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Einhundertundzwei Lebensjahre

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28.12.2014
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Einhundertundzwei Lebensjahre

Dass er einhundertundzwei Jahre alt werden wolle, das hatte er immer gesagt und auf die Frage, warum gerade einhundertundzwei und nicht einhundert Jahre, immer geantwortet:

"Das einhundertste Jahr möchte ich feiern, nein, ich möchte mich groß feiern lassen, ein ganzes Jahr lang, im einhundertersten Jahr möchte ich meine Angelegenheiten regeln und dann werde ich bereit sein für das, was unweigerlich kommen wird." Nie hatte er dabei gelächelt, allenfalls war eine Andeutung von Schmunzeln um seinen Mund zu erkennen, so als ob er wild entschlossen wäre, das umzusetzen, was er sagte. So wie man es von ihm gewohnt war und wie er nunmehr mehr als neunzig Jahre gelebt hatte.

Sie war in dieser Frage ebenfalls wenig zurückhaltend und behauptete, sie wolle solange leben wie es gehe, aber auf jeden Fall vor ihm sterben, denn seinen Tod würde sie nicht überleben. Was wie ein Witz klang, schien ihr bitterer Ernst zu sein, denn sie hatte diese Worte immer wiederholt, jahrzehntelang, so oft man sie zu diesem Thema befragte.

Die Jahre waren vergangen und wie es in der Natur der Sache liegt, hatte sich beider Gesundheitszustand von Jahr zu Jahr verschlechtert; ein schleichender Prozess, dem sie nicht ausweichen konnten, den sie aber mit einer Gelassenheit und Würde annahmen, wie sie nur wenige alte Menschen aufbringen.

Heinrich erfreute sich bis weit in seine neunziger Jahre hinein einer erstaunlichen Gesundheit, hatte er sich doch sein ganzes Leben lang mit Gymnastik, später fernöstlichen Meditations- und Entspannungstechniken, fit gehalten und liebte es nach wie vor, Gäste zu opulenten Abendessen einzuladen und diese mit Anekdoten aus seinem an Abwechselung und Spannung reichen Leben zu unterhalten.

An einem Abend, sie hatten wieder einmal zu einem großen Dinner in ihr Landhaus eingeladen, verblüffte er ihre Gäste mit der Aussage, dass er dabei sei, eine Familiengruft im hinteren Teil des weitläufigen Anwesens errichten zu lassen, auf der Anhöhe oberhalb des Sees, und er denke daran, später selbst einmal diese Gruft zu beziehen. Ja, beziehen, sagte er immer, nicht bestattet werden, denn für ihn war das eigene Sterben ein Akt, bei dem er wie gewohnt Regie führen würde, dessen war er sich sicher und diesen Standpunkt verteidigte er hartnäckig gegen alle Argumente, wann immer die Rede darauf kam.

"Ich halte nichts davon, im Kleinen zu sterben" hatte er oft gesagt, "Sterben möchte ich wie ich lebe. Groß. Nicht so wie Dali es mit seiner Gala machen wollte. Kennt ihr die Geschichte? Dali sah, dass Gala immer weniger wurde, aufgezehrt von den Mühen eines langen Lebens und einer schweren Erkrankung. Er stellte sich vor, dass sie immer kleiner und kleiner werden würde und wenn sie so groß wie ein Olivenkern sei, würde er sie einfach runterschlucken, damit sie ein Teil von ihm wäre." Heinrich hatte laut gelacht und dabei den Kopf geschüttelt, so als sei dieser Gedanke ganz und gar abwegig.
"Nein, bei uns wird es anders werden. Erst wird Maria sterben, dann ich. So ist es abgesprochen, so haben wir es geplant und so wird es auch gemacht. Beide kommen wir in die große Familiengruft. Später folgen dann unsere Kinder."

Maria war bei seiner Rede auffallend still geblieben, was niemanden verwunderte, denn es war bekannt, dass sie die Großmannssuchtanfälle, so bezeichnete sie Heinrichs Ideen manchmal, nicht sehr schätzte und überhaupt hatte sie andere Vorstellungen vom Tod und der Art, damit umzugehen.

Die Gäste waren gegangen, in den kommenden Wochen sollten weitere Gäste kommen und gehen, die Wochen gingen vorüber und verkürzten ihre verbleibende Lebenszeit mit jeder Umdrehung der Uhr. Der Herbst neigte sich dem Ende entgegen und machte den ersten Wintervorboten Platz. Gefolgt von einem weiteren Frühjahr, dem Sommer, Herbst und Winter folgten. Unaufhaltsam, die Jahre vergingen.


