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Einladung zum Sterben - Janine Görlitz
Janine Görlitz schlug die Augen auf und sah sich neugierig um.
Sie lag auf einem weichen Sofa und hatte unter ihrem Nacken ein Kissen. Ein angenehmes Halbdunkel lag über den Möbeln des Zimmers, das durch Kerzenlicht in eine sanfte Stimmung getaucht wurde.
Wo bin ich? Was ist passiert?
Vorsichtig bewegte sie den Kopf, doch die befürchtete Kopfschmerzattacke blieb aus. Kein bitterer Geschmack vom Alkohol in ihrem Mund.
"Guten Abend, Frau Görlitz. Oder darf ich Sie Janine nennen?"
Janine blickte auf und suchte den Sprecher, dessen Stimme aus Richtung ihrer Füße gekommen war.
"Wer sind Sie? Und wo bin ich hier?"
"Aber, Janine. Sie werden doch nicht etwa vergessen haben, was ich Ihnen noch vor wenigen Stunden erklärt habe?"
Sie kannten sich also. Fieberhaft kramte Janine in ihrer Erinnerung, fand aber nur ein schlechtes Gefühl, kein Bild, keine Geschichte.
"Wir kennen uns?", fragte sie.
"Wie man es nimmt, meine Liebe. Wir haben uns heute zum ersten Mal getroffen und es wird in jedem Falle auch das letzte Mal gewesen sein."
"Was meinen Sie damit?". Sie starrte in das Halbdunkel, konnte ihn aber immer noch nicht erkennen.
"Frau Görlitz… Janine… Sie sind hier, um zu sterben. Ich bin allerdings ein wenig verwundert, ja, sogar verärgert, dass ich Ihnen dies hier noch einmal erklären soll. Haben Sie diese Erinnerungslücken öfter?"
"Sterben?" Sie presste die Lippen zu schmalen Streifen zusammen, ihre Augen waren dagegen weit aufgerissen.
Ein tiefes Seufzen ging durch den Raum - es klang wie die Rückkopplung eines Mikrofons. Kam seine Stimme über einen Lautsprecher?
"Ich bin bereit, Ihnen gegenüber viel Nachsicht zu üben, Janine. Nicht bloß, weil sie eine Frau sind, sondern auch wegen des Tumors in Ihrem Schläfenlappen …"
Ihr Blick verschwamm. Langsam hob sie die Hand an die Schläfe und begann mit den Fingerspitzen in leichten Kreisen zu reiben.
"Das ist Ihr Ernst, ja? Sie wollen mich hier sterben lassen?", fragte sie. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Hauchen.
Von Barnim hatte es dennoch verstanden und amüsierte sich scheinbar köstlich darüber.
"Oh, nicht nur Sie, meine Liebe, nicht nur Sie! Und wo wir gerade beim Thema sind" - es knackte in der Leitung - "Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie nun nur noch zu dritt sind. Hansen has left the building." Beim Lachen des Barons zuckte sie zusammen und sah sich unbehaglich um, suchte nach einem Weg, der sie von dieser Stimme fort bringen würde.
In den Schatten konnte sie die Umrisse zweier Türen erkennen.
"Er hat sich wirklich tapfer geschlagen. Er war nur einen einzigen Moment unachtsam."
"Ist… ist er tot?" Tränen waren ihr in die Augen getreten. Janine hatte diesen Hansen nicht gekannt und an die kurze Begegnung im Speisesaal des Barons konnte sie sich nicht mehr erinnern, dennoch trauerte sie um den Mann. Sein Schicksal stellte ihre eigenen Chancen als noch geringer dar.
"Ja, das ist er."
"Wo führt diese Tür hier hin?" Janine hatte sich erhoben und war vor eine der Türen getreten.
"Sie …", hob der Baron gerade zu einer Antwort an, als die Tür heftig erzitterte. Von der anderen Seite aus wurde dagegen gehämmert. Janine sprang zurück und schrie auf, wandte sich um und rannte zu der Tür rechts von ihr.
Halt!
Die Hand auf der Klinke zögerte sie.
Wer war das gerade?
"Wer ist da auf der anderen Seite?"
Die Stimme des Barons klang amüsiert, als er ihr antwortete.
"Wer? Oder was? Wollen Sie es nicht selbst herausfinden?"
Hör nicht auf ihn! Er will dich töten!
