Einfach kein Platz...
Franco biss sich auf die Lippe und kostete den winzigen Tropfen Blut, der langsam aus der Wunde träufelte. In diesem Moment musste er es einfach wissen, er musste wissen, wie sich dieser Schmerz anfühlt und wie seine wichtigste Körperflüssigkeit schmecken würde. Sie schmeckte scheußlich.
Er hörte den Regen, wie er gegen die Scheiben pochte und dieses Lied spielte, von dem er sich vorstellte, dass es eigens für ihn komponiert wurde, um seiner Stimmung zu entsprechen, um ihn in irgendeiner Weise zu beeinflussen, irgendwann das 'richtige' zu tun.
Er wand sich müde aus dem Bett, setzte sich auf und sah an die weiße Wand. Leere. Gesprenkelte Leere mit leichten Furchen, einem kaum wahrnehmbaren Relief. Das Leben? Sein Leben? Das Leben aller Menschen dieser Erde, vereint in dieser einen Tapete, irgendwo in einem kleinen Haus in einem unbedeutenden, kleinen Ort, abseits der tobenden Zivilisation?
Quatsch.
Langsam floss Kraft in seine Beine und er ging langsam, aber immer noch in schläfrigen Gedanken, durch die Tür ins Badezimmer. Das helle Licht blendete seine Augen, so wie der Morgen seine Seele. Er würde lange brauchen, um vollständig aufzuwachen, denn oftmals wünschte er sich, ewig
zu schlafen, ewig zu träumen. Er müsste sich niemals der Realität aussetzen, ihr niemals mit aller Kraft entgegentreten, sie niemals in irgend einer Weise auslegen, die ihm nicht gefiel, die seinem Gefühl nicht entsprechen wollte.
Nachdem sich seine trüben Augen an dem verschwommenen Gesicht im Spiegel satt gesehen hatten, wodurch sich seine Stimmung nicht gerade verbesserte, ging er durch den Flur und durch die Haustür. Er stellte sich im Pyjama mitten in den Regen, mitten auf die Straße. Seine Arme schwebten nach oben, wollten den Himmel berühren. Sein Gesicht wand sich langsam von einer Seite zur anderen, um jeden Tropfen vollständig in sich aufzunehmen.
Er war eine Vogelscheuche in der Hölle.
Das waren keine guten Gedanken. Allmählich sank er zusammen, kauerte sich auf den Boden. Das Gewitter wurde stärker, ringsum schlugen Blitze ein und die Straße schien durch den gewaltigen Donner zu vibrieren. Das Wetter richtete sich nach ihm, es richtete sich nach seiner Stimmung... es gehorchte ihm... er war es, er war das Wetter, das ihn in diesem Moment umgab.
Sonnenschein hatte er schon lange nicht mehr gesehen an diesem Ort.
Jeder Blitz, der auf die Erde schoss, liess seinen Körper erzittern und ihn ein Stückchen weiter in den harten Asphalt der Strasse einsinken.
Würde er so weitermachen, könnte er irgendwann den Mittelpunkt der Erde erreichen. Immer tiefer. Immer weiter. Immer fester. Immer mehr. Mehr! Mehr! Mehr!
Er bildete sich Dinge ein, die nicht existierten.
Das war seine Bestimmung.
Es war sein Leben.
Er öffnete seine Augen und sah an die kahle Decke des Zimmers, in dem er die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte. Er schloss sie wieder und öffnete sie erneut. Immer noch die Decke. Noch einmal. Wieder dasselbe. Er würde diesem Ort niemals entfliehen können, immer würde er hier gefangen sein, in seiner eigenen kleinen Welt, seinen eigenen trostlosen Gedanken, seiner tiefschwarzen und äußerst anfälligen Seele.
Der Alltagstrott würde in wenigen Stunden wieder über ihn hereinbrechen und ihn wiederum gefangennehmen und durch ein Leben leiten, das genau dem Leben entsprach, das er sich für sich bereitgelegt hatte. Doch da war kein Platz mehr für das andere, für all das andere... was die anderen Menschen glücklich macht, was ihnen Freude und Erfüllung bringt. Täglich. Stündlich. Manchmal in jeder Sekunde. Es war nichts da. Es war kein Platz.
Einfach kein Platz...