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Eines Nachts um halb zwei
Mit vor Müdigkeit brennenden Augen hatte ich Mühe, wach zu bleiben. Katja auf dem Fahrersitz konzentrierte sich auf die nächtliche Straße. Ich sehnte mich nach der Gemütlichkeit meines Zuhauses.
"Du kannst auch bei uns übernachten", schlug sie zum zweiten Mal vor. Ich zog es in Erwägung, denn es bedeutete eine kürzere Fahrtzeit und dass ich somit schneller meinen Schlaf bekommen würde, doch ich sehnte mich zu sehr nach dem eigenen Bett, um anzunehmen.
"Danke. Setz mich einfach hier an der S-Bahn-Station ab."
"Bist du sicher?" Sie schlug den Weg in die Straße vor der Bahnstation ein. "Mir ist nicht wohl dabei, dich hier alleine stehen zu lassen."
Ich unterdrückte ein Lachen. "Mir passiert nichts. Hier ist doch niemand." Es war ja keiner da, um mich zu überfallen.
"Ja, eben", erwiderte sie in eigener Logik. "Möchtest du hier im Auto warten, bis der Zug kommt?"
Wenn ich schon unbedingt nach Hause wollte, konnte ich es nicht über mich bringen, sie von ihrem eigenem Heim fernzuhalten. "Nein, danke."
"Dann schreib mir wenigstens eine SMS, wenn du heil zu Hause angekommen bist, damit ich ruhig schlafen kann."
Von mir aus. Ich versprach es und stieg aus, winkte zum Abschied, dann suchte ich den Fahrplan und wartete auf den Zug. Es war fast leer, nur auf dem anderen Bahnsteig saß ein Mann, der mit seinem Smartphone beschäftigt war und mich nicht beachtete. Kein Grund zur Sorge.
Ein junges Paar kam durch den Bahnhof heran, das in einen Streit verwickelt war. Er verlangte: "Gib mir den Schlüssel!"
Sie erklärte: "Ich habe den Schlüssel nicht."
Er wiederholte.
Sie wiederholte.
Die Müdigkeit verflog, als ich ihre Auseinandersetzung verfolgte. Würde der Streit eskalieren? Es wäre meine Pflicht, einzugreifen, doch schon bei dem Gedanken daran, wie ich einschritt und fragte, warum er glaubte, sie hätte seinen Schlüssel, stieg mein Puls. Wenn sie um Schlüssel stritten, mussten sie einander gut kennen. Ich sollte mich nicht einmischen.
Sie bewegten sich durch die Unterführung zum anderen Bahnsteig. Dort wurden sie lauter: "Gib mir endlich den Schlüssel!"
"Ich habe ihn nicht, ich habe nur den Schlüssel von meinen Eltern."
Das Mädchen klang den Tränen nahe.
Jeden Moment konnte es nötig werden einzugreifen, doch ich war so weit weg auf meinem Bahnsteig, ich wäre nicht rechtzeitig da. Der Mann dort ist viel näher, er sollte was tun. Aber er saß weiterhin ungerührt an seinem Platz. Das bedeutete wohl, dass er keine Notwendigkeit sah, dass die Situation im Rahmen war, also sollte ich auch nichts unternehmen.
Es wurde ruhig. Das Paar setzte sich auf eine Bank, weit entfernt von dem anderen Mann. Der Junge redete beruhigend auf das Mädchen ein.
Na also, es war wieder alles in Ordnung, es gab keinen Grund zur Sorge. Dies würde eine ereignislose Heimfahrt werden wie jedes Mal. Viele Paare stritten sich, ohne dass irgendwas passierte.
Kurz darauf erhoben sie sich und stiegen Arm in Arm die Treppe hinunter in den Bahnhof. Sie kamen im Gang vorbei, das Gesicht des Mädchens verzerrt von Kummer und Anspannung. Sie waren bestimmt genauso müde wie ich, da lagen die Nerven manchmal blank, verständlich. Morgen sieht die Welt wieder anders aus.
Aus den Gedanken an das warme Bett riss mich der panische Schrei des Mädchens. Ich stürmte ihnen nach - es lag doch an mir, Zivilcourage zu zeigen.
