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Einer unter uns

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09.12.2003
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Es war ein Montagmorgen im November um 6.45 Uhr. Die Schulkinder der kleinen Siedlung oben am Berg warteten auf den Schulbus. Wie meistens am Montag kamen ein paar Schüler auf die letzte Minute und an manchem Morgen hatten einige schon mal den Bus verpasst. Seit 10 Jahren war Hannes Diehsel der Fahrer und immer auf die Minute pünktlich. Er war ein dicklicher kleiner Mann, etwa um die fünfzig Jahre alt. Niemals wartete er auch nur einen Moment mit der Abfahrt, selbst wenn die Kinder sagten, dass noch Schüler fehlten oder wenn er sie die Strasse herab rennen sah und ihnen der Ranzen dabei rechts und links an die kleinen Schultern schlug.
Hannes Diehsel war ein Pedant und unerbittlich, was die Pünktlichkeit anging. Er hatte auch immer irgendetwas zu meckern. Er war bei den Kleinen, wie bei den Großen nicht beliebt und sie fragten sich, ob er wohl eigene Kinder hätte? So einen Vater möchten sie jedenfalls nicht haben. Wer den Schulbus verpasste, musste wieder nach Hause gehen und von den Eltern die 10 km zur Schule gebracht werden.
Inzwischen waren alle Kinder da und schnatterten wie die Enten durcheinander, um vom Wochenende zu erzählen. Sie standen dicht gedrängt in dem hässlichen gläsernen Wartehäuschen, weil der kalte Wind gehörig um die Häuserecken pfiff.
6.50 Uhr! Ein Schüler verkündete die Uhrzeit und gleich waren alle einen Moment still, bis die Vermutungen, warum der Bus nicht käme, nur so heraus prasselten.
„Diehsel hat verschlafen!“
„Diehsel ist krank!“
„Quatsch, der war noch nie krank! Die haben den abgesetzt, weil sich unsere Eltern beschwert haben und nun kommt ein anderer Fahrer.“
„So und warum kommt der nun nicht? Es ist nämlich schon 7.00 Uhr!“
„Diehsel ist tot!“ vermutete ein neunjähriger Knirps.
„Du spinnst!" Die Zeit verging und alle redeten durcheinander. Die Großen ließen sich darüber aus, wie es wäre gar nicht mehr zur Schule zu gehen, die meisten Eltern waren sowieso schon zur Arbeit gefahren.
Hannes Diehsel schwitzte so sehr, dass ihm seine, sonst immer ordentlich gescheitelten, Haare am Kopf klebten. Die Handflächen fühlten sich schweißig an und er merkte, wie ihm das Wasser in der Mitte des Rückens hinab lief.
Er war bemüht sich kerzengerade vor dem großen Schreibtisch zu halten und wagte nicht, auch nur eine Sekunde, aufzusehen. Sein Blick haftete an seinen blank geputzten Schuhen, er hatte die Füße dicht nebeneinander gestellt und die Schuhspitzen an einer von ihm gedachten Linie ausgerichtet.
Die Stimme, die er hörte, füllte den ganzen Raum aus und es klang, als käme sie von weit oben. Doch Diehsel dachte, Er säße hinter dem Schreibtisch.
Jawohl, Er. Das konnte nur Er sein. Diese quälenden Fragen und das Bohren nach Diehsels Antworten. Überhaupt, wie konnte der Frager so gut über sein Leben Bescheid wissen, wenn es nicht Er wäre?
Dabei klang die Stimme auch sanft: „Wie war das Hannes, als du sieben Jahre alt warst, auf dem Bauernhof deiner Großeltern? Erzähle, was du mit den Gänseküken gemacht hast!“
Ach das, dachte er und fühlte sich etwas besser, das waren doch Kindereien.
Großmutter hatte ihn doch gleich bestraft.
Diehsel hatte im Laufe der Jahre alle seine Sünden vergessen oder weit unten in seinem Gewissen begraben. Vor Jahren, als die Sache mit dem achtjährigen Jungen unentdeckt blieb, nachdem er Tage der Qualen des Entdeckens durchgemacht hatte, nahm er sich vor, so unauffällig wie möglich zu leben. Manchmal nur fingen seine Hände am Lenkrad des Busses an zu schwitzen, wenn die Knirpse im Sommer mit ihren nackten Armen ihm ihren Fahrausweis entgegen streckten. Seine Tage flossen ohne jegliche Abwechslung dahin und wenn er nicht rückfällig wird, dann wäre das einzige Ereignis, das ihn noch erwarten würde, der Tod.
„…die Katze deiner Schulkameradin Ilse in der Augustastrasse!“
