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Einen Triller lang
Ein Triller besteht aus zwei nebeneinander liegenden Tönen, die schnell im Wechsel gespielt werden. Immer hin und her. Mozart verwendete ihn oft und Beethoven in den Klavierkonzerten. Dort gibt er das Signal für das Orchester, das am Ende des Trillers dem Klavier mit Tumult in die Parade fährt und das Werk zu Ende bringt.
Man hört den Triller auf Jimi Hendrix‘ Gitarre und bei alten Motorrädern, kurz bevor sie absterben. Ja, er leitet das Finale ein, das Ende, er ist wie das letzte Aufbäumen einer Musik, die nur noch zwei Töne zur Verfügung hat, zwei Töne, die alles sind.
Auf dem Klavier kann er scheußlich klingen. Wie ein nervtötendes Telefonläuten oder wie das Rumpeln einer Waschmaschine im Schleudergang. Manchmal aber, wenn er gelingt, ist er das Letzte, was die Musik noch sagen kann, das Wichtigste, das in den zwei verlorenen Tönen, in den Verwirbelungen und Drehungen, die sie um sich selbst vollführen, aufscheint wie ein Strahl, um eine Lichtschneise in die Dunkelheit zu schlagen, wie ein Seil, auf dem man hinüberbalanciert in ein anderes Land, gedreht aus dünnsten Fäden, aus feinstem Garn, aus Schall und Rauch.
Jakob Adametz strich sich das graue Haar aus der Stirn. Dann ließ er den Arm langsam sinken, den Kopf über der Tastatur und das g und das a im Blick. Er wollte den Daumen und den Mittelfinger zum Triller aufsetzen. Da löste sich eine Schweißperle von der Nasenspitze und fiel auf den weißen Kunststoff der Töne g und a, und als er die Finger darauf legte, rutschte er herum wie auf einem frisch gewischten Fliesenboden, schlitterte, glitt aus, fand keinen Halt. Mit den Fingerkuppen verrieb er die Feuchtigkeit, versuchte, sie zu verteilen, damit sie verdunstete. Aber es half nichts. Dann sah er hinauf zum Dirigenten, der sich umgedreht hatte und ihm einen erstaunten Blick zuwarf. Er wartete mit dem Orchester auf den Einsatz nach Adametz‘ Triller, hob die Augenbrauen und nickte dem Pianisten aufmunternd zu.
Da löste sich ein Ton. Das g. Wie zufällig, ein heiserer Ruf aus dem Flügel heraus, gerade noch hörbar und der Stille näher als dem Klang. Adametz erschrak. Noch nie war ihm ein Ton ungewollt entkommen. Nie unterlief ihm eine falsche Note, ein Aussetzer, er hatte das Instrument im Griff, hielt es am Zügel, erfüllte genau den Notentext der alten Komponisten, und dafür wurde er geliebt. Für seine Perfektion, die er Zeit seines Lebens kultivierte und in höchste Höhen trieb. Und nun erklang das g, selbständig und spontan, ungeplant und losgelöst von seinem Willen. Sein Mittelfinger zitterte, als er ihn auf das a legte. Kurz hielt der den Atem an, fixierte das Fingerglied und ließ das Gewicht seines Unterarms vorsichtig herabsinken, bis er den Widerstand spürte, und im letzten Moment, kurz vor dem Aufschlagen des Tastenbodens, beschleunigte er den Anschlag, dass der Flügel einen ebenso leisen, nebelhaften Ton hervorbrachte wie vorhin, als wäre er ein klagender Widerhall auf das g, das noch wie ein Fragezeichen im Raum zu schweben schien. Aus dem Halbdunkel des Saals hörte Adametz ein leises Husten, ein gedämpftes Raunen. Tastend streckte er den Daumen dem g entgegen.
„Jakob, komm“, ruft ihm seine Mutter zu. Mit ausgebreiteten Armen balanciert er auf der Straßenbahnschiene. Nur nicht hinunterfallen in die Tiefe. Immer auf dem Seil tanzen.
