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Einfach fort?
Er hatte sich nicht vorstellen können, sich von ihr zu verabschieden, nicht freiwillig. Und nun tat er es doch. Wie sie jetzt so vor ihm stand, eingewickelt in ihre Jacke, auf der die Schneeflocken nicht mehr schmolzen, zerriss es ihn fast. Wenn er zu irgendeinem Zeitpunkt geglaubt hatte seine Gefühle kontrollieren zu können, so spürte er jetzt, da er gehen musste, gehen wollte, umso stärke die Liebe, die er für sie empfand, wie ein verzehrendes Feuer, eine Hitze, die wie ein kleiner Ofen, aufgestellt irgendwo in dieser kalten Landschaft, dem beständig flüsterndem Winter trotzte und sich als glühender Schein auf seine Wangen legte. Er hatte die Kontrolle verloren. Er weinte und er schämte sich dafür.
Er versuchte sie nicht anzusehen, doch er vermochte es nicht. Ihr Blick war seine Fessel, viel zu lange schon. Wie sollte sie jemals begreifen, dass sie für ihn einzigartig war? Sie sah gewöhnlich aus, sie sprach und verhielt sich gewöhnlich, doch eben nicht für ihn. Und hier standen sie sich gegenüber, wie an einem Scheideweg, und sie schaute ihn an. Ein Gesicht, das forsch aus dem Fellrand ihrer Kapuze herauswuchs, ein wunderschönes Gesicht! Doch ihr Mund blieb stumm. Ihre Augen, zwei schwarze, funkelnde Obsidianperlen in einem braunen Kleid, voller Lebendigkeit und Nähe, und doch fern und ungebunden, bemühten sich nun sogar um Distanz. Doch sie schafften nur noch einen neuen Knoten auf den Letzten. Er würde sie niemals vergessen können.
Er bemerkte, wie sich seine rechte Hand zu ihrem Kopf mühte, langsam, wie die verunsicherte Hand eines Diebes aus Not, sie war kalt und schwer wie ein nasses Stück Holz. Gehörte sie zu ihm? Er wollte sie in ihren Nacken legen, und mit seiner Stirn kurz ihre berühren, wie er es schon so oft versucht hatte, doch sie wehrte ab, ein letztes Mal, voller Leichtigkeit, sachgemäß elegant, und dies tat sie so sanft, als würde sie ihn dabei streicheln.
Seine Tränen versiegten plötzlich, er löste die Fesseln, erlöste sich, und seine Augen wanderten an ihr herab, bis sein Blick an ihren Schuhen haften blieb. Er konnte nicht gänzlich wegsehen, noch nicht. Sie aber sah ihn immer noch an. Er merkte, wie ihre Blicke an ihm klebten, suchten, vielleicht nach der Antwort auf die nicht gestellte Frage warum willst du fort? Doch sie sagte nichts. Zu viele Menschen hatten sie schon verlassen, und mit jedem Weiteren verloren deren Gründe für sie an Belang.
Ihm war jetzt bitterkalt. Irgendwo pfiff der Wind in seinen Mantel. Er zupfte an seinem Schal und trat auf der Stelle, doch das nützte nichts, denn ihm blieb kalt. Die Hitze auf seinen Wangen war erloschen. Der frische Schnee unter seinen Schuhen quietschte. Er war wie erfroren.
Dann streckte sie ihre Hand aus, schwebend und starr, wie die Eiskristalle die vom Himmel fielen, und sie berührte seinen Arm. Und als wäre seine Bewegung die Fortführung ihrer, noch im gleichen Moment, als ihre Hand auf ihn traf, hob er wieder seinen Kopf, wehrlos und ausgeliefert. Ihre Augen waren jetzt groß und traurig. Ganz so, als hätte sie begriffen, was er sagen wollte, wortlos. In diesem Moment wurde ihm wieder bewusst, dass wenn er gleich ginge, sein Herz einfach bei ihr bliebe.
Er kannte sie jetzt schon einige Jahre, zu lange für eine einfache Freundschaft, denn er war ihr vom ersten Moment an verfallen. Und sie, mit ihrer Wesensart die Nähe und Distanz gleichsam vermittelte, war es nicht. Er hatte sich gewehrt, sich verachtet, über sich selbst gelacht, all die Zeit hinweg, hatte sich verbogen und sich stetig belogen. Du bist stark, du schaffst das! Sie haben zusammen gespielt, gelacht, sind ausgegangen, haben gesungen, und mit jedem Detail, das er an ihr entdecken durfte, und welches sie zu einem Wunder aus Myriaden von Details werden ließ, einem herzlichen Bild völlig komplementärer Natur, wurde alles umso schwieriger für ihn. Doch für sie war er nie mehr, als ein Freund. Er wusste es. Er spürte es in ihren Blicken, in ihrer Körpersprache, und ihre Signale ließen ihn außer Zweifel. Signale. Verzweifelte Zeichen unausgesprochener Begebenheiten. Dabei hatten sie doch so viel gemeinsam. Sie konnten sich in stundenlangen Gesprächen ihren Weisheiten ergeben, sie halfen sich bei allem, was vernünftig erschien, und sie konnten verrückt und ausgelassen sein wie Kinder, und eben diese Nuance war es, die ihn fast um den Verstand brachte. Sein inneres Kind schrie nach ihr, und seine Arme suchten sie nachts im Schlaf.