Die Lippen zusammengekniffen, ließ sie die unbekannten Geräusche hinter sich zurück und trat in den Raum vor sich.
Ein Wechsel vom Halbdunkel in düsteres Zwielicht.
Ihr Blick glitt an den Wänden des Zimmers entlang, streifte zwei kleine Aktenschränke und blieb an einem länglichen Stahltisch hängen. In den Schatten darauf lag eine große, klumpige Masse.
Janine zögerte, blickte kurz über die Schulter zurück, auf das Sofa, die Kerzen, den warmen Schein, und ging weiter.
Ein Gedicht hatte sich in ihre Gedanken geschlichen, beruhigte sie und machte sie gleichzeitig nervös.
- Wer reitet so spät durch Nacht und Wind… -
Je näher sie an den Tisch heran trat, umso mehr konnte sie erkennen,
- …der Vater ist's, mit seinem Kind…-
doch erst als sie die Hand sah, brach der Gedanke durch die Mauer des Gedichtes und biss sich fest.
Ein Mensch, ein Mensch, ein Mensch…
"Hansen?"
Ein bärtiges Gesicht, kein Erinnerungsblitz. Dennoch ließ sie der Anblick des Toten zittern.
"Nein, nicht Hansen. Ehrlich gesagt habe ich den Namen vergessen - er ist auch unwichtig."
"Aber wieso?" Sie würgte die Worte heraus. Sie taten ihr im Hals weh, brannten vor Tränen. "Wieso … wieso haben Sie ihn dann getötet?"
"Nun… alles im Leben hat seinen Zweck, verstehen Sie? Er lebte auf der Straße, lungerte herum und gammelte vor sich hin. Ich nahm ihn für ein paar Tage auf und ließ ihn leben wie einen König. Er bekam zu essen, zu trinken und ich bescherte ihm die schönsten Tage seines jämmerlichen Lebens."
"Wie großmütig von Ihnen!"
"Spotten Sie nicht. Ich brauchte nun mal eine Testperson, um die Konzentration des Dolestans zu testen. Irgendwann wusste ich dann, was zuviel war." Er lachte. "Quid pro quo, wie es so schön heißt!"
"Sie haben ihn einfach umgebracht?" Janine war fassungslos. "Nur um zu wissen, ab wann Ihre Drogen Ihnen zu gefährlich würden?" Sie strich mit den Fingern über die welke Haut der toten Hand und schrak zurück, als diese langsam am Tisch hinunter glitt und schlaff in der Luft hängen blieb.
"Nicht mir, sondern Ihnen! Das Dolestan war das Schlafmittel in Ihrem Essen."
Janine öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton raus. Wortlos wandte sie sich erneut um und ging in den Raum zurück, in dem sie aufgewacht war.
"Was soll das? Warum gehen Sie zurück?", blaffte von Barnim.
Statt einer Antwort, griff sie sich zwei Kerzen aus dem Leuchter und hielt sie sich kurz vor das Gesicht.
Die Couch, die Bilder… Alles!
Sie achtete nicht auf die Beschimpfungen des Barons, als sie den Bezug der Couch in Brand steckte, die Flamme an den Gemälden hoch züngeln ließ und schließlich die Kerzen auf zwei gepolsterte Stühle legte.
Von Barnim schien sich gefangen zu haben. Seine Stimme klang leise und zischend, wie der Laut einer Schlange.
"Du dummes Mädchen. Das war dein Todesurteil!"
"Ach", lachte sie. "Jetzt erst? Wie kam ich bloß auf den Gedanken, dass Sie mich eh töten wollten? Wie komme ich nur auf die Idee, dass der Tumor in meinem Kopf eine tickende Zeitbombe ist?"
"Ihr Zynismus nützt Ihnen gar nichts mehr. Sie ändern das Spiel, ich ändere die Regeln! Korwicz…"
Die Flammen waren inzwischen an den Wänden hoch gekrochen und hatten den Lautsprecher erreicht, der mit einem Krachen explodierte. Über den Verstärker im Nebenzimmer hörte sie von Barnim frustriert aufbrüllen.
Das ganze Zimmer brannte wie Zunder und verschaffte ihr ein tief sitzendes Gefühl der Befriedigung. Egal wie die Nacht enden würde, von Barnim würde nicht den Spaß haben, den er wollte.