„Du musst nicht immer ‚Himmel und Hölle‘ spielen!“, ruft sie. „Frau Blinowa wartet schon!“
Mit großen Augen sieht er die graue Fassade des Stadthauses hinauf.
„Ra-de-ti-stra-ße“, buchstabiert er.
„Radetzkystraße“, korrigiert ihn die Mutter. Sie nimmt seine Hand und drückt auf einen der Messingknöpfe. Die Tür springt auf und sie treten ein. Der Flur ist feucht. Jakob rutscht aus und krampft sich in ihren Arm.
„Immer aufpassen, Kleiner“, hört er die Blinowa mit russischem Akzent sagen. Ihr „r“ rattert wie eine Nähmaschine und das „a“ klingt dunkel aus ihrem dicken Hals. Sie steht in der Wohnungstür und streckt ihm die Hand entgegen. „Immer aufpassen, damit nicht falsch passiert. Ist wichtig auf Instrument.“ Bei der letzten Silbe reißt sie den Mund auf und blökt wie ein Schaf in der Weite der Tundra. Er legt seine Hand in ihre, die weich ist wie aufgegangener Hefeteig. In seine Nase zieht der Geruch von Sauerkraut.
„Er hat Talent“, sagt die Mutter.
„Wir werden sehen“, sagt die Blinowa und schiebt Jakob in die Wohnung.
Jede Woche balanciert er die Straßenbahnschienen entlang bis zur Eingangstür in der Radetzkystraße und spielt die Tonleitern im Sauerkrautdampf. Die Blinowa hebt sein Handgelenk mit dem Stiel des Kochlöffels und drückt es wieder hinunter.
„Federleicht muss der Arm sein und laufen müssen die Fingerlein“, erklärt sie mit kehliger Stimme, und Jakob fährt hinauf und hinunter, unentwegt, läuft Langstrecke auf den Tasten bis zum Marathon, bis zur Erschöpfung. Aber die Blinowa ist streng und fordert unerbittlich. In den kurzen Pausen sitzt er am Küchentisch gegenüber dem Krauttopf und darf die knallbunte Matrjoschkapuppe zerlegen bis zum letzten Exemplar, das nicht größer ist als das Vorderglied seines kleinen Fingers. Er stellt die immer kleiner werdenden Figuren der Größe nach auf, und dann jagt sie ihn wieder zurück an den Kasten.
Zu Hause dreht die Mutter die Eieruhr auf. Wenn sie rasselt, ist die Übezeit zu Ende. Aber die Finger werden behänder und schneller und er hört die Eieruhr nicht mehr. Er spürt, dass er ihn bändigen kann, den Kasten, dass seine Kraft wächst, dass er darauf Kunststücke vollführen kann wie ein Akrobat, dreifache Salti, Pirouetten, waghalsige Sprünge in die Höhe und in den Abgrund. Alles gelingt ihm mit der Zeit und die krautkochende Blinowa steht neben ihm und zieht ihre dicke Unterlippe nach unten. „Nicht schlecht“, brummt sie, „nicht schlecht, mein Kleiner. Wer hätte gedacht.“
Er will nur noch spielen. Und spielen wollen auch die Kinder, die ihn hänseln, weil er seine Zeit lieber am Klavier verbringt. „Zebra“, rufen sie ihm nach. Weil es schwarz-weiß ist, wie die Klaviertasten. „Zebra“, oder „Klimperer“, oder „Tastenhauer“, was so ähnlich klingt wie Fleischhauer, und da zuckt er zusammen. Wenn er mit Zebra und Klimperer noch leben kann, so geht ihm der Vorwurf des Hauens nah. „Du musst singen“, sagt die Blinowa, und das spürt er, dass jede Musik vom Gesang herkommt. Sogar das Schlagzeug singt, hat eine Melodie und ist weit entfernt vom Schlagen, vom Hauen, vom Dreschen. Ein Sänger will er sein, ein Sänger ohne Worte und als stummer Sänger ein Lied singen, das von der Seele erzählt, von der Traurigkeit der Welt, von der Dunkelheit und vom Licht.
