Eines Vaters Sohn
Er wusste nicht wie spät es war. Fakt war, dass er zu allererst seinen Arm aufwecken musste. Das taube Ding, welches wie ein Fremdkörper von seiner Schulter baumelte, machte ihm schon seit einiger Zeit zu Schaffen. Mit Hilfe der anderen Hand schüttelte er diesen sinnlos anmutenden Auswuchs, wie ein Kind den Sand aus dem Ärmel. Im Bad angekommen, sollte ein Schlag kalten Wassers ins Gesicht, sein Bisschen Alltagsstruktur wieder freischaufeln. Dann wird es schon. Er schaute in den Spiegel. Alt ist er geworden. Wangen und Mundwinkel schlabbern, ähnlich wie ein alter Stoffbeutel, welk aus seinem Gesicht, woran sich nun die Wassertropfen entlanghangeln. Strähnenhaft hängen die buschigen Brauen in die Augen und auch dort tropft es. Und dann noch sein schrecklich faltiger Hals.
Gott wie er ihn hasste. Den Hals seines Vaters, der nach seinem Schlaganfall mit jedem Wutausbruch hin und her schlackerte. Und wie er selbst, dies mit einer Mischung aus Ekel und Verachtung beobachtete. Nie wollte er so werden. Doch nun diese schrecklichen Falten.
Nachdem er sich die restlichen Tropfen aus dem Gesicht gewischt hatte, sah er nochmal genauer hin.
„Es ist nur das Aussehen. Mehr nicht. Schließlich ist er seines Vaters Sohn. So ist es dann eben“
Von draußen drang dieser unerträglich lärmende Alltag dieser vielen unerträglich wuselnden Menschen, durch das offene Fenster in sein einzelliges Dasein ein. Er bedeckte den runzligen Stamm, der seinen Kopf trug, mit dem schaumigen Pinsel.
Kaum zu glauben, mit wie viel Geduld er den Jähzorn seines Vaters ertragen hatte. Dessen launischen Eskapaden, mit denen er, aus seiner Unzufriedenheit über sich selbst, alle anderen demütigte. Manchmal, ganz heimlich, hatte er ihm einen Unfall mit dem Rasiermesser gewünscht, welches er nun als Erbstück in der Hand hielt.
Nach kurzer Betrachtung zog er es, wie einen Schneeschieber vom linken Ohr, bis genau zur Hälfte des Kinns. Mit jeder stoppelbefreienden Bahn, die das Messer über die Kehle zum Kinn hinaufzog, sagte er sich.
„Es ist nur das Aussehen“
Von seinem eigenen Sohn hatte er seit Jahren nichts mehr gehört. Es war ein anstrengendes Kind. Nicht von dieser Art anstrengend, wie es die Lebhaften sind, die immer zappeln, und wenn ihnen etwas nicht passt, anfangen zu schreien wie am Spieß. Nein, dieses Kind war von der zurückhaltenden Sorte, die einem, wenn auch nur unbewusst, den stillschweigenden Vorwurf ins Gesicht pressen. An dem man zu ersticken droht.
Es war der schlimmste Tag seines Lebens, als ihm die Frau, die er liebte, sagte, dass sie schwanger sei. Als er das arme Würmchen in dem Glaskasten sah, wusste er, dass sein Leben, wie er es kannte, vorbei war. Viel zu früh kam das Kind auf die Welt. Am liebsten wäre er ins Nichts verschwunden. Nur dazu war er zu pflichtbewusst. Hatte es ihm sein Vater doch mit dem Gürtel so beigebracht. Als Mann habe er nun mal zu seinen Taten stehen. Und das solange, bis er irgendwann größer war und wusste wie man sich wehrt. Nie hatte er seinen Sohn geschlagen. Was nicht immer einfach war. Manchmal hatte er geradezu auf eine Provokation gewartet, die einen Schlag in das vorwurfsvolle kleine Rotzgesicht dieses Kindes begründet hätte. Egal wie unerträglich es oftmals war, dazu kam es nie.
Und nun diese schrecklichen Falten am Hals, die einen dazu zwangen die Haut am Übergang zum Kinn, wie ein Spannbettlaken glatt zu ziehen, um die Barthaare zu entfernen.
Er musste sich um dieses Kind kümmern. Die Mutter schien dazu nicht in der Lage. Sie wollte weder ihn noch das Kind. Nur wusste sie selbst nicht was sie überhaupt wollte. Der Kleine war noch nicht einmal aus dem Gröbsten raus, als sie zu studieren begann und jeden Abend wegblieb. Eines Tages kam sie gar nicht mehr. Danach ging es los. Das Kind litt seinen stummen Schmerz. Jeden Tag saß es mit seinem Teddy vorwurfsvoll und leidend in der Wohnzimmerecke der kleinen Zweiraumwohnung, die er sich gerade so leisten konnte. Den eigenen Schmerz konnte er nur mit Wein kurieren. Der beförderte ihn, wenigstens für ein paar Stunden, bei Musik und mehreren Schachteln Zigaretten in eine andere Welt, bevor ihn dieses Kind in die Wirklichkeit zurückholte. Und das alles nur wegen dieser Frau.
