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Einer von uns

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21.06.2003
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Einer von uns

Er hält die Hand auf. Sie ist dreckig. Ein grauer Film, schwarze Ränder unter den Nägeln. Das stört ihn nicht, schon lange nicht mehr. Er weiß nicht wie lange, denn er zählt die Tage längst nicht mehr. Eine Zeit lang hatte er Zettel und Stift. Da notierte er noch sorgsam wie die Zeit verging. Eine Zahl für jeden Tag, aber nach einigen Monaten begann der Stift schwächer zu schreiben und dann schrieb er gar nicht mehr. Er erinnert sich wie er in Panik geriet, als der Stift nicht mehr schrieb. Es hatte ihm eine gewisse Sicherheit oder mehr eine routineartige Beruhigung gegeben, die Tage zu behalten. Sie konnten ihm nicht so einfach entgleiten, wenn er sie auf Papier hatte, festgeschrieben, sicher. Danach verstrichen die Tage ungezählt und es kümmerte ihn nicht mehr. Auch die Zettel zerflederten mit der Zeit bis zur Unleserlichkeit. Es war als würde mit ihnen seine Vergangenheit langsam aufgelöst. Würde man ihn heute nach seinem Namen fragen, er müsste wohl einen Moment nachdenken. Er hatte ihn solange nicht mehr gehört. Sein Name war mit ihm und seinem alten Leben in der Vergangenheit geblieben.
Die Frau wartet an der Haltestelle auf einen Bus. Sie hat eine große Tasche dabei und eine kleinere mit einem Tragegurt. Sie ist jung, etwa 25 oder etwas älter- und sie lächelt. Ihre Augen spiegeln Müdigkeit wieder, aber sie sieht freundlich aus und glücklich.
„Entschuldigung, haben sie etwas Geld für mich?“ Ihr Gesichtsausdruck verändert sich, nicht sehr, aber merklich. Niemand mag es nach Geld gefragt zu werden. Das weiß er. Doch man bekommt mehr Geld, wenn man sich traut danach zu fragen. Er überlegt eine Sekunde, sieht sie an und fügt hinzu: „Ich habe Hunger. Ich habe seit drei Tagen nichts mehr gegessen.“ Das ist eine Lüge. Gestern hat er sich einen Schokoriegel gekauft. Er hat ihn ganz langsam gegessen. Damit seine Zunge den gesamten Geschmack aufnehmen konnte, bevor er den süßen Brei herunterschluckte.
Die Worte hängen noch ein paar Sekunden in der Luft. Er sieht wie sie die junge Frau erreichen. Sie nickt und zieht ein Portemonnaie aus der Umhängetasche. „Ich muss mal nachsehen“, sagt sie.
Er sieht, dass ein rotoranger Fünfziger aus der Brieftasche winkt. Er schluckt. Was könnte er sich davon kaufen? Hundert Schokoriegel oder Obst. Ein Steak. Einen Schlafsack. Ein Bahnticket oder besser noch, ein Flugticket! Wohin? Egal, irgendwohin. Die Frau nimmt zwei Euro heraus und legt sie in seine offene Hand.
„Vielen Dank“, sagt er und betont jede Silbe. Mehr nicht, mehr braucht er nicht zu sagen, dreht sich um und geht. Er sieht die Frau nicht noch einmal an. Früher war ihm die Schamesröte ins Gesicht gestiegen. Das ist längst nicht mehr so. Ans Betteln hat er sich gewöhnt. Doch er hatte es beibehalten sich schnell abzuwenden nachdem er hatte, was er wollte.
Als er weit genug weg ist, steckt er langsam die Hand in die Tasche und fühlt vorsichtig. Er kann die Münzen anhand der Oberfläche gleich erkennen. Vier Euro achtzig. Ein Zweier, ein Einer, ein Fünfzig-Cent-Stück, sechs Zwanzig-Cent-Stücke und ein Zehn-Cent-Stück.
In seinem Bauch spürt er wie die Magenwände schmerzhaft aneinander reiben. Er könnte sich etwas zu essen kaufen, etwas Richtiges, nicht bloß einen Schokoriegel. Aber vier Euro achtzig würden auch für Schnaps reichen, einen billigen. Er weiß, dass es dumm wäre das Geld dafür auszugeben. Er muss etwas essen, aber vielleicht würde er morgen noch einmal Glück haben. Dann könnte er heute seine Sinne benebeln, vergessen, verschwinden. Er weiß noch, wie er früher die Penner mit einer Schnapsflasche in ihren schmutzigen Händen mit einer gewissen Verachtung betrachtet hat. Wenn sie Geld hatten sich Schnaps zu kaufen, warum bettelten sie dann. Alkohol war doch ein Luxus, den man hinter das lebenswichtige Befriedigen des Hungers anstellen sollte. Leute, die bettelten, um sich Schnaps zu kaufen, hatten keinen Cent verdient. Er hätte ihnen niemals etwas gegeben. Sie waren schlampig und ihre Gegenwart war einem unangenehm. Er hätte damals niemals gedacht, dass er einer von ihnen sein würde.
Der Alkohol schmeckt heiß und scharf im Rachen. Er hat sich mit der Flasche Wodka auf einer Parkbank niedergelassen. Zum Glück war es warm genug, dann würde er nicht erfrieren, wenn er später betrunken einschlafen würde. Er setzt die Flasche ein zweites Mal an und merkt schon wie die Droge in seinem Kopf ankommt. Wie in Watte getaucht nimmt er die Umwelt wahr. Alles wird dumpfer und erträglicher.
„Bernd?“, fragt jemand. Und tatsächlich er braucht einen Moment bis er merkt, dass er gemeint ist. Eine Bekannte von früher steht ein paar Meter von ihm entfernt und sieht ihn skeptisch an. Er sieht zur Seite, als würde er die Frau nicht kennen oder hätte sie nicht gehört. Einige Sekunden ist die Luft um ihn dünner. Dann geht sie kopfschüttelnd weiter und er entspannt sich. Sein Name hallt noch lange in seinen Ohren nach. Er hatte ihn fast vergessen.

