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Einigkeit und Recht und Freiheit
Der Mann mit dem Dreispitz auf dem Kopf kam auf ihn zu, blieb vor seinem Tisch stehen und verneigte sich höflich.
„Gestatten Sie, Sir? Ich bin der Gouverneur Ihrer Majestät, Königin Viktoria von England, und vertrete meine Regierung hier auf Helgoland. Mein Name ist Sir Archibald,“ er zögerte einen kurzen Augenblick, um dann zu ergänzen: „Sir Archibald Wyndale, vierzehnter Earl of Forthness aus Lancomshire upon Tyne.“
Der Angesprochene erhob sich von seinem Platz in der Taverne, streckte sich und sah dem Repräsentanten der Königin in die Augen:
„Ich heiße August Heinrich Hoffmann,“ antwortete der Gast, und, als er das missbilligende Anheben des Augenwinkels seines Gegenübers gewahrte, wollte er hinzufügen „... aus Fallersleben!“ Im letzten Moment besann er sich jedoch noch und erwiderte:
„... August Heinrich Hoffmann von Fallersleben!“
„So, ein Deutscher also,“ entgegnete der englische Offizier und nahm unaufgefordert Platz.
„Hier, auf Helgoland, mischen sich ja die Völker,“ setzte er seine Erklärung fort. „Neben den Untertanen ihrer Majestät gibt es noch Dänen...“
„... die bis 1814 schließlich genau einhundert Jahre rechtmäßige Herren der Insel waren...“ flocht Hoffmann von Fallersleben ein.
Der Gouverneur ließ sich nicht beirren. „Unsere Kontinentalsperre Anfang dieses Jahrhunderts war unbedingt erforderlich, um den kleinen Korsen in Schach zu halten. Dazu gehörte auch die Eroberung dieses Eilandes. Und erst wir Engländer haben aus dieser Insel etwas gemacht. Seit dem wir hier residieren, ist Helgoland ein anerkanntes Seebad. Ihre Vorfahren,“ dabei sah er Hoffmann an und schnaubte verächtlich, „waren ja nur Seeräuber, die berühmten Vitalienbrüder, die 1401 in der Schlacht vor Helgoland vertrieben wurden.“
„Das waren Friesen,“ erwiderte der Deutsche, „die gehören nicht zu meinen Landsleuten. Bis heute, Anno 1841, sind sie Untertanen des dänischen Königs. Wobei ich bezweifele, ob die Friesen jemals irgendwem untertan waren.“
„Barbaren“ gab der englische Offizier von sich, „Rauf- und Trunkenbolde, undiszipliniert, nicht bereit, sich einer bestehenden Ordnung anzupassen.“
„... schon gar nicht der englischen...“ dachte Hoffmann von Fallersleben, wie er sich seit eben nannte, ohne dieses aber laut von sich zu geben.
Wie zur Bestätigung der vorgetragenen Anschauung des englischen Uniformträgers tat sich ein lautstarker Streit in der Taverne auf.
Der Händel wurde zwischen einem Matrosen ihrer Majestät und einem blonden Hünen ausgetragen, dessen wettergegerbtes Gesicht von einem wild-gekräuselten Bart eingefasst war.
Offensichtlich ging es um die ruhmreichen Taten der königlichen Marine, die der Friese nicht in gebührender Weise huldigen wollte. Einem Wort folge eine heftigere Erwiderung, bis der englische Sailor seine Hand erhob und auf den Friesen einschlagen wollte. Er hatte jedoch nicht mit dessen schneller Reaktion gerechnet und fand sich dank der heftigen Gegenwehr unversehen am Boden sitzend wieder.
„Niemand darf einem englischen Matrosen ungestraft ins Gesicht schlagen...“ mischte sich ein zweiter Seemann ein und wollte auf den Friesen los stürmen.
„Da hast Du wohl Recht...“ entgegnete dieser, packte seinen Widersacher kurz entschlossen an den Schultern, drehte ihn um und verpasste ihm einen kraftvollen Tritt in jenen Körperteil, den Seeleute gemeinhin als Heck bezeichnen.
Gleich einer englischen Fregatte segelte der Zweite seinem Kameraden hinterher.
Nun gab es kein Halten mehr. Das knappe Dutzend englischer Kameraden stürzte sich auf die drei Friesen.
„Einigkeit!“ riefen die beiden anderen Blonden und sprangen ihrem Gefährten bei.
Im Handumdrehen war die schönste Keilerei in Gange.
„Ja, ja,“ zuckte der Gouverneur mit den Schultern, „Einigkeit! Da besteht Übereinstimmung bei diesen Barbaren.“
Lange währte die Auseinandersetzung jedoch nicht. Helgoland ist keine große Insel. Und so erreichten die durch den Lärm alarmierten Gendarmen sehr schnell den Ort der handfesten Meinungsverschiedenheit und setzten die drei Friesen fest.
„Bringt sie in den Steinbruch auf die Nachbarinsel“ rief der Vertreter der Krone seinen Soldaten zu, „dort sollen sie bei Strafarbeit über ihre Untaten nach denken.“
„Das ist unrecht“ versuchte ein Gast in der Taverne zu protestieren.
Der Gouverneur schüttelte energisch sein Haupt. „Ich sagte es, erst sind sie sich einig beim Raufhändel, dann fordern sie das Recht ein, das ihnen nicht zusteht.“
„Ihr dürft sie nicht in den Steinbruch verbannen,“ schloss sich ein weiterer Insulaner dem Protest an. „Eure Leute haben den Streit angefangen.“ Etwas leiser fügte er hinzu: „.. wie immer!“
„Freiheit für die Drei!“ skandierte der Tavernenbesucher. Schon stimmten weitere ein.
„Freiheit! Freiheit!“
Sir Archibald sah Hoffmann von Fallersleben an.
„Seht selbst! Da versuchen wir, dem europäischen Festland etwas von unserer Kultur zu vermitteln. Und wie reagieren Eure Landsleute? Sie sitzen hier auf unserer Insel und brüllen abwechselnd: Einigkeit, Recht und Freiheit, je nach dem, wie es ihnen gerade in den Sinn kommt.“
Er zuckte resignierend mit seinen Schultern.
„Es klingt für englische Ohren immer wieder erstaunlich, dieses Lied der Deutschen.“
Das dachte sich Hoffmann von Fallersleben auch, als spät abends in seiner Kammer diese Gedanken zu Papier brachte. Warum sollte er der Sammlung seiner lyrischen Lieder, zu der „alle Vögel sind schon da“, „Kuckuck“ und „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ gehörte, nicht das Lied der Deutschen hinzu fügen? Und wen – außer einem Engländer – würde es schon stören, wenn ausgerechnet diese britische Insel der Geburtsort des Liedes der Deutschen sein würde?