In den letzten Stunden seines Lebens saß Heinrich unweit der mittlerweile fertig gestellten Familiengruft auf der Parkbank unter der Weide, eingewickelt in eine wärmende Decke, und beobachtete das Treiben auf dem großen See, in dessen Wasser sich neben Enten und Schwänen auch Frösche und anderes Getier tummelte. Aufmerksam beobachtete er wie sein Lieblingskater Bonito versuchte, sich auf einem halb in den See ragenden Baumstamm unbemerkt den Wasserbewohnern zu nähern, um vielleicht einen Frosch oder einen kleinen Vogel zu fangen. Das Ausrutschen des Katers ins Wasser, Heinrichs Aufspringen von der Bank, das Abstreifen der Jacke und sein beherzter Sprung ins kalte Wasser blieben Maria und den Angestellten verborgen. Man fand seinen leblosen, von der Seele verlassenen Körper, als man ihm seinen Fünf-Uhr-Tee bringen wollte, den er zum Abschluss seiner Stunden am See immer auf der Parkbank trank.

Letztlich war es anders gekommen, als Heinrich es sich gewünscht hatte.
Maria hatte anderes im Kopf gehabt als Familiengruft mit viel Stein und Beton. Sie ließ seine sterblichen Überreste einäschern, sie in eine Urne füllen und diese an seinem Lieblingsplatz unter der Weide am See begraben. Die Familiengruft wandelte sie in ein Taubenhaus um, aus dem sie jeden Hochzeitstag weiße Tauben aufsteigen lassen wollte.
Einen kleinen Teil seiner Asche füllte sie in das herzförmige Amulett mit der Aufschrift "siempre juntos", dass sie zum ersten Hochzeitstag von Heinrich in einem unvergesslich gebliebenen Liebesurlaub in Barcelona geschenkt bekommen hatte.

So war er immer bei ihr, direkt und diskret an ihrem Herzen bis zu ihrem letzten Atemzug im Alter von einhundertundzwei Jahren.

 

Hallo Freegrazer,

deine Geschichte hat mich berührt und ich fand sie gut geschrieben. Mir gefällt die Idee, vor allem die Pointe am Schluss, dass Maria einhundert und zwei wird. So nach dem Motto: "Das Leben lässt sich nicht planen."

Das Einzige, was ich am Text auszusetzen habe, ist, dass du manchmal sehr, sehr lange Schachtelsätze geschrieben hast. Das fand ich ein bisschen störend.

Aber ansonsten tolle Geschichte!

Es grüßt
dreamwalker

 

Hallo freegrazer,

erst einmal scheint mir hier ein Logikfehler vesteckt zu sein:

er denke daran, später selbst einmal als erster diese Gruft zu beziehen
Erst wird Maria sterben, dann ich. ... Beide kommen wir in die große Familiengruft.
Und bis zu seinem Tod liegt Maria im Kühlhaus?

und überhaupt hatte sie andere Vorstellungen
Das überhaupt passt nach meinem Empfinden nicht in den Sprachstil.

Und sonst: Jawoll, so kann es kommen, wenn man alles genau plant und auch noch von der Richtigkeit der Planungen überzeugt ist. Ich freue mich mit und für Maria, dass ihre Vorstellungen aus dem Kopf herauskommen konnten und umgesetzt wurden.

Insgesamt war die Geschichte flüssig und leicht zu lesen, hat mir Spaß gemacht, dieser Einblick in die Welt der noch Älteren. Soweit ich diese Welt aus meiner langlebigen Familie kenne: Die Menschen, die jetzt dieses hohe Alter erreich haben, haben als junge Menschen den Krieg mit seinen Begleitern Hunger und Entbehrung erlebt. Da wirken die opulenten Mahlzeiten auf mich ein wenig konträr, aber für den Prot sind sie ja ein wichtiger Teil seiner Person.

Herzliche Grüße

Jobär

 

Lieber Freegrazer,
eine schöne, in sich abgeschlossene Erzählung, wohl eher keine Kurzgeschichte. Du folgst der Logik, dass wir unseren Tod noch so gut planen können, das Leben und der Zufall entscheiden anders darüber.
Der Konflikt, den du entwickelst, besteht eigentlich zwischen den beiden Ehepartnern. Du weist ihm einen eher herrischeren Charakter zu‚

denn für ihn war das eigene Sterben ein Akt, bei dem er wie gewohnt Regie führen würde
Erst wird Maria sterben, dann ich. So ist es abgesprochen, so haben wir es geplant und so wird es auch gemacht.