In der Parkbucht liefen die beiden um die Säulen des Vordachs herum, der Junge hinter dem Mädchen her, das rückwärts vor ihm davonwich und verlangte: "Lass mich in Ruhe!" Dabei warf sie die Arme nach vorne, als wollte sie ihn wegstoßen.
Außerdem waren der Taxifahrer und eine ältere Frau gekommen. Ich war nicht alleine. Vielleicht konnte ich ihnen den Einsatz überlassen und mich zurückziehen.
Der Junge hob beschwörend die Hände, aber schrie sie an, während er hinter ihr herkam: "Lass nach Hause gehen, Schatz, lass uns einfach nach Hause gehen!"
Ein Taxi stand in der Parkbucht links von mir, die Front in meine Richtung. Der Taxifahrer näherte sich den Jugendlichen von einer Seite, eine ältere, dicke Frau von der anderen, um die beiden zu trennen. Der Taxifahrer befahl dem Mädchen, in den Wagen zu steigen. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, während sich die Erwachsenen mit dem Jungen beschäftigten. Das Mädchen ließ die Tür weit offen stehen.
Halb erleichtert zogen meine Gedanken zurück zum Zug, der bald kommen musste. Auch ohne mich war alles gut gegangen. Es war nicht nötig, mich in Gefahr zu bringen, um mich zu beweisen - vielleicht nächstes Mal. Ich war theoretisch bereit, aber es musste ja nicht heute sein.
Ein Aufschrei. Der Junge lief los, hinten um das Taxi herum zur offenen Beifahrertür. Begann, mit beiden Händen auf das Mädchen einzuschlagen.
Plötzlich gab es nur noch mich, mein Einsatz. Ich war am dichtesten dran, stürmte auf den Jungen zu, um die Beifahrertür herum. Sah mich, wie ich ihn von dem Mädchen wegzog, von hinten an der Nase. Ich wollte keine Rache, er sollte nur aufhören.
Doch bevor ich ihn erreichte, ließ er von dem Mädchen ab. Einen Schritt von dem Taxi entfernt streifte er meine Jacke und ich ließ ihn ziehen ohne nach ihm zu greifen. Zwei Sekunden lang hätte ich ihn festhalten können, bevor die Erwachsenen ihn erreicht und in die Mangel genommen hätten. Aber nein, so genügte es mir. Ich sagte dem weinenden Mädchen, es sei in Sicherheit, dann schloss ich endlich die Tür. Der Junge flüchtete die Straße hinunter.
Der Taxifahrer griff ein Telefon, um die Polizei zu rufen.
Ich fragte, ob ich bleiben solle, ob sie meine Zeugenaussage brauchten oder so. Die Frau fragte: "Wozu? Er ist doch weg."
Sie öffnete wieder die Beifahrertür und begann auf das Mädchen einzureden. "Das ist mein Freund", antwortete dieses schluchzend.
Meine Aufgabe war damit erfüllt und ich ging zurück zum Bahnsteig. Mein Zug kam zehn Minuten später. Was für eine Nacht!
Zu Hause angekommen schrieb ich Katja eine SMS, dass ich heil angekommen war. Den Vorfall verschwieg ich ihr, sonst würde sie mich nie wieder nachts alleine an einer Haltestelle mitten im Nirgendwo stehen lassen.
Das war doch ganz gut gelaufen. Ich hatte diese Lebensprüfung bestanden und gezeigt, dass ich mutig genug war, in Notsituationen einzugreifen.
Doch als ich meinem Vater die Geschichte erzählte, fuhr er auf: "Was hast du getan?" Vor Verblüffung brachte ich kein Wort heraus, also setzte er eine Erklärung nach. "Du hättest dem Kerl eine Lektion erteilen sollen, damit er das nicht wieder macht. Du hättest der Gesellschaft einen Dienst erwiesen. Wenn er das nächste Mal ein Mädchen schlägt, ist es deine Schuld."
Ich nahm seine Worte ernst und mir eröffnete sich eine neue Sichtweise auf die Dinge zusammen mit der Erkenntnis: Vielleicht bin ich zu nett und Einsatz alleine reicht nicht.