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Einhundertundzwei Lebensjahre
Dass er einhundertundzwei Jahre alt werden wolle, das hatte er immer gesagt und auf die Frage, warum gerade einhundertundzwei und nicht einhundert Jahre, immer geantwortet:
"Das einhundertste Jahr möchte ich feiern, nein, ich möchte mich groß feiern lassen, ein ganzes Jahr lang, im einhundertersten Jahr möchte ich meine Angelegenheiten regeln und dann werde ich bereit sein für das, was unweigerlich kommen wird." Nie hatte er dabei gelächelt, allenfalls war eine Andeutung von Schmunzeln um seinen Mund zu erkennen, so als ob er wild entschlossen wäre, das umzusetzen, was er sagte. So wie man es von ihm gewohnt war und wie er nunmehr mehr als neunzig Jahre gelebt hatte.
Sie war in dieser Frage ebenfalls wenig zurückhaltend und behauptete, sie wolle solange leben wie es gehe, aber auf jeden Fall vor ihm sterben, denn seinen Tod würde sie nicht überleben. Was wie ein Witz klang, schien ihr bitterer Ernst zu sein, denn sie hatte diese Worte immer wiederholt, jahrzehntelang, so oft man sie zu diesem Thema befragte.
Die Jahre waren vergangen und wie es in der Natur der Sache liegt, hatte sich beider Gesundheitszustand von Jahr zu Jahr verschlechtert; ein schleichender Prozess, dem sie nicht ausweichen konnten, den sie aber mit einer Gelassenheit und Würde annahmen, wie sie nur wenige alte Menschen aufbringen.
Heinrich erfreute sich bis weit in seine neunziger Jahre hinein einer erstaunlichen Gesundheit, hatte er sich doch sein ganzes Leben lang mit Gymnastik, später fernöstlichen Meditations- und Entspannungstechniken, fit gehalten und liebte es nach wie vor, Gäste zu opulenten Abendessen einzuladen und diese mit Anekdoten aus seinem an Abwechselung und Spannung reichen Leben zu unterhalten.
An einem Abend, sie hatten wieder einmal zu einem großen Dinner in ihr Landhaus eingeladen, verblüffte er ihre Gäste mit der Aussage, dass er dabei sei, eine Familiengruft im hinteren Teil des weitläufigen Anwesens errichten zu lassen, auf der Anhöhe oberhalb des Sees, und er denke daran, später selbst einmal diese Gruft zu beziehen. Ja, beziehen, sagte er immer, nicht bestattet werden, denn für ihn war das eigene Sterben ein Akt, bei dem er wie gewohnt Regie führen würde, dessen war er sich sicher und diesen Standpunkt verteidigte er hartnäckig gegen alle Argumente, wann immer die Rede darauf kam.
"Ich halte nichts davon, im Kleinen zu sterben" hatte er oft gesagt, "Sterben möchte ich wie ich lebe. Groß. Nicht so wie Dali es mit seiner Gala machen wollte. Kennt ihr die Geschichte? Dali sah, dass Gala immer weniger wurde, aufgezehrt von den Mühen eines langen Lebens und einer schweren Erkrankung. Er stellte sich vor, dass sie immer kleiner und kleiner werden würde und wenn sie so groß wie ein Olivenkern sei, würde er sie einfach runterschlucken, damit sie ein Teil von ihm wäre." Heinrich hatte laut gelacht und dabei den Kopf geschüttelt, so als sei dieser Gedanke ganz und gar abwegig.
"Nein, bei uns wird es anders werden. Erst wird Maria sterben, dann ich. So ist es abgesprochen, so haben wir es geplant und so wird es auch gemacht. Beide kommen wir in die große Familiengruft. Später folgen dann unsere Kinder."
Maria war bei seiner Rede auffallend still geblieben, was niemanden verwunderte, denn es war bekannt, dass sie die Großmannssuchtanfälle, so bezeichnete sie Heinrichs Ideen manchmal, nicht sehr schätzte und überhaupt hatte sie andere Vorstellungen vom Tod und der Art, damit umzugehen.
Die Gäste waren gegangen, in den kommenden Wochen sollten weitere Gäste kommen und gehen, die Wochen gingen vorüber und verkürzten ihre verbleibende Lebenszeit mit jeder Umdrehung der Uhr. Der Herbst neigte sich dem Ende entgegen und machte den ersten Wintervorboten Platz. Gefolgt von einem weiteren Frühjahr, dem Sommer, Herbst und Winter folgten. Unaufhaltsam, die Jahre vergingen.
In den letzten Stunden seines Lebens saß Heinrich unweit der mittlerweile fertig gestellten Familiengruft auf der Parkbank unter der Weide, eingewickelt in eine wärmende Decke, und beobachtete das Treiben auf dem großen See, in dessen Wasser sich neben Enten und Schwänen auch Frösche und anderes Getier tummelte. Aufmerksam beobachtete er wie sein Lieblingskater Bonito versuchte, sich auf einem halb in den See ragenden Baumstamm unbemerkt den Wasserbewohnern zu nähern, um vielleicht einen Frosch oder einen kleinen Vogel zu fangen. Das Ausrutschen des Katers ins Wasser, Heinrichs Aufspringen von der Bank, das Abstreifen der Jacke und sein beherzter Sprung ins kalte Wasser blieben Maria und den Angestellten verborgen. Man fand seinen leblosen, von der Seele verlassenen Körper, als man ihm seinen Fünf-Uhr-Tee bringen wollte, den er zum Abschluss seiner Stunden am See immer auf der Parkbank trank.
Letztlich war es anders gekommen, als Heinrich es sich gewünscht hatte.
Maria hatte anderes im Kopf gehabt als Familiengruft mit viel Stein und Beton. Sie ließ seine sterblichen Überreste einäschern, sie in eine Urne füllen und diese an seinem Lieblingsplatz unter der Weide am See begraben. Die Familiengruft wandelte sie in ein Taubenhaus um, aus dem sie jeden Hochzeitstag weiße Tauben aufsteigen lassen wollte.
Einen kleinen Teil seiner Asche füllte sie in das herzförmige Amulett mit der Aufschrift "siempre juntos", dass sie zum ersten Hochzeitstag von Heinrich in einem unvergesslich gebliebenen Liebesurlaub in Barcelona geschenkt bekommen hatte.
So war er immer bei ihr, direkt und diskret an ihrem Herzen bis zu ihrem letzten Atemzug im Alter von einhundertundzwei Jahren.