Sie dagegen hält sich zurück, hat ihre eigenen Ideen, die sie nicht mit ihm teilt
Maria war bei seiner Rede auffallend still geblieben
So führst du uns hier ein Ehepaar vor, was sich im Grunde voneinander entfernt hat, weit weg ist von dem
unvergesslich gebliebenen Liebesurlaub in Barcelona
Eine in sich stimmige kleine Geschichte, ruhig erzählt - mit einem allerdings recht vorhersehbaren Ende.

Überraschend ist für mich dein sehr veränderter Stil, der mir viel besser erscheint als das, was ich von dir bisher gelesen habe.

Freundliche Grüße
barnhelm

Ps:

hatte sich Beider Gesundheitszustand
Man schreibt »beide« immer klein [Duden Regel 76]:

 

Hallo dreamwalker und jobär,

vielen Dank für eure schnelle Kritik. Hat mich sehr gefreut, euch eine kleine Freude bereitet zu haben.
dreamwalker,
ja, die Kritik mit den Schachtelsätzen kenne ich. Ich neige leider immer wieder dazu. Gut, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast; werde den Text dahingehend nochmals überprüfen.
jobär,
danke! Der Hinweis mit dem Logikfehler ist natürlich 100% richtig. Hatte ich nicht bemerkt und werde es die kommenden Tage abändern.
Mann, was kann man bei eigenen Texten betriebsblind werden! :)

Besonders gefreut hat mich bei euren Kritiken, dass ihr die Geschichte an sich gemocht habt. Ich hatte schon befürchtet, sie würde als zu seicht empfunden.
Meine Intention war es, tatsächlich eine "weiche" Geschichte zu schreiben mit einer kleinen Pointe am Schluß, ohne dick aufgetragene Rhythmenwechsel.

Liebe Grüße,

Freegrazer

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Freegrazer,

Dass er einhundert und zwei Jahre alt werden wolle

einhundertzwei wäre die deutlich schönere, korrektere Schreibweise.

Nie hatte er dabei gelächelt, allenfalls war eine Andeutung von Schmunzeln um seinen Mund zu erkennen, so als ob er wild entschlossen wäre, das umzusetzen, was er sagte.

Ja, wo denn sonst, wenn nicht um den Mund? Das kannst Du weglassen.

Gäste zu opulenten Abendessen einzuladen und diese mit Anekdoten aus seinem an Abwechselung und Spannung reichen Leben zu unterhalten.

Besser: abwechslungs- und spannungsreichen Leben; an dann weglassen.

An einem Abend, sie hatten wieder einmal zu einem großen Diner in ihr Landhaus eingeladen

Ein Diner ist ein amerikanisches Restaurant; Du meinst sicher Dinner.

Unaufhaltsam, die Jahre vergingen.

Das wirkt zu poetisch, passt nicht so recht zum Stil. Besser den Satz ganz normal schreiben: Unaufhaltsam vergingen die Jahre.

Maria hatte anderes im Kopf gehabt als Familiengruft mit viel Stein und Beton.

Fehlt da nicht ein Wort?

Ansonsten kann ich mich meinen Vorrednern nur anschließen. Eine nette Geschichte, ließt sich flüssig und angenehm. Der ein oder andere Satz ist zwar zu lang geraten, geht aber in Ordnung.

Alles in Allem: Gern gelesen.

Beste Grüße
gibberish

 

Hallo Freegrazer,

das ist eine gute Geschichte. Sauber geschrieben. Mir gefällt besonders der Absatz: „Die Gäste waren gegangen, in den kommenden Wochen … bis Unaufhaltsam, die Jahre vergingen.“ - da hast Du das Vergehen der Zeit erzähltechnisch sehr gut eingebaut.

Auch der überraschende Tod kommt gut als Metapher über das eben doch nicht Planbare ;).

Sehr gern gelesen, Danke, nastro.

 

Hallo gibberish224,

vielen Dank für deine zahl- und hilfreiche Kommentare!
Besonders für das hier: "Einhundertundzwei". Die Geschichte ist bereits ein paar Tage alt und ich hatte sie nicht nur als Datei "Einhundertundzwei" genannt, sondern im Text auch geschrieben.
Heute morgen vor dem Einstellen hat mir dann die Rechtschreibprüfung gemeldet, "Einhundert und zwei" zu schreiben. Dem bin ich dann gefolgt. Prima, jetzt wird es wieder zurückgeändert und das gefällt mir deutlich besser.

Nostroazzuro,
dir auch ein herzliches Dankeschön, dass du die Geschichte gerne gelesen und für gut befunden hast! Freut mich sehr!

