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Eine zweite Chance

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02.06.2001
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Eine zweite Chance

Im ersten Moment des entsetzten Erkennens war Sandra in stummem Grauen erstarrt. Dann war die lähmende Beklommenheit wie ein böser Fluch von ihr gewichen und sie stürzte zu dem Mädchen. Den Schal streifte sie dermaßen hastig von ihrem Hals, dass sie noch Stunden später gerötete Striemen hatte. Rasch packte sie den Arm des Mädchens und begann, den Schal um die Wunde zu wickeln. Tückisch wie ein Raubtier blitzte die Rasierklinge im dumpfen Schein der nackten Glühbirne auf.
Sandra schluckte hart und verknotete die Schal-Enden fest, um die Blutung zu stoppen. Angeekelt stellte sie fest, dass ihre Hände mit dem Blut des Mädchens besudelt waren. Sie schalt sich eine Närrin, die wertvolle Zeit vergeudete, sprang auf und läutete an der nächstgelegenen Haustür Sturm. Dabei ließ sie das hilflose Bündel Mensch keine Sekunde aus den Augen. Das Mädchen versuchte den Kopf zu heben, was jedoch misslang. Seine braunen, langen Haare waren schlampig nach hinten gekämmt und notdürftig mit einer Haarspange daran gehindert worden, ins Gesicht zu fallen. Der hübsche Norweger-Pullover war wie ein aktionistisches Kunstwerk mit Blutspritzern übersät. Beide Ärmel waren hochgekrempelt und offenbarten anhand der dünnen Ärmchen die zierliche Gestalt des jungen Menschen.
Die Tür blieb verschlossen und Sandra wandte sich zur Stiege, um in ihre Wohnung zu laufen. Das klirrende Geräusch einer Kette ließ Sandra herumwirbeln. Die Tür wurde geöffnet und ein verärgertes Gesicht lugte hervor.
„Rufen Sie die Rettung, schnell!“, schrie Sandra.
Der alte Mann stierte sie verständnislos an.
„Verdammt!“, brüllte sie und ballte unbewusst die Hände zu Fäusten. „Jetzt machen Sie schon!“
Naserümpfend drehte sich der Mann um und stapfte in die Wohnung zurück. Kurz überlegte sie, ob sie dennoch ihr eigenes Telefon benützen sollte, verwarf den Gedanken jedoch wieder bei einem Blick auf das Mädchen. Sandra kniete sich neben es und überprüfte, ob der Notverband noch hielt. Der Arm fühlte sich entsetzlich kalt an, als wäre alles Leben bereits daraus gewichen. Und sie könnte nichts, absolut nichts dagegen unternehmen!
„Alles wird gut, Kleines, wirst schon sehen“, murmelte Sandra und wusste nicht, ob diese Worte dem Mädchen oder doch ihr selber galten.
Vorsichtig streichelte sie seine Wangen, seine kalten, kalten Wangen, und flüsterte schier verzweifelt all den Unsinn, der ihr durch den Kopf ging.
„Die schicken einen Notarzt.“
Aus ihren Gedanken und der seltsamen Vertrautheit mit dem unbekannten Wesen neben ihr gerissen, schrak Sandra kurz auf.
Ein leises „Danke“ war alles, was sie anmerken konnte. Eine Zeitlang stand der Mann in alten Filzpantoffeln zwei Schritte vor ihr und starrte abwechselnd sie, dann das Mädchen wortlos an. Dann schüttelte er den Kopf und schlurfte zurück in die Wohnung. Das Verriegeln der Tür klang entsetzlich laut in der Stille des Aufgangs.
„Alles wird gut“, sagte Sandra und vergrub ihr weinendes Gesicht im dichten Haar des Mädchens. Absurder Weise glaubte sie, den Geruch von Rosmarin zu verspüren.