Jetzt aber raus hier!
Janine Görlitz stürmte hinaus und schlich dann vorsichtig weiter. Der Raum mit dem toten Obdachlosen hatte zwei weitere Türen. Die erste führte in ein steriles kleines Zimmer. Ein Holztisch lag umgestürzt am Boden. Irgendjemand…
… oder irgendetwas…
… hatte ein Bein abgebrochen. Janine sah sich um, konnte es jedoch nirgendwo entdecken. Dafür sah sie eine Luke im Boden. Und Blut. Vorsichtig ließ sie sich auf ein Knie nieder und spähte durch das Loch. Etwa zwei Meter unter sich sah sie noch mehr Blut. Sie hörte das leise Kratzen von Krallen.
Verschwinde! Was immer da unten ist könnte auch den Tisch da auseinander genommen haben.
Und hat dann an die Tür geklopft?
Vielleicht ist es auch dagegen gerannt. Mach, dass du hier weg kommst. Schnell! Und schließ die Tür hinter dir!
Janine sah sich um. Nur die Tür, durch die sie gekommen war, war nicht geschlossen.
Das Ding kann zwei Meter springen und ist in der Lage Türen zu schließen. Vielleicht ist es ja doch einer der anderen, von denen der Baron gesprochen hat.
Ach, und die nehmen aus Spaß Tische auseinander?
Vielleicht…
Von unten erklang ein tiefes, kehliges Knurren. Das gab den Ausschlag. Hastig sprang sie von der Luke zurück und stürzte wieder in das Zimmer aus dem sie gekommen war.
Scheiße, scheiße, scheiße. Da waren noch andere Türen… vielleicht…
Du weißt nicht was hinter ihnen lauert. Du weißt nur, dass hier drin nichts war!
Und die nächste Tür? Hier gibt es nur noch einen Ausgang…
Janine schrie aus vollem Halse. Die Stimmen in ihrem Kopf machten sie wahnsinnig und auch wenn sie der spitze Schrei selbst ängstigte, war das Ergebnis erfolgreich. Die Stimmen waren fort. Vorerst.
Ihr Blick ging zurück zu dem Zimmer in dem sie aufgewacht war. Die Tür war geschlossen. Wie weit waren die Flammen? Würden sie wieder ausgehen, wenn die Tür geschlossen blieb? Besser, sie würde sie öffnen und…
HALT!
Sie hatte die Hand schon fast auf den Türgriff gelegt, als die Stimme sich wieder zurück meldete.
Nicht von vorne!
Sie stellte sich neben die Tür und zog sie schwungvoll auf. Schmerz brannte durch ihre Hand, als sie den glühenden Türknauf drehte.
Eine mächtige Feuerwelle sprang aus dem Zimmer und versengte ihre Haare, schwärzte ihr Gesicht und trieb sie fort. Janine taumelte und stürzte zu Boden.
Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln und über ihre verzerrten Mundwinkel. Die verletzte Hand in ihr Shirt gekrampft, kroch sie zu der Tür am anderen Ende des Zimmers.
Die Angst hatte sie gepackt, trieb sie weiter. Wie ein kleines, wildes Tier sprang sie in ihrem Käfig umher, kreischte und schrie. Janine wollte nicht verbrennen, wollte überhaupt nicht sterben.
Beruhige dich! Sei nicht so blind!
Die Panik wollte sie weiterjagen, doch Janine zwang sich einen Moment inne zu halten und ruhig durchzuatmen. Ihr Blick wurde klarer und schließlich konnte sie wieder aufstehen. Ihre Knie taten weh und die Hand pochte, aber es fühlte sich gut an, die Situation wieder unter Kontrolle zu haben.
Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte durch den Spalt.
Falle! Da ist eine Falle!
Janine zuckte zurück. Ihr Instinkt hatte ihr bisher gute Dienste geleistet, doch dieses Mal schien er sich geirrt zu haben. Der Raum lag ruhig vor ihr und machte einen ungefährlichen Eindruck.
Irgendetwas stimmt hier trotzdem nicht.
Wohl wahr, wohl wahr, aber…
Der Brandgeruch war es schließlich, der sie weiter trieb.
Irgendetwas stimmt hier gar nicht!, ließ sich die Stimme in ihr nicht unterkriegen. Sie rebellierte, wurde immer lauter und zwang Janine schließlich stehen zu bleiben und sich genauer umzusehen.