Viele Grüße

Freegrazer

 

Hallo Freegrazer,
deinen Einstieg finde ich sehr gut, ich mag es, wenn man direkt in die Geschichte gezogen wird. Ich persönlich kann Heinrich und Maria gut verstehen, ich kenne das, wenn man sich genaue Gedanken darüber macht, wie alt man werden möchte. Das ist wahrscheinlich der Versuch, der Hilflosigkeit entgegenzutreten, die das Thema Tod bei manchen auslöst (mich nicht ausgeschlossen). Dass aber trotzdem meistens vieles anders kommt, als man denkt, ist aber eigentlich gut so und macht das Leben ja auch aus.

Sie war in dieser Frage ebenfalls wenig zurückhaltend und behauptete, sie wolle solange leben wie es gehe, aber auf jedem Fall vor ihm sterben, denn seinen Tod würde sie nicht überleben.
Bis auf den kleinen Tippfehler ("aber auf jeden Fall"), finde ich den Satz toll. Hier wird in wenigen Worten so viel gesagt. Über Maria, ihre Entschlossenheit und ihre Gefühle Heinrich gegenüber.

An einem Abend, sie hatten wieder einmal zu einem großen Diner in ihr Landhaus eingeladen, verblüffte er ihre Gäste mit der Aussage, dass er dabei sei, eine Familiengruft im hinteren Teil des weitläufigen Anwesens errichten zu lassen, auf der Anhöhe oberhalb des Sees, und er denke daran, später selbst einmal als erster diese Gruft zu beziehen.
Diesen Satz finde ich ein wenig lang und verschachtelt. Vielleicht lässt er sich auch in mehrere Sätze gliedern, damit es sich flüssiger liest?

Das wiederum:

Ja, beziehen, sagte er immer, nicht bestattet werden, denn für ihn war das eigene Sterben ein Akt, bei dem er wie gewohnt Regie führen würde, dessen war er sich sicher und diesen Standpunkt verteidigte er hartnäckig gegen alle Argumente, wann immer die Rede darauf kam.
finde ich sehr schön.

Genauso hier:

Die Gäste waren gegangen, in den kommenden Wochen sollten weitere Gäste kommen und gehen, die Wochen gingen vorüber und verkürzten ihre verbleibende Lebenszeit mit jeder Umdrehung der Uhr. Der Herbst neigte sich dem Ende entgegen und machte den ersten Wintervorboten Platz. Gefolgt von einem weiteren Frühjahr, dem Sommer, Herbst und Winter folgten. Unaufhaltsam, die Jahre vergingen.
Sehr guter Zeitraffer.

Und auch das Ende der Geschichte gefällt mir - gleichzeitig traurig und rührend.

Viele Grüße
RinaWu

 

Hola Freegrazer,

ich gratuliere Dir zu Deiner sehr gelungenen Geschichte. Das ist doch mal was!
Da stimmt einfach alles.
Ehrlich gesagt musste ich sie zweimal lesen. Nicht, dass ich sie beim ersten Mal nicht verstanden hätte, sondern Deines - für mein Empfinden - neuen und ungewohnten Stils wegen. Da brat’ mit einer einen Storch; der mir bislang bekannte Freegrazer schrieb anders.

Da hast Du einen ordentlichen Sprung nach vorn gemacht. Auch der Plot ist klasse, lebensnah und trotzdem ein bisschen philosophisch – richtig gut.

Da mitzuhalten, dürfte nicht einfach sein! Aber Sportsgeist ist ja was Positives.

In diesem Sinne, mein Lieber, und alles Gute weiterhin!
War mir eine Freude, Deine Geschichte zu lesen.

Joséfelipe

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Barnhelm,

danke für deine Kritik, die ich zwar gelesen und verinnerlicht, leider aber nicht beantwortet hatte. Sorry!
Ja, ob sich die beiden voneinander entfernt haben ist nicht so sicher. In Lebensauffassungen sicherlich, in der Liebe an sich: Nein! Ich bin aber froh, dass rüberkam, dass Heinrich einen herrischen Charakter hat. Das hatte ich so beabsichtigt.

Überraschend ist für mich dein sehr veränderter Stil, der mir viel besser erscheint als das, was ich von dir bisher gelesen habe.

Das finde ich interessant. Eines meiner "Hauptprobleme". Für Geschichten wie "Einhundertundzwei Lebensjahre" musste ich schon Bemerkungen wie "zu seicht" oder "zu nah am Kitsch" einstecken. Der andere Sprachstil, klar, mag nicht jeder. Interessant für mich, ich schwanke von Geschichte zu Geschichte. Ob ich je "meine Sprache" finden werde?

Vielen Dank Dir nochmal,

Freegrazer

 

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