Langsam, stockend, staksend wie ein kleines Kind, das die ersten Schritte tut, ging Jakob Adametz zwischen den Tönen hin und her. G-a-g-a. „Gaga“, dachte er und musste fast lachen über das Wort, das er in dem Stück nie so erkannt hatte. Und welches Stück war es eigentlich? Ein Klavierkonzert von Brahms, von Mozart, von Beethoven? Es wusste es nicht. Was war anders an diesem Abend? War es der Sauerkrautgeruch, der seit Beginn des Konzerts von der zweiten Geigerin zu ihm herüberwehte, ihre herabhängende Unterlippe, die ihn an die Blinowa erinnerte? Er sah zu ihr hinüber. Sie erwiderte seinen Blick und zog die Nase nach oben, als wollte sie ihm anzeigen, dass er nun machen solle, das Ding zu Ende bringen, dass das Orchester auf Kohlen sitze und nur darauf warte, dass er seinen Triller in Fahrt brächte und die Spieler endlich einfallen könnten zum großen Finale. Adametz wendete den Blick, sah wieder auf die Tastatur, betrachtete verwundert seine Hand, seine Finger, die etwas an Tempo aufnahmen, als hätten sie den Schock des ungewollten Tons überwunden. G-a-g-a.
Verstohlen äugte er dann in die andere Richtung zum abgedunkelten Publikumsraum. Die Leute in der ersten Reihe waren noch beleuchtet vom Bühnenlicht. Dahinter erhoben sich die Ränge, die im Finstern lagen. Er, der Künstler dagegen als Lichtgestalt, herausgehoben aus der namenlosen Menge, er, Jakob Adametz, der Tastenmeister, der vor aller Ohren einen neuen Anfang nahm, einen neuen Start mit den Tönen g und a. Wandelte er wirklich auf so dünnem Eis, dass ihn der zufällig passierte, kaum gehörte Ton so aus der Bahn warf? Trotzig stemmte er sich gegen die Tasten, schlug sie stärker nieder. Und wenn der Triller vorher noch leise und verhalten aus dem Resonanzboden klang, gewannen die Töne an Dichte und Stärke. Er musste die Sache wieder in den Griff bekommen, wieder festen Boden unter den Füßen spüren.
Immer noch die Augen zum Publikum gedreht, sah er zwischen den alten und ergrauten Leuten in der ersten Reihe eine junge Frau sitzen. Er bemerkte ihr dunkles, langes Haar und eine Strähne, die ihr ins Gesicht gefallen war. Unbeweglich saß sie da mit halboffenem Mund, die langen Beine übereinandergeschlagen. Er spielte schneller, die Beine im Blick, begann zu laufen mit seinen Fingern wie diese Beine, die aussahen, als könnten sie tanzen und übers Parkett fliegen, über den Asphalt, als würden sie den Boden nicht berühren, schwerelos, nicht von der Welt. Das g und das a. Sie wurden schneller und schneller. Adametz spürte seinen Puls. Anita.
Sie öffnet die schwere Metalltür der Musikhochschule und kommt die Treppe herunter, die zur Arcisstraße führt. Nein, sie kommt nicht herunter. Sie tanzt, sie schwebt über die Stufen und die schwere Tür fällt hinter ihr sanft ins Schloss, als wüsste sie, wer sie geöffnet hat. Schneeflocken wirbeln mit ihr die Straße entlang. Aus ihrer Strickmütze fällt eine Strähne übers Gesicht. Sie steckt sie unter die Mütze hinter das Ohr und lacht ihn an.
„Kommst du mit heute Abend? Es gibt ein Fest. Coole Leute.“
„Ich muss noch üben“, sagt er. „Mein Prof erwartet viel von mir.“
Sie verdreht die Augen, nimmt seinen Schal an beiden Enden und zieht seinen Kopf zu sich her. „Mein Prof, mein Prof. Das höre ich von dir den ganzen Tag. Dein Prof erwartet viel von dir, Jakob? Das Leben erwartet viel von dir. Schau!“ Anita breitet die Arme aus und mit ihren himmellangen Beinen dreht sie sich mit den Flocken um die Wette über den Königsplatz. Jakob sieht ihr nach und vergräbt die Hände in den Hosentaschen.