Zur Trennung kam die Arbeitslosigkeit. Das Kind zog er mit viel Anstrengung auf. Der Junge hatte inzwischen das Sprechen gelernt, was die Situation trotzdem nicht verbesserte, weil er ihm nach wie vor noch alles aus der Nase ziehen musste. Kaum zu glauben, dass er inzwischen selbst Frau und Sohn hatte. So Stur wie er war. Später in der Schulzeit kam er dann immer nur mit mittelmäßigen Leistungen nach Hause, wobei er jedes Mal uneinsichtig war und dann ohne Abendessen ins Bett gesteckt werden musste. Immerhin konnte er sich dann wieder seinem eigenen Schmerz widmen.
Eigentlich hatte er es wissen müssen. War es ihm mit seiner Mutter doch nicht anders ergangen. Diese Frau, die er als Kind zwischen den Wäscheleinen auf dem Dachboden gefunden hatte, anstatt sich einfach zusammen zu reißen. Jeden Tag hatte sie wenigstens einmal geweint. Geliebt hatte sie seinen Vater schon lange nicht mehr. Aber das war doch kein Grund, ihn und seinen Vater im Stich zu lassen. So etwas tut man einfach nicht. Da war er sich mit seinem Vater einig.
Er wusch sich den restlichen Schaum aus dem Gesicht und trocknete sich ab. Wie gut er damals aussah. So rasiert. Der schlanke Hals. Das schmale Kinn. Die blonden, leicht gelockten Haare und die geschwungenen Lippen, um die ihn jede Frau beneidete. Das bisschen Ähnlichkeit, dass er seinem Sohn vermacht hatte, war inzwischen nur noch schemenhaft zu erkennen. Wobei er selbst wesentlich athletischer gewesen war.
Als Jugendlicher war sein Sohn nur ein langes schlaksiges Elend, dass in seinem Zimmer vor sich hin siechte. Das gehört wohl zum Älter werden dazu, dass man die Jugend einfach nicht versteht. Nach seinem Schulabschluss machte der Junge eine Konditorausbildung und in dem Rest der Zeit schlief er. Das hätte er sich bei seinem Vater nicht erlauben können. Er war nie so faul gewesen. Aber so kam wenigstens ein bisschen Geld rein, wodurch sie sich eine etwas größere Wohnung leisten konnten und der Junge ein eigenes Zimmer. Wenigstens konnte er sich bei dem Anblick dieses Jugendlichen sicher sein, dass er auch wirklich der Vater war. Zumindest was den Hals, das Kinn und den Mund betraf.
Das Rasiermesser reinigte er sorgfältig, trocknete es ab und legte es in das dafür vorgesehene Ledermäppchen zurück. Er strich über das abgegriffene Leder. Vielleicht sollte er es seinem Sohn vermachen. Aber warum eigentlich?
Er griff nach der Zahnpastatube und drückte sich einen erbsengroßen Klecks auf die Bürste, wie es ihm sein Vater immer und immer wieder gezeigt hatte.
Damals als die Tuben noch aus Aluminium waren und aufzuplatzen drohten, wenn man in der Mitte draufdrückte, weshalb die Zahnpasta nur von hinten nach vorn auf die Bürste gestrichen werden durfte. Nie hatte er es richtig gemacht, sodass sein Vater immer, so wie bei allem anderen Dingen, hinter ihm stand und ihm. Wenn es nicht zu seiner Zufriedenheit war, bekam er einen Kniff in den Oberschenkel. Dem Jungen hätte er das niemals angetan.
Synchron zu seinen Putzbewegungen waberten kreisend die Falten. Nie wollte er so werden. Es ist nur das Aussehen. Er zog durch die Nase hoch und spuckte den ganzen Frust ins Waschbecken.
Dieser inzwischen fremde Mann meldete sich einfach nicht mehr. Wie viele Jahre hatte er sich um ihn gekümmert. Sein ganzes Leben hatte er für dieses Kind geopfert, um dann von ihm im Stich gelassen zu werden. Nicht einmal seinen Enkelsohn hatte er kennen lernen dürfen. Das hätte er seinem Vater niemals angetan, egal wie sehr er ihn verabscheute.
Er spülte den Mund ein zweites Mal aus. Als er mit dem noch flaumigen Kopf wieder hochkam, musste er sich kurz mit dem Unterarm gegen die Wand lehnen. Der morgendliche Schwindel ist zur Alltäglichkeit geworden, wobei der linke Arm ihm beim Abstützen nicht mehr behilflich sein konnte. Mit kurzen Luftstößen griff er kurzerhand nach dem Ledermäppchen. Dann ging er an seinen Schreibtisch, wo Rotwein und Aschenbecher standen, und nahm einen Briefumschlag aus der Schublade. Doch bevor er zum Stift griff füllte er noch ein letztes Mal das Weinglas, indem sich sein Hals spiegelte.
„Es ist nur das Aussehen. Ich bin halt meines Vaters Sohn.“