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Einen Tag noch
Wieso? Warum nur? Die Fragen drehen sich im Kreis. Ich weiß keine Antworten.
Der Regen trommelt auf das schräge Fenster. Der Himmel ist genauso grau, wie es in meinem Inneren aussieht. Nur sieht es in mir noch viel düsterer aus.
Aus dem Nebenzimmer ertönt ein leises Stöhnen. Dann Stille. Ein erneutes Stöhnen. Diesmal lauter. Und ich hasse mich dafür. Ich hasse mich dafür, dass dieses Stöhnen an meinen Nerven zerrt, und gleichzeitig will ich nicht dass es aufhört. Es wird aufhören. Der Arzt war klar in seiner Aussage. In meinen Augen, die einzige klare Aussage. Mein Gefühl sagte mir schon vor dem Gespräch mit dem Arzt, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Und doch trafen mich seine Worte wie ein Schlag. Wie ein Blitz schlugen sie ein. Jetzt war es echt. Ich will das nicht. Die Augen schreien danach die Tränen weinen zu dürfen, die sie nicht mehr weinen können. Sie sind leer. Übrig bleibt die Verzweiflung. Und Hoffnungslosigkeit.
Wieder ein Stöhnen. Ich muss schauen, ob ich was tun kann. Aber egal was ich tue, es wird es nicht ändern. Was kann ich schon groß tun. Ein Kissen gerade rücken? Was zu trinken geben? Ich gehe rein. Da liegt sie. Bleich, abgemagert, ohne Haare. Ihre Augen schauen in meine Richtung. Sie sind trüb. Ihr Mund verzerrt sich zu etwas, was mal ein Lächeln gewesen war. Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Ich will nicht loslassen müssen. Ich will nicht verzichten müssen. Ich trete an das Bett. Meine Hand umschließt die ihre Hand. Kühl, trocken. Ich spüre jeden Knochen ihrer Hand. Sie schaut mich an. Still rinnt eine Träne bahnt sich ihren Weg über die Wange herab, bevor sie wie der Regen am Fenster auf das Kissen tropft.
Sie drückt meine Hand. Aufmunternd und traurig zugleich. „Heute hatte ich einen guten Tag. Und morgen früh werde ich aufwachen und noch einen guten Tag haben.“ Die Stimme ist dünn. Fast gehaucht. Und ich kann nicht glauben, dass sie mich tröstet. Ich schäme mich so sehr. Ich sollte jetzt die Starke sein. Ich sollte sie trösten. Ich will so viel sagen, aber ich weiß nicht wie. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Was ist richtig? Sie hat doch bestimmt Angst. Warum zeigt sie keine Angst? Ich habe Angst. Ich will das alles nicht. Am liebsten würde ich, wie ein kleines Mädchen, in mein Zimmer laufen und mir die Decke über den Kopf ziehen. Und alles wäre weg. Nicht mehr real.
Sie drückt noch einmal meine Hand. Ich wende den Blick ab. Verlegen, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, angle ich nach dem Wasserglas. Sie trinkt kleine Schlucke. Und schaut mich an. Ruhige Augen schauen mich an, und ich spüre, wie mir heiße Tränen in die Augen schießen. Mit schnellen Bewegungen wische ich sie weg. Ich will auch stark sein. Wenn sie an ein Morgen glaubt, wieso kann ich das nicht. Wieso ist meine Welt grau und leer. Wieso kann ich mich nicht wie sie über jeden Tag den wir zusammen noch haben freuen. Mein Verstand brüllt förmlich danach. Doch mein Herz fühlt nur die Trauer. Und ich weiß, ich trauere jetzt schon über etwas, was ich noch gar nicht verloren habe. Sie ist hier. Sie ist noch hier. Wir sollten jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde nutzen zusammen zu sein. Für einander da zu sein. Wir sind füreinander da.
Die ruhigen Augen schauen mich an. Es braucht keine Worte. Die Trauer bleibt im Herzen, doch der Verstand gewinnt für einen kurzen Augenblick die Oberhand und schafft ein kleines Lächeln und einen Händedruck. Sie nickt. Sie weiß, ich habe verstanden. Ich weiß, sie hat verstanden. Ich stelle das Glas zurück auf den Nachtisch. Sie schließt die Augen und ich löse meinen Griff. Einen weiteren Tag. Ich verlasse leise den Raum. Sie schläft. Bald wird sie nicht mehr erwachen. Aber einen Tag noch.