***

„Was ist denn los?“
Vor Schreck hätte sie beinahe die Obstkiste fallen gelassen. Irene lächelte sie aufmunternd an und füllte die Haken mit den aus Costa Rica importierten Bananen auf, die meisten noch fast so grün wie ungarischer Paprika. Schicksale ausgebeuteter Menschen standen hinter den exotischen Früchten, ging es Sandra durch den Kopf. Wie Marionetten monströser Puppenspieler aus fremden Galaxien hingen alle Menschen, die sie kannte, an Fäden und tanzten im Takt der neuen Weltordnung, die jener vor hundert oder tausend oder zweitausend Jahren glich: Die wesentlichen Entscheidungen wurden von Menschen getroffen, deren Gefühle kalt wie das Eis waren, das sie morgens in die Tiefkühltruhen legen musste.
„Du siehst schrecklich aus“, fuhr Irene fort. „Bist du krank?“
„Nein“, antwortete Sandra und schlichtete Äpfel in die vorgesehenen Mulden. Automatisch achtete sie darauf, die bräunlichen Stellen, wie sie beim Transport oft verursacht wurden, nach unten zu legen. Im Spiegel, der keinem anderen Zweck diente, als das Angebot größer wirken zu lassen, entdeckte sie ihr verquollenen Augen. Sie sah tatsächlich krank aus.
„Nein“, bekräftigte sie schwach. „Ich fühl mich etwas flau im Magen. Stell dir nur vor: Im Stiegenhaus fand ich heute ein Mädchen, das sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte.“
Einen Moment lang hielt Irene in ihrem Tun inne. „Oh nein!“
„Weißt du, sie-“
„Frau Fell?“, schnarrte eine gekünstelt auf Freundlichkeit verstellte Stimme hinter ihr. Sie musste sich nicht umdrehen um zu wissen, um wen es sich handelte. „Würden Sie bitte einen Augenblick in mein Büro kommen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging Hagensteck voran. Sandra stellte die Obstkiste auf dem Boden ab und folgte ihm.
Im Büro angekommen, ließ der Marktleiter seine Maske fallen und war nur noch ein sich öffnender Abgrund, vor dem sie stand. Sein pomadiges, schwarzes Haar gemahnte an zwei platt gepresste Blutegel, die sich an seiner Kopfhaut gütlich taten. Seine stechenden Augen durchbohrten sie mühelos und spießten jeglichen Gedanken an Verständnis brutal auf.
„Wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Schon wieder eine Stunde zu spät!“, herrschte er sie an, während er einen Tischkalender zur Hand nahm.
„Ich weiß, und es tut mir Leid, Herr Hagensteck. Aber da war ein Mädchen, das meine Hilfe brauchte und-“
„Klar, natürlich!“, schnitt der Marktleiter den Satz ab und grinste ekelhaft. „Und letzten Montag und … Mal sehen….“
Fast mechanisch blätterten seine dicken Finger die einzelnen Seiten durch. „Donnerstag vor drei Wochen. Dreimal in fünf Wochen!“
Sie öffnete den Mund ohne zu wissen, was sie entgegnen konnte. Am besten gar nichts, um nicht auch noch als aufsässig oder frech zu gelten.
„Einmal sehe ich darüber hinweg. Ich bin ja kein Unmensch. Aber sie überspannen den Bogen, Frau Fell!“
Hagensteck atmete tief durch, als müsste er sich zum entscheidenden Angriff sammeln. „Sehen Sie, ich bin für mehr als zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verantwortlich. Verantwortung verlangt aber auch Einsatz, Willen und Pünktlichkeit. Wenn ich mich nicht darauf verlassen kann, dass ein Mitarbeiter jeden Tag pünktlich zur Arbeit erscheint und neun Stunden lang hundert Prozent Leistung gibt, wird mich die Konzernleitung wohl sehr bald vor die Frage stellen, ob ich fähig bin, diesen Markt zu leiten. Und ich bin wirklich nicht gewillt, Ihretwegen in Kamalitäten zu geraten. Verstehen Sie das?“
Sandra spürte, wie sie rot anlief. Sie konnte nichts dagegen machen. Es war wie mit dem alten Trick, nicht an einen rosa Elefanten zu denken. Plötzlich fühlte sie sich den Tränen nahe und wurde schier überwältigt von dem Verlangen, jetzt, auf der Stelle, ihrem Herzen Luft zu verschaffen und hervorzuwürgen, was sie belastete.
„Wenn Sie auch nur einen Funken Anstand haben werden Sie wissen, wie unfair es von Ihnen ist, Ihren Kolleginnen und Kollegen auch noch Ihre Arbeit aufzuhalsen, bloß, weil sie aus welchen Gründen auch immer zu spät kommen. Oder finden Sie das etwa fair? Hm?“
Unter seinem prüfenden Blick konnte sie nur den Kopf schütteln.
„Schön. Dann passen Sie mal auf, Frau Fell: Wahrscheinlich bin ich ein viel zu gutmütiger Mensch. Aber ich gebe Ihnen noch eine Chance. Keine Ahnung, warum.“
Von seiner eigenen Güte berauscht, lächelte er sie an. Es war kein warmes Lächeln. Sandra blickte zu Boden. Gott, wie tief konnte sie denn noch sinken, ehe sie den Grund der Würdelosigkeit erreicht hatte?