 

Hallo Lathyria,

gesellschaftliche Randfiguren regen wegen ihrer Andersartigkeit zum Nachdenken an, wie das Leben sich anfühlt, das sie führen, wie sie dazu gekommen sind. Mir geht das so, und in Anbetracht der ziemlich vielen Texte über beispielsweise Unbehauste scheine ich nicht der einzige zu sein. Da kann man furchtbar viel falsch machen, in ganz schreckliche Klischees tapsen. Das ist wenigstens der Eindruck, der sich meistens aufdrängt.

Deine kleine Geschichte halte ich für eine der besseren.

Er kann die Münzen anhand der Oberfläche gleich erkennen.

Da sieht man ihn vor sich, wie er zwanzigmal am Tag die Münzen abfühlt, ob sie noch da sind und immer wieder überlegt, was er davon kaufen kann. Wobei ich bei einigen Bettlern auch den Eindruck habe ohne es beweisen zu können, dass sie wesentlich mehr als vier achtzig pro Tag zusammenkriegen.

Sie konnten ihm nicht so einfach entgleiten, wenn er sie auf Papier hatte, festgeschrieben, sicher.

die schriftliche Fixierung als Haltepunkt in seinem unstrukturierten Leben.

Gestern hat er sich einen Schokoriegel gekauft.

Finde ich ein bisschen dick aufgetragen. Theoretisch ist möglich, in Deutschland zu verhungern, aber das müsste man schon wollen. In jeder Stadt sind Tafeln oder ähnliche Vereine. Hungern muss niemand. Es gibt aber auch Obdachlose, die keine Hilfsangebote annehmen wollen. Das hat der Leiter eines Obdachlosenheims hier in Hamburg vorletzten Winter beklagt. Die blieben trotz der krassen Kälte draußen. Also ich kann mir so einen Typen schon vorstellen, aber hier im Text steht von ihm nichts. Da vielleicht noch eine kurze Erklärung nachschieben.

Er sieht, dass ein rotoranger Fünfziger

rotorangener

Einen Schlafsack.
Würde den zur Standardausrüstung für ein Leben auf der Straße zählen.

In seinem Bauch spürt er wie die Magenwände schmerzhaft aneinander reiben
ich glaube nicht dass die das tun. er meinte zu spüren, dann ist deutlich, dass er es so empfindet. Das kann ja sein. Nehme ich an.

Alkohol war doch ein Luxus, den man hinter das lebenswichtige Befriedigen des Hungers anstellen sollte. Leute, die bettelten, um sich Schnaps zu kaufen, hatten keinen Cent verdient.

Jap genau. Und wer nicht arbeitet, muss auch nicht essen. Ist so eine naheliegende Ansicht. Ich gebe denen Geld für das Leben für das sie sich entschieden haben, was die damit machen, das ist nicht meine Angelegenheit.

Er sieht zur Seite, als würde er die Frau nicht kennen oder hätte sie nicht gehört. Einige Sekunden ist die Luft um ihn dünner.

Fein gesagt.

Gesehen und eingefangen die Situation und angesichts des schwierigen Themas halte ich die Geschichte für gut gelungen. Titel passt.

Kubus

 

Hallo Lathyria,

Es fällt mir schwer, mich in einen Obdachlosen hineinzuversetzen, deshalb bin ich dir dankbar, dass du mir diese Aufgabe durch deine Beschreibungen abgenommen hast. Was mich etwas irritierte waren gelegentliche Zeitenwechsel, die allerdings immer richtig platziert waren, aber aus irgendeinem Grund haben sie mich immer dazu gebracht, den letzten Absatz noch einmal zu lesen und zu suchen, wo er stattfindet. Schwer zu sagen, ob du das ändern solltest, immerhin passt es ja immer, aber ich dachte mir, es schadet sicher nicht, wenn du darauf hingewiesen wirst, wie es ankommt.
Sehr gut hat mir gefallen, wie dieses dahinplätschernde Leben, dass du vorallem im ersten Absatz ausführlich beschrieben hast und sich eigentlich durch fast die gesamte Geschichte zieht, jäh durch die Frage "Bernd?" unterbrochen wird - ich habe mich ja selbst ein bisschen mit deinem Protagonisten erschrocken!
Auffallend fand ich, dass du gar nicht beschreibst, wie es zu dieser Situation kam, aber das ist auch glaube ich gar nicht nötig, denn wenn ich das richtig verstehe, versuchst du dich hier in den Alltag des Durchschnittsobdachlosen einzufühlen, und da es keinen (mir bekannten) Standardgrund gibt, in Deutschland auf der Straße zu leben, hast du diesen vermutlich deshalb weggelassen.

Tim

 

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