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Einen schwierigen Heimweg, den es nicht gab
Rot färbten sich Himmel und Wolken. Rea saß auf einem Felsvorsprung und schaute in die Weite, und war beeindruckt von der Farbenpracht, die fast zum Greifen nahe war.
Sie blinzelte, und die Wolken zogen weiter. Sie blinzelte erneut und schon wieder sahen die Bilder des roten Himmels anders aus. Ihr gefiel dieses Spiel und Ruhe breitete sich in ihr aus. Der Tag ging zu Ende, das Licht brach sich und Abendrot erstrahlte.
Rea Gedanken kreisten: „Am Tag sehe ich den blauen Himmel. Wenn die Sonne senkrecht im Zenit steht, müssen die Strahlen nur einen kurzen Weg durch die Luft zurücklegen. Das Licht wird entsprechend wenig abgelenkt, deshalb erscheint die Sonne weiß. Früh am Abend steht sie jedoch näher am Horizont. Die Lichtwellen fliegen eine längere Strecke durch die Atmosphäre. Die blauen Wellen werden dabei stärker abgelenkt und geraten so gewissermaßen außer Sichtweite. Übrig bleiben die langwelligen gelben und roten Lichtanteile, die dann das Abendrot an den Himmel zaubern. Das ist das schön“, dachte Rea.
Die Halbkugel der Sonne versank hinter dem Horizont. Es dämmerte, und kühler Wind kroch den Berg hoch. Rea fröstelte. Eigentlich wäre es an der Zeit, nach Hause zu gehen.
„Nur noch eine Viertelstunde“, dachte Rea und zog ihre Wolljacke fester um ihren Körper.
„Wo bleibt dieses verdammte Weib“, schrie Jakob durch das Haus. Niemand antwortete, was den großen schlaksigen Mann nur noch mehr auf die Palme trieb.
„Rea, ich habe Hunger. Rea, verdammt noch mal, komm her“. Es knarrten nur die Holzbalken und sonst war es ruhig im Haus. „Diese blöde Kuh, nie ist sie da, wenn ich sie brauche“, zeterte Jakob. Da niemand ihm antwortete, verwandelte sich der große Mann in ein kleines jammerndes Kind, und er heulte wie ein Schlosshund. „Rea, schluchzte er.“ Rea, wo bist du?“
Er war heute Nachmittag mit Kollegen im „Sternen“ zum Karten spielen gewesen. Er hatte viel getrunken und politisierte lautstark über die Ausländerpolitik. Je mehr er getrunken hatte, desto menschverachtender waren seine Statements. Alle hatten den Kopf geschüttelt und waren froh, als er gegangen war. Aber all dies hatte er nicht wirklich bemerkt. Der Heimweg dauerte ewig. Er stolperte von Stein zu Stein.
Jakob rappelte sich auf, entkorkte eine neue Flasche Rotwein, schenkte sich ein und trank in einem Zug das ganze Glas leer. „Dieser Kuh werde ich meine Meinung sagen. Die macht, was sie will. Ich werde ihr aber den Marsch blasen, weil kein Essen auf dem Tisch steht. Nicht mal vorbereitet hat sie etwas. So eine dumme Kuh.“ Jakob schrie es und wurde immer wütender. Er steigerte sich in diese Gefühle rein, bis er fast platzte, dann holte er den Koffer und warf Bekleidung und Dinge von Rea hinein. Er zerriss ihre Kleider und stopfte sie ebenfalls in den Koffer. Ein Glas Rotwein nach dem anderen rann indessen seine Kehle hinunter, bis er kaum noch stehen, geschweige denn denken konnte. Das Zimmer war ein wildes Chaos von Koffern, kaputten Sachen, offenen Türen und halb geleerten Schubladen.
Das Handy von Rea klingelte. „Hier ist Rea“, antwortete sie. „Und hier ist Anna“ klang es an ihr Ohr, „Hör zu, Ich wollte dir nur sagen, dass Jakob sturzbetrunken auf dem Heimweg ist. Sei vorsichtig, Rea“. Anna war besorgt, Rea konnte es deutlich hören. Sie fröstelte und wusste nun, warum sie nicht nach Hause gehen wollte. „Dank dir, Anna“, sagte sie und beendete das Telefonat.
Lange saß sie einfach da und merkte nicht einmal, wie sehr sie fror und dass die Nacht hereingebrochen war. Sie wusste nicht, was es noch zu denken gab. In ihr klangen die Versprechungen von Jakob, dass er aufhören würde, zu trinken, dass er sich dafür Hilfe holen wollte. Mit geschlossenen Lidern sah sie die Hochzeitsbilder, auf denen Jakob sie verliebt anlachte. Sie spürte fast körperlich die Geburt ihrer gemeinsamen Tochter, als er sich geradezu wie verrückt vor Freude verhielt. Sie sah Jakob mit der Tochter rumtollen, schmusen und herumalbern. Sie sah Jakob bei der Arbeit, wie kompetent er seine Kunden bediente. Sie sah ihn mit seinem Freund Toni, als sie gemeinsam mit Seil und Haken zum Klettern gingen. Sie fühlte seine Hand spürbar auf ihrem Körper und sehnte sich nach ihm.
Dann sah sie ihn am Grab der Tochter, als er grau und fahl, schluchzend und weinend dastand. Sie spürte die Schläge und Ohrfeigen, die er ihr gab, wenn er getrunken hatte. Sie hörte die hässlichen Worte, die er ihr entgegenschleuderte und fühlte, dass sie nicht mehr nach Hause gehen konnte.
Rot färbten sich der Himmel und die Wolken. Rea saß auf einem Felsvorsprung und schaute in die Weite und war beeindruckt von so viel Farbenpracht, die geradezu zum Greifen nahe war.
Der Morgen kam und die Sonne ging auf.