„Kommst du?“, ruft sie lauthals über den Platz.
„Ja“, schreit er zurück und erstickt das „a“ und macht schnell den Mund zu, weil er nicht gewohnt ist, laut über Plätze zu plärren. „Ja“, sagte er nochmal leise. „Ja, ich komme.“
Anitas Freunde tragen die Haare lang. „Komm, wir spielen“, begrüßen sie ihn. „Du kannst doch ein wenig klimpern. Deep Purple? Smoke on the water? Mach uns ein wenig den Jon Lord! Ran an die Hammond!“
„Habt ihr Noten?“, fragt Jakob und sieht zu Anita hinüber, die die Lippen zusammenzieht und den Kopf schüttelt.
„Noten, er will Noten“, rufen sie und lachen, und der Gitarrist steht auf, hängt sich das Instrument um und stellt sich vor Jakob hin.
„Weißt du, was wir mit Noten machen?“, fragt er. „Das hier.“ Er lässt den Arm hochfahren und schlägt mit Wucht in die Saiten, dass es aus dem Verstärker schallt. Jakob zuckt zusammen. Dann spielt er weiter, und Jakob erkennt die Melodie. Die amerikanische Nationalhymne, verzerrt, johlend, kreischend, gequält. Der Gitarrist reißt an den Saiten, er schlägt darauf ein, rupft sie wie Hühnerfedern, zerrt an ihnen und biegt dabei seine Hüfte vor, als würde er auf seinem ... Nein, Jakob mag es nicht einmal denken, aber doch. Der Gitarrenhals ist sein Schwanz, der Spieler zeigt voller Stolz seinen verdammten Schwanz her und spielt darauf die Hymne. Mit dem letzten Akkord lässt er den Kopf hängen, und sein langes, lockiges Haar fällt wie ein Vorhang über seine Brust herab. Dann wirft er energisch den Kopf in den Nacken. Sein Schopf fliegt zurück. Lange sieht er Jakob an.
„Jimi Hendrix“, sagt er. „Das war Jimi Hendrix. Kennst du?“
„Das ist keine Musik“, sagt Jakob. „Das hat keine Form, keine Anmut.“
„Anmut?“, wiederholt der Gitarrist langsam und blickt fragend in die Runde. „Anmut! Wen interessiert Anmut?“
Anita zieht ihn weg. „Du bist peinlich“, flüstert sie. „Lass dein gekünsteltes Gerede.“
„Du bist nicht Schubert, du bist nicht Beethoven“, sagt sie später. „Du bist du!“
Das weiß er auch. Und als sie ihn lange küsst, fühlt er, was es hieße, er zu sein, was es für Folgen hätte und er läuft vor den Langhaarigen davon, weil er Angst hat, dass seine Hymnen auch verzerrt werden könnten, dass der Rausch, den er bei ihr spürt, seine klaren Gedanken trüben würde, die er braucht, um Schubert und Brahms zu verstehen.
Er schloss die Augen. G-a-g-a. Du sein. Als ob das so einfach gewesen wäre für ihn. Er war immer ein Gefäß, in das die Musik vergangener Zeiten hineingegossen wurde. Er war die Bühne, auf der Bach und Schubert tanzen konnten. Aber er musste seine Beine ruhig halten. Er durfte nicht tanzen. Und schon die läppischen zwei Töne, das g und das a machten ihm Angst, dass er vom rechten Weg abwich, einmal seine Sache machte. Nur seine. Nicht das, was vorgeschrieben war.
Aber wenn er die zwei Töne wie der Gitarrist damals, anders spielen würde? Sie jetzt, hier, vor allen Leuten in ein heulendes Rattern verwandeln würde wie das einer Bohrmaschine, oder wie das eines Häckslers, dessen Schneidwerk Äste in kleinste Teile zerfräst? Sich einmal auflehnte gegen die Konvention, gegen das schöne Singen. Einmal mutig sein.