Keine Fenster, kein Tisch, kein Stuhl… keine weiteren Türen. Der grob geziegelte Raum war eine Sackgasse.
Du bist in deine eigene Falle gelaufen! Raus hier, raus, raus!
In dem Moment, als sie herumwirbelte, wurde die Tür hinter ihr aufgerissen und ein schwankender, taumelnder Alptraum stand zwischen ihr und dem Weg nach draußen.
Der Mann vor ihr stierte sie mit gesenktem Kopf durch ein paar lange schwarze Haarsträhnen an. Seine Augen funkelten, die Gesichtszüge waren eine grinsende Fratze und er zitterte am ganzen Körper. Dieser war Schweiß überströmt und nackt, bis auf die deutlich ausgebeulte Unterhose.
Janine sog zischend Luft in ihre Lungen. Ihr Blick war auf die Waffe gefallen. Als hätte er ihren Blick als Aufforderung gesehen, legte er die Hand an den Griff und zog sie heftig aus dem Bund.
"ljjjaaarghi", lallte er glücklich und Janine wich vor ihm zurück.
"Was…? Wer sind sie?" Er kam ihr vage bekannt vor.
Der Verrückte hatte die Waffe auf sie gerichtet und grinste glücklich.
Das war's dann wohl. Der Gedanke tat nicht mal weh. Besser als zu verbrennen.
Janine schloss die Augen, wartete auf den Schuss und fragte sich, ob sie ihn erst hören oder erst spüren würde. So sah sie nicht, wie die Gesichtszüge des Mannes entglitten und er sich panisch umsah.
Jeder verstreichende Augenblick schien sich zu einer Ewigkeit zu dehnen.
Ein Schrei.
Janine spähte vorsichtig durch die Wimpern und riss die Augen dann erschrocken auf.
Der Verrückte lag auf dem Rücken und strampelte wie wild mit den Beinen, warf sich von einer Seite auf die andere, brabbelte und schrie.
Zuerst dachte Janine, es läge an der Feuerwand, die hinter ihm wütete, doch dann konnte sie einzelne Wortfetzen verstehen… und einen einzelnen Namen.
"Luuucyyy". Die schrille Stimme des Mannes gefror ihr das Blut in den Adern. Sie war unfähig sich zu bewegen oder dem Blick auszuweichen, den er ihr zuwarf. Voller Hass. Voller Wut.
Janine schlug die Augen nieder. Sie wollte es nicht sehen. Weder wie er starb, noch wie er sie ansah.
Du musst hier raus!
Sie sah hoch. Die Flammen hatten sich weiter ausgebreitet und fraßen sich wütend an der Decke entlang. Noch waren sie nicht bis zu ihrem Zimmer gekommen, doch sie spürte schon die Hitze, die ihr die Tränen in die Augen trieb und den Atem nahm.
Ohne den Mann am Boden aus den Augen zu lassen, schob sie sich an ihm vorbei, den Rücken an den Türrahmen gedrückt.
Er ist tot. Er ist mausetot. Mach dir lieber Gedanken um das Feuer.
Ja, er…
Der Tote zuckte und erbrach sich auf Janines Füße.
Sie kreischte und fluchte in einem Atemzug los. Ihr Herz schoss durch den Brustkorb und schlug ihr heftig im Hals. Sie trat zu. Das Knirschen unter ihrem Absatz, als die Knochen brachen, presste ihr ein Wimmern heraus und doch trat sie ein weiteres Mal zu. Das Röcheln unter ihr brach, von einem Knacken begleitet, ab.
Ohne sich noch einmal umzuschauen rannte sie los, hielt sich beide Arme über den Kopf, versuchte ihr Gesicht zu schützen und stürzte über die Schwelle des sterilen Raumes. Der Tisch lag unverändert da, zeigte mit seinem verbliebenen Bein anklagend auf sie.
"Hallo, Janine"
Ihre Augen wuchsen, sprangen fast aus den Höhlen. Das konnte doch nicht… Der Tisch hatte doch…
"Jämmerlicher Korwicz. Er hatte seine Chance und er hat sie verspielt. Genauso wie Sie Ihre Chance hatten."
Ein Lautsprecher. Nur ein Lautsprecher! Es ist nur der Baron. Beruhig dich, Mädchen.
