen lebendiger aus als Sie." Es hätte tatsächlich mitfühlend geklungen, wäre da nicht dieser hämische Unterton gewesen.
Aber von Barnim hatte Recht - es ging ihm beschissen. Er wusste nicht einmal, ob er die Kraft haben würde aufzustehen. Warum überhaupt versuchen? Hinter der nächsten Tür wartete nur weiteres Leid, weitere Qual. Hier konnte er ganz friedlich liegen und einschlafen. Einfach warten, bis es zum einen oder zum anderen Ende käme. Es wäre...
Schluss jetzt. Du bist ihm mehr als einmal von der Schippe gesprungen und willst jetzt aufgeben, wo die Tür zur Freiheit vielleicht schon auf der anderen Seite des Raumes liegt?
Ja. Ja! JA, verdammt! Ich habe keinen Bock mehr. Ich habe keine Kraft mehr. Es geht nicht mehr.
Und wie es geht .Wenn es sein muss, krieche!
Man konnte es wenigstens versuchen.
Hansen drehte sich auf den Bauch und sah zur anderen Seite hinüber - eine vorsichtige Schätzung ergab zwanzig Kilometer, vielleicht auch vierzig. Nichts zu machen.
Es sind keine zehn Meter. Und nun los!
Ich wusste gar nicht, dass ich so einen starken Überlebenswillen habe, schoss es ihm durch den Kopf. Wenn ich hier raus bin, werde ich eine letzte Operation wagen. Ganz sicher.
Hansen kroch los.
"Unverwüstlich. Wacker, wacker. Wirklich bewundernswert."
Tilt - Die Stimme aus dem Denken verbannen. Einfach nur nach vorne schauen. Die Tür. Die Tür musste erreicht werden, koste es was es wolle.
Vorsicht, kreischte es in ihm. Die Seile, die Schnüre. Die Klingen!
Attrappen!
Sei kein Idiot!
Ein bisschen Vorsicht konnte tatsächlich nicht schaden. Wo waren die Seile? Er hatte überhaupt nicht mehr darauf geachtet, nur auf diese verfluchte Tür, die nun schon wesentlich näher vor ihm lag. Er konnte deutlich die eingravierten Buchstaben im Türknauf erkennen - Wilka.
Die Seile. Wo sind sie? Sie ... Scheiße!
Er war mitten in sie hinein gekrochen. Ein Wunder, dass er noch keine Falle ausgelöst hatte, doch direkt vor seiner Nase war eine quer gespannte Schnur. Wäre er weiter gerobbt, hätte er sie in jedem Falle berührt.
Glück ge...
Er hatte sich umdrehen wollen, um zu schauen, wie es am besten weiterginge, und dabei die sanfte Berührung am Rücken zu spät bemerkt.
Nicht fair!
Das Beil schlug knapp oberhalb seines Rückgrates in seinen Körper und fuhr ihm bis in den Brustkorb, zerschnitt Muskelgewebe, Nerven und lebenswichtige Organe.
Hansen kreischte und zappelte wie ein Insekt auf einer Nadel. Er kam nicht mehr vor, nicht zurück. Das Beil hatte ihn auf den Boden festgenagelt, doch noch nicht getötet.
An den Wänden brachen sich seine Schreie und warfen sich zurück auf ihn, schlugen über ihm zusammen, winselten mit ihm und verspotteten zugleich seine Agonie durch eine billige Nachahmung.
Als Hansen glaubte, die Schmerzen nicht mehr ertragen zu können, setzte sein Herz gnädig aus und erlöste ihn.
"Danke", flüsterte von Barnim in die Stille hinein.