Diehsel schreckte auf. Es war nicht nur die Katze von Ilse, was übrigens auch nie rauskam. Das hatte er ganz und gar vergessen, nun fragte Er danach und wartete wiederum auf Antwort. Diehsels Gedanken schweiften ab, er dachte daran, dass seine Uniform verschwitzt und knittrig sein würde, wenn er hier herauskam. Früher hatte seine Frau darauf geachtet und nach heißen Tagen den Anzug aufgebügelt. Er stöhnte bei dem Gedanken, wie schwer ihm das Bügeln fiel.
„Du seufzt nicht um die Qual der Tiere, Hannes!“ Die Stimme mahnte drohend und Diehsel dachte er könnte die Stimme beruhigen, wenn er korrekt mit den Händen an der Hosennaht stehen bliebe und nicht aufsähe. Er wollte antworten, aber seine Erinnerungen hatten ihn nun eingeholt und er sah sich nach der Schule in dieser Autowerkstatt. Er wusch für ein kleines Taschengeld die Autos der Kunden. Mittwochs war der fünfjährige Sohn des Chefs immer da, weil seine Frau an diesen Tagen zu ihrer Mutter fuhr. Die Eltern verzichteten später auf eine Anzeige, weil sie ihre Kunden, durch die dann folgenden Zeitungsmeldungen, nicht verlieren wollten. Sie hatten die Firma noch nicht lange.
„Erzähle, wie viele es waren und warum du dich darum bewarbst den Schulbus zu fahren“
Warum will Er wissen wie viele Jungen es waren? Er wußte schon alles, ehe Diehsel sich daran erinnerte. Warum quält Er ihn mit dieser Frage nach dem Schulbus? Seit zehn Jahren sind diese Bälger ihm ausgeliefert. Es freute ihn, wenn sie kurz vor der Haltestelle waren und er dann die Türen schloss. Abends dachte er sich aus, wie er die kleinen verschwitzten Dinger holen könnte. Aber er hatte es nie getan. Ein oder zweimal, als er frei hatte, fuhr er an den Haltestellen vorbei und hoffte, einen der Knirpse zu finden, die immer zu spät kamen. Seine Frau hatte es geahnt und ihn erwischt. Sie hatte ihn um seinen Spaß gebracht.
Der Gedanke an seine Frau peinigte Diehsel so sehr, dass seine Brille beschlug. Er blinzelte, weil ihm die Augen vom salzigen Schweiß brannten. Er merkte, dass er anfing stark nach seinen säuerlichen Ausdünstungen zu riechen.
„…die Polizei nie gefunden. „
Wie war es möglich, dass Er aussprach, was er noch gar nicht gedacht hatte?
Diehsel spürte, dass Wirklichkeit und Traum miteinander verwoben waren,dass er ganz durcheinander war und die Ereignisse in seinem Kopf herumwirbelten. Er würde gleich umfallen und dann wäre alles vorbei. Ja, das wäre die Lösung, tot umfallen, die Fragen würden aufhören, die sollen endlich aufhören.
…nie gefunden! Das war ein Meisterstück, man wird sie nie finden. Jedenfalls nicht solange er lebte.
Er gab sich der Hoffnung hin, dass er träume. Ein Albtraum, wie so oft.
Warum wachte er nicht auf, schweißgebadet zwar, an einem Morgen wie immer?
„…und dem kannst du nicht entgehen. Das wird deine Strafe sein, Hannes, sie wird dich quälen. Sie werden dir alle begegnen, Tag und Nacht werden ihre Gesichter vor dir erscheinen, von heute an bis zu deinem Tod!“
Die Stimme dröhnte in dem Raum, in welchem sich Diehsel nicht einmal umgesehen hatte, er sah immer noch nur seine Schuhspitzen.
Aber es war ihm klar, ganz plötzlich glasklar, dass Er nicht Er war, sondern Es.
Es, sein Gewissen! Oder war Er und das Gewissen dasselbe?
In der Buszentrale waren die Kollegen seinerzeit bestürzt und ergriffen.
Hannes Diehsel war ein geschätzter Kollege gewesen, immer pünktlich und bereit für andere einzuspringen. Gewiß, es hatte hier und da einmal Beschwerden von Eltern gegeben, dass Hannes mit den Kindern nicht gerade freundlich umging. Aber sie wussten ja alle, wie die kleinen Kerle einen piesacken können. Hannes war der Einzige, der nicht vom Schulbus runter wollte und darüber waren alle Kollegen froh.
Sie waren sich einig damals, das hatte der Hannes nicht verdient. Er kam eines Morgens nicht zur Arbeit und man fand ihn später im Schlafanzug, mit einem Bügeleisen in der Hand, in seinem Keller dicht vor einer alten zugemauerten Türnische stehen, kerzengerade, wie ein Zinnsoldat.
Ab und zu besuchten ihn ein paar Kollegen noch, aber sie konnten sich nicht mit ihm unterhalten.
Seit diesem November sind zwanzig Jahre vergangen und die Geschichte von Hannes Diehsel wird immer noch den neuen Kollegen erzählt.
Einer der Älteren erwähnte vor Kurzem, dass das alte Haus, in dem der Hannes gewohnt hatte abgerissen wurde. In der Zeitung stand, dass man in den Trümmern eine Frauenleiche gefunden hatte.