***

Auf dem Weg zum Krankenhaus starrte sie lustlos aus dem Fenster. Rumpelnd quälte sich der Linienbus durch den Berufsverkehr. Als sie vor zwei Monaten in die Stadt gezogen war, hatte sie noch törichte Mädchen-Träume gehegt. Die Stadt hatte für sie mehr bedeutet als ein neues Lebensumfeld: Es war die geistige Abnabelung von der Plazenta familiärer Geborgenheit, die sie genährt hatte, bis sie fett und träge geworden war.
Doch die Ernüchterung war viel zu schnell gekommen, um Gefühle wie Enttäuschung zu gestatten. Der Moloch aus Beton, Plastik und Fleisch hatte sie beiläufig geschluckt und würde sie in blindem Instinkt erbrechen, alsbald er ihrer überdrüssig wäre.
Der Bus hielt an. Zischend öffneten sich die hydraulischen Türen. Sandra prüfte zur Sicherheit im Fahrplan, den sie bei sich trug, nach, ob sie auch wirklich an der richtigen Station aussteigen würde. Ruckelnd fuhr der Wagen an und beschleunigte.
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie den Namen des Mädchens gar nicht wusste. Vielleicht war es ohnedies bedeutungslos. Im Geiste spielte sie das Horrorszenario so vieler Filme ab, die sie gesehen hatte: „Es tut mir Leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass sie tot ist. Blablabla.“
Sandra spürt, wie sie noch blässer wird, als sie bereits ist, und den Fahrplan fast wie einen Rettungsanker vor der grausamen Wirklichkeit in Händen hält. Warum gab es bloß keine Fahrpläne für die eigene Existenz? Ein Drehbuch, an das man sich klammern konnte um zu wissen, was einem bevor stand? Ah, aber sie durfte nicht undankbar sein, glaubte sie doch, in bestimmten Situationen Regieanweisungen in Form kleiner Zeichen zu erhalten. Was, wenn nicht ein Fingerzeig des Schicksals, war vor etwas mehr als zwei Monaten das Gespräch mit ihrer Freundin Anke gewesen? Nebenher hatte ihr diese eröffnet, zu ihrem Freund nach Berlin zu ziehen. Und ob sie nicht jemanden wüsste, der ihre Wohnung übernehmen wolle?
Alle Probleme hatten sich mit einemmal scheinbar von selbst gelöst: Der erstickenden Enge der Familie entfliehen, ein neues Leben ohne ihren nervigen Verehrer Jochen zu beginnen, neue Leute kennen zu lernen, die einen nicht seit Kindesbeinen an kannten.
Der Euphorie war viel zu rasch die Ernüchterung gefolgt: Die Straßen waren auch hier nur mit Asphalt und Schlaglöchern gepflastert statt mit Gold, die Leute waren genau so unfreundlich und desinteressiert, sie als Person zu begreifen, nicht als sechzig Kilo Biomasse aus dem Supermarkt der Evolution, und die Einsamkeit der eigenen vier Wände erdrückte sie genau so wie der Stress, mit ihren Eltern und zwei kleinen Geschwistern auf engstem Boden leben zu müssen.
Der Bus hielt an und Sandra schrak aus ihren dunklen Gedanken auf. Keine Haltestelle, nur eine rote Ampel. Wie Spielzeugroboter wuselten Fußgänger über den Zebrastreifen, der trügerische Sicherheit versprach.
Sandra bemerkte, dass sie schwitzte: Der Folder klebte feucht an ihren Fingerkuppen und das Hochglanz-Papier erzeugte ein leises, schmatzendes Geräusch, als sie es ablöste. Sie stopfte den Fahrplan in ihre Handtasche und stand auf, um sich rechtzeitig durch die leiberverstopften Gänge zu kämpfen.