Leichter gesagt, als getan.
"Ich freue mich schon auf Sie, Janine, denn für Sie mache ich eine Ausnahme!"
"Was…?"
"Ich werde Sie selbst töten, meine Liebe. Können sie mich hören? Ich …", ein Knacken im Lautsprecher.
" … komme!", durch eine der Türen.
Janine krümmte sich zusammen, kroch hinter den Tisch und machte sich ganz klein.
"Poch, poch, Janine". Gedämpft, gefolgt von einem Klopfen an der Tür rechts von ihr.
Janine kreischte auf, sprang hoch und riss die entgegengesetzte Tür auf, floh panisch hindurch und hörte gerade noch, wie die Tür hinter ihr geöffnet wurde.
Kein Blick zurück. Weiter, weiter!
Das Klappern ihrer Schuhe hallte in den Ohren nach, donnerte, nahm allem um sie herum die Töne.
Wo ist er? Wo ist eeeeer? Das Kreischen war ein Falsett geworden. Das Tier Panik nagte an allen Leitungen ihres Verstandes, durchbiss Kabel, schlitzte andere an.
Janine jagte durch einen Gang, den Blick starr nach vorne, achtete nicht auf die Abzweigungen links und rechts, immer nur darum bemüht so weit wie möglich von ihrem Verfolger fort zu kommen. Etwas in ihr flüsterte, dass Verstecken Tod bedeutete.
Bitte keine Fallen. Bitte. Keine Fallen. Bittebittekeine…
Der Gedanke riss abrupt ab, als sie um eine Ecke hastete und vor eine Tür prallte. Janine riss an der Klinke. Verschlossen.
Sackgasse. Endstation. Ende.
Janine wirbelte herum und erstarrte. Metall auf Metall, irgendwo hinter der Biegung des Ganges. Ganz nah.
"Dschaaaaniiiiien". Sie erkannte die Stimme des Barons nicht mehr wieder. Hoch und spöttisch klang sie nun, kein Vergleich zu der Kultiviertheit, mit der er sie begrüßt hatte.
"Ich hole dich!", sein Lachen ließ sie zittern. Wie ein Kaninchen vor der Schlange, drängte sie sich mit dem Hintern an die Tür, als wolle sie sich durch die kleinste Ritze quetschen.
Lachen. Metall auf Metall.
Wird es wehtun?
Mit Sicherheit, also mach was, du dumme Schlampe!
Janine riss an der Klinke, zog und zerrte, ohne auf die Schmerzen in ihrer Hand zu achten. Brandblasen platzten und schmierten Eiter über ihre Handfläche, machten die Klinke rutschig und ließen ihre Hände abgleiten.
Er ist gleich da. EristgleichDA!
Sie wimmerte, schnaufte, Rotz lief ihr aus der Nase und vermischte sich auf ihrer Oberlippe mit den Tränen.
"Lass mich rauuuus!". Bitte? Gebet? Sie flehte zu allem was sie kannte, doch die Tür gab nicht nach.
Dann eben zurück!
Nein, nein, weg! Nicht zu ihm hin!
"Buh!"
Janine sah sich nicht um, presste sich gegen die Tür, hämmerte, kratzte. Ihre Fingernägel knickten ab und brachen. Blut rann ihr an den Fingern hinunter, die Haut platzte und verteilte Fleisch und Gewebe am Holz.
Metall auf Metall. So laut. So nah.
Er trug einen roten Umhang und eine Maske, durch die sie nur die leichte Bewegung seiner Augen wahrnehmen konnte. Weiße Handschuhe und darin zwei lange, gebogene Klingen.
Er ist das Phantom der Oper, schoss es ihr unsinnig durch den Kopf, während sich die letzten Verknüpfungen in ihrem Gehirn der Panik ergaben. Eine Welle spülte alles Denken fort, während sich ihr Blick an ihm festbiss.
Leicht gebückt schlich er auf sie zu und breitete väterlich die Arme mit den spitzen, tödlichen Enden aus.
In einer fast zärtlichen Umarmung erschlafften Janines Muskeln und Blase. Ihr Kopf sank zurück, während ihre Füße in einer Lache aus Blut und Urin zuckten, doch er hielt sie fest. War ganz nah bei ihr, sah ihr in die Augen und hielt sie. Tanzte mit ihr in den Tod.
So sanft. Er ist so sanft...