Er wirbelte die Finger hin und her im schnellsten Wechsel, den er zustande brachte, dass man keinen einzelnen Ton mehr erkennen konnte und wurde lauter und lauter. Ja, so hätte er seine Lieder verzerren müssen, zerstören, wie Hendrix die Nationalhymne, einreißen, Farbe bekennen, wie Anitas Freund. Zu spät. Aber doch. Hier. Jetzt. Mit den beiden Tönen. Vielleicht könnte er es jetzt tun und das Spiel auf die Spitze treiben. Ein wahnsinniges Geplärr sollten die Töne werden, sollten den Zuhörern in die Ohren fahren, bis die Frauen in ihren mottenmiefigen Roben aus dem Saal stürzten und ihre vom Alter gebückten Männer hinterher. Und in den schwarzen Kasten, in das glanzlackierte Ungetüm, dem er sein Leben geweiht hatte, würde er seine Finger hineinhobeln, bis nur noch kleine Schnitzel übrig blieben, ofentaugliche Späne, die er ins Feuer schleudern könnte, wo das Sinnbild seiner Einsamkeit und seiner Leblosigkeit in einem letzten infernalischen Qualm ein Ende finden würde.
Einmal besucht er sie noch in der Kommune auf dem Land. Die Langbärtigen flößen ihm Respekt ein. Sie ziehen von Dorf zu Dorf, spielen ihre Musik und verlangen nichts dafür.
„Wovon lebt ihr?“, fragt er. Wieder lachen sie und Anita zieht ihn nicht mehr zur Seite.
„Wir sind Vagabunden wie du, Schausteller, die auf dem Marktplatz die Trommel rühren“, sagt sie.
„Bei mir ist es anders. Meine Kunst ist anders.“
Sie lacht ihn aus. „Du machst dir was vor, Jakob. Geh!“, ruft sie ihm nach.
Er dreht sich nicht um und zieht aus dem Dorf hinaus als Fremder. Ein Hund bellt ihm hinterher.
Sie behält Recht. Er wird ein Vagabund, tritt in die Manege im glitzernden Anzug, drückt mit der einen hefeteigweiche Hände und nimmt mit der anderen die Beträge entgegen, die hoch und höher werden bis zur Obszönität. Spring, Künstler, spring. Spring über das Stöckchen, mach Männchen, balanciere auf der Straßenbahnschiene zwischen Himmel und Hölle, schlage den Purzelbaum.
„Spielen sie für ihn“, flüstert ihm sein Agent schmeichelnd ins Ohr. „Es wird sich lohnen.“
Und er geht über den weißen Marmorboden in dessen Palast, drückt Hände und spielt Chopin.
„Dort trittst du auf? Beim Diktator. Du verrätst die Kunst!“, schimpfen die Kollegen. Er weiß es und spielt, weil er meint, sein Lied von der Traurigkeit der Welt kann etwas ändern. Aber es ändert nichts. Überhaupt nichts. Er ist Zierrat, nur Unterhaltung und als er in den Nachrichten die Toten sieht, weiß er, dass die Musik niemanden zu einem besseren Menschen macht.
Adametz spielt und spielt, treibt seine Finger an wie ein Kutscher, der auf die Pferde eindrischt, weil er vor Einbruch der Winternacht zu Hause sein will. Die zwei Töne. Sie sollten ein Neubeginn sein. Stattdessen dreht er sie hohl im Kreis, ziellos, sinnlos. Sie wirbeln dahin und er weiß nicht, wie er aufhören soll. Leer sind die Töne, weil er sie zu oft gesagt hat, zu oft gespielt. Weil er sie drehte und wendete, hinaufwarf und fallen ließ, bis sie ihren Inhalt verloren, ihren Sinn und ihr Gewicht. Er schaut wieder in den Zuschauerraum, fragend, suchend, als läge in den halbdunklen Sitzreihen die Lösung, wie er die Sache aufhören könnte.