 

Hallo romy,

deine Geschichte ist zwar nichts großartig Herausragendes, gefällt mir aber trotzdem ganz gut.

Nach außen hin macht dein Protagonist einen zuverlässigen und pünktlichen Eindruck, er ist geschätzt unter seinen Kollegen – sein Inneres bleibt den Anderen jedoch verborgen.
Bis sich sein Gewissen meldet und zumindest der Leser dieser Geschichte erkennt, was sich wirklich hinter seinem Wesen verbirgt.
Wie aber kam es zu den Gewissensbissen von Hannes? Hat er irgendetwas erlebt, das dazu geführt hat, dass die Vergangenheit ihn einholte? Bisher hat er sie ja immer verdrängt. Ich finde, eine kleine Erklärung diesbezüglich fehlt noch in der Geschichte. Ansonsten hab ich nichts an dem Text auszusetzen. :)

Sprachlich ist deine Kurzgeschichte flüssig geschrieben und angenehm zu lesen.

Viele Grüße,

Michael :)

 

Hallo Michael,
danke für Deine Reaktion. Ich dachte mit der Erwähnung:"Er gab sich der Hoffnung hin, dass er träume. Ein Albtraum, wie so oft." habe ich schon angedeutet, dass sich sein Gewissen, bzw. die Angst vor Entdeckung schon früher mal gemeldet hat. Ist das zu wenig erkennbar? Mein ursprünglicher Gedanke war übrigens, dass Hannes Diehsel "nur" von den alltäglichen Bösartigkeiten, die wir Menschen uns "leisten" heimgesucht wird, auch welche aus der Kindheit. Aber dann kam es doch zu den Schrecklichkeiten, die er getan hat.
Liebe Grüße, Romy

 

Wenn dein Protagonist schon früher von seinem Gewissen geplagt worden war, braucht es natürlich kein bestimmtes Erlebnis, das ihn auf einmal wieder seine Vergangenheit vor Augen führt, sondern dann passt die Geschichte so. Ich muss zugeben, über das "wie so oft" hinweggelesen zu haben bzw. diesen drei Worten nicht die Bedeutung zugemessen zu haben, die sie bekommen hätten müssen. Daher würde ich erstmal nichts mehr an dem Text verändern.
Im Großen und Ganzen finde ich ihn jedenfalls gelungen und ich hab ihn gerne gelesen. :)

Einen schönen Abend noch,

Michael :)

 

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