Und jetzt standen sie sich hier gegenüber, und er wusste noch gar nicht so recht, wie er es schaffen sollte. Wie sollte er gehen können, wie sollte er ihr Lebewohl sagen? Aber was er noch weniger wusste war, wie er es schaffen sollte, bei ihr zu bleiben. Er wünschte sich sie würde ihn erlösen, sie zöge ihn zu sich ran und sagte: Tu es nicht, doch auf ähnliche Gefühlsregungen hatte er schon viel zu lange gewartet, und in diesem Zusammenhang war ihm die Bedeutung des Wortes Hoffnung abhandengekommen. Sie teilte nicht sein Gefühl von Mann und Frau. So einfach konnte das sein. Und je einfacher so etwas war, umso schwieriger war es, zu verstehen. Er hatte immer nach einer Hintertür gesucht, doch er fand sie nicht. Sie liebte ihn nicht, und das war für sie genau so natürlich wie für ihn, sie zu lieben.
Und darum musste er jetzt gehen. Er konnte sie nicht mehr ansehen, ohne sie in den Arm nehmen zu dürfen, er konnte nicht mehr bei ihr sein, ohne seiner Liebe Ausdruck zu verleihen. Es wäre gut zu gehen. Vielleicht ginge ja dann auch die Liebe, die ihn so sehr plagte.
„Was ist mit dir?“
Sie zerriss die Stille. Die warme Luft ihres Atems wallte auf ihn zu und bohrte sich noch viel tiefer in ihn hinein, als ihr Blick.
„Ich liebe dich entsetzlich, und darum ist es eine Qual. Du bist mir so nah, und doch bist du so fern. Ich muss gehen, ich muss.“
Das war alles, was er sagte. Und da wusste sie bescheid. Sie würde ihn nicht aufhalten, auch wenn sie das eigentlich wollte. Sie hatte schon immer geahnt, was ihn plagte, und auch wenn sie es über all die Jahre erfolgreich verdrängt hatte, konnte das nichts daran ändern. Sie würde jetzt einen Freund verlieren, er würde sich umdrehen und einfach gehen. Der Gedanken daran machte sie traurig. Sie würde ihn vermissen. Er würde ihr richtig fehlen. Auch sie begriff, was gerade passierte, was schon längst hätte passieren können, doch was niemand von ihnen richtig gewollt hatte. Er verließ sie, nicht, weil sie würdig wäre, verlassen zu werden, sondern weil er sie so sehr liebte.
Tränen rollten wieder aus seinen Augen, den Nasenrücken entlang, bis sie von ihrer Spitze tropften. Da war sie wieder, diese Hitze. Und wo nahm er die Kraft her? Was steuerte jetzt seine Bewegungen? Sein Wollen war es nicht, sein Verstand entfernte sich und der Moment war da. Leere in ihm, Leere, die er nutzte. Sie wollte gerade noch etwas sagen, da drehte er sich um und ging. Er stapfte auf den Bach zu und überquerte ihn mit einem gewaltigen Sprung. Dahinter lag ein weites, eisiges Feld. Der Boden war hart gefroren. Er setzte einen Fuß vor den anderen. Er weinte jetzt wie ein kleines Kind. Und so sehr er auch gehofft hatte, sie rufe ihm hinterher, so wenig war von ihr zu hören. Sie stand nur da und blickte ihm nach. Sah ihn ein letztes Mal mit tapferen wankenden Schritten durch die Feldnabe ziehen, und in dem Moment spürte sie, dass er ihr noch nie so nahe gewesen war wie jetzt. Warum musste er gehen? Wo ging er hin?
Er wusste nicht, wo er hinging. Das war auch nicht wichtig. Er ging fort, das war, was gerade passierte. Er ging fort.
Erst als er weg war, rief sie seinen Namen, erst als seine kleine Silhouette sich mit dem braun und schwarz der schlafenden Bäume des nahen Waldes verband, hatte sie ihre Lähmung überwunden. Nein, er durfte nicht gehen, einfach so, einfach fort? Sie rannte ihm nach, hetzte über den Bach, dessen Eisfläche knirschend hielt, lief das Feld entlang, stolpernd, hinauf zum Fluss, dort, wo sie so viel Zeit mit sich selbst verplempert hatten, mit dummen Spielereien und albernen Plänen. Und als sie keuchend und außer Atem den Waldrand erreicht hatte, lief sie langsam, bis sie schließlich ging, erschöpft, denn sie wusste, er würde dort sein, an der Biegung des Laufes, unter der Brücke, Abschied nehmen von diesem Platz, von ihren Wegen und Wünschen.
Als sie ihren Platz erreichte, hörte sie ihn weinen, still und irgendwie tapfer. Sie verließ den breiten Pfad, und als er sie bemerkte, als er hörte, dass sich ihm jemand näherte, stoppte er abrupt, doch er nahm sein Gesicht nicht aus dem schützenden Dunkel seiner Armbeuge empor. Und dennoch lauschte er, folgte den knirschenden Schritten, mit seinen Ohren, und so sehr er sich wünschte, es wäre sie, so sehr hatte er gehofft sie wäre es nicht.
Er spürte einen Körper, der sich neben ihn hockte, spürte einen Arm, der sich um seine Schultern legte, doch seine Armbeuge verließ er auch jetzt nicht. Er spürte ihren Kopf ganz nahe an seinem. Die Wärme ihres Armes schauderte ihm bis ins Herz. So hockten sie da, still, als wären sie aneinander gewachsen, minutenlang, Minuten, die wie Monate erschienen, bis sie schließlich sagte:
„Ach scheiß doch drauf, komm wir gehen nach Hause.“
Und sie standen auf und gingen. Nebeneinander, berührungslos.
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