Und dann sieht er zu ihr. Sie hebt den Arm, ganz langsam, und streicht sich die Strähne, die ihr Gesicht fast in der Hälfte teilt, hinter das Ohr. Er zuckt zusammen, und ein kalter Schauer überfährt ihn, als hätte jemand alle Saaltüren auf einmal aufgerissen und ein eisiger Schneewind wehte herein. In seinen Ohren saust es. Seine Augen flimmern. Er sieht kleine, blitzende Lichter um sich herumschwirren. Schneeflocken. Ja, es sind Schneeflocken. Sie fallen auf seine Hand. Er sieht den Kristallen zu, wie sie auf dem Handrücken schmelzen und spürt mit jeder Flocke einen Stich, als wären es Nadeln, die in seiner Haut steckenbleiben. Dann packt ihn der Frost mit scharfer Klinge, fährt in seine Fingerbeugen, ritzt die Kuppen, schneidet die Knöchel auf bis auf den blanken Knochen. Adametz beißt sich auf die Zunge. Der Wind pfeift ihm ins Gesicht. Mit zugekniffenen Augen versucht er, das Tempo zu halten. Schützend beugt er sich über die Klaviatur und als er im Windschatten des Tastendeckels die Augen öffnet, sieht er seine Hand von einer Eisschicht überzogen. Schollen lösen sich von den Fingern, die sich gegen die Kälte wehren. Aber sie werden langsamer und langsamer, und je mehr ihre Bewegung abnimmt, desto mehr klammert sich das Eis an die Haut wie ein fester Panzer, wie eine kalte Kruste, die sie zum Stillstand zwingt. Adametz hört ein helles Klacken, als er seine Eisfinger in immer länger werdenden Abständen auf die Tasten setzt. Die Töne werden leiser und spärlicher, werden immer kleiner und unscheinbarer wie die immer kleiner werdenden Matrjoschkas auf dem Küchentisch der Blinowa.
Mit weit aufgerissenen Augen und vorgeschobenem Unterkiefer verfolgt der Dirigent jede einzelne Matrjoschka und bei der letzten kaum mehr hörbaren, kaum mehr sichtbaren dreht er sich blitzschnell um, sticht mit seinem Stab in die Luft und reißt das Orchester aus der fassungslosen Lähmung, in die es Adametz‘ Spiel versetzt hat. Wie eine in der Nacht vom Feind überraschte Armee packen sie ihre Instrumente und tönen wirr durcheinander. Aber der chaotische Aufbruch ordnet sich nach kurzer Zeit. Die Reihen formieren sich und sie marschieren dem Ende entgegen. Mit einem donnernden Akkord, den sie nicht lange aushalten wie üblich, sondern kurz in den Saal schmettern wie einen Kanonenschlag, ist es vorbei.
Adametz sitzt bewegungslos am Flügel. Es herrscht Stille. Kein Laut, kein Husten, kein Räuspern. Atemlose Stille. Nichts.
Da springt in der ersten Reihe die Frau auf und ruft laut: „Bravo, Adametz! Bravo!“ Steht alleine da, und die Augen richten sich auf sie, wie sie dasteht auf ihren langen Beinen und klatscht. Als hätte es ein Kommando gegeben, erheben sich alle. Ein rauschender Applaus brandet auf wie eine Woge, die den Saal erfüllt.
Ob es Schweiß oder Tränen sind oder geschmolzenes Eis, das er sich über das Gesicht wischt, weiß er nicht. Er legt die feuchte Hand auf den Flügelrahmen, zieht sich daran hoch und geht mit gebeugtem Kopf, langsam und schlurfend in die Mitte der Bühne. Als er zögerlich die Arme hebt, wird der Beifall noch heftiger. Er wendet sich zu ihr, sieht sie an, legt seine Hand aufs Herz und verbeugt sich. Sie erwidert seinen Blick, hält inne im Applaus und nickt ihm mit ernster Miene zu.
„Ich komme“, sagt er leise. „Ja, ich komme.“