***

Zuerst war sie erschrocken gewesen, als sie erfahren hatte, dass das Mädchen noch auf der Intensivstation untergebracht war. Aber die nette Schwester, die auf Grund der Beschreibung sofort erkannte, von wem sie sprach, wusste sie zu beruhigen: Das Mädchen, Nora, war zwar außer Lebensgefahr, jedoch vorsorglich zur Beobachtung auf der Intensivstation behalten worden. Ein völlig normaler Vorgang an einem völlig normalen Tag in einem völlig normalen Krankenhaus.
„Hallo“, sagte Sandra und schloss die Tür leise.
Nora drehte den Kopf in ihre Richtung. Und lächelte. Anscheinend hatte sie Sandras Gesicht am Morgen wahrgenommen. Vielleicht beim Abtransport, als die Sanitäter sie auf die Bahre gelegt und festgeschnallt hatten.
„Hallo“, entgegnete das Mädchen so leise, dass Sandra sie kaum hören konnte.
Während sie an das Bett heran trat bemerkte sie, dass das lange Haar hinten zusammengebunden worden war. Warum fiel ihr ein so unwichtiges Detail auf?
„Wie geht´s dir?“, fragte Sandra, wohl wissend, wie dämlich das klang. Sie sah ja selbst, wie es Nora ging: In einem hässlichen Raum liegend, den linken Arm an eine Infusionsflasche angeschlossen, blass. Fröhlich sollte sie sein, daheim zu Abend essen, während im Fernsehen Nachrichten liefen. Oder in ihrem Zimmer, das mit Poster gerade angesagter Filmstars tapeziert war, verträumt aus dem Fenster blicken und warten, dass der Mond aufging. Oder mit Freunden ins Kino gehen. Irgend etwas – nur nicht hier an diesem schrecklichen Ort voll des Leides sein.
„Ich weiß nicht.“
Neben dem Bett standen zwei Stühle. Vermutlich waren ihre Eltern bereits hier gewesen. Sandra setzte sich. Auf dem Nachttischchen aus rostfreiem Stahl stand eine halb leere Plastiktasse. Das lebendige Grün eines Apfels daneben wirkte wie ein höhnischer Kontrapunkt zur Sterilität des Zimmers.
Ächzend setzte sich Nora auf. In ihrem blütenweißen Nachthemd sah sie ein bisschen wie ein biblischer Engel aus, dem man die Flügel gestutzt hatte, um ihn auf Gottes grüner Erde gefangen zu halten.
„Irgendwie befreit, irgendwie aber auch nicht so gut. Verstehst du das?“
Die Frage wirkte unschuldiger, als sie war. Sandra dachte kurz darüber nach, von der Angst beseelt, die falsche Antwort zu geben.
„Ich bin mir nicht sicher.“
Die blauen Augen des Mädchens taxierten sie und Sandra glaubte, noch etwas hinzufügen zu müssen. „Aber ich würde es gerne verstehen.“
„Wie heißt du denn eigentlich? Ich heiße Nora.“
Sandra verriet ihr ihren Namen.
„Hübsch“, konstatierte Nora trocken und grinste.
„Erstaunlich“, dachte Sandra. „Noch vor zehn Stunden war sie erkaltendes Fleisch in meinen Händen. Und jetzt liegt sie hier, unterhält sich mit mir, lächelt. Lebt. Atmet.
Noras Miene verfinsterte sich. „Bestimmt halten mich jetzt alle für verrückt.“
„Und wenn schon“, entgegnete Sandra. „Als ich die Schule schmiss hielten sie mich auch für verrückt.“
Die Augen des Mädchens weiteten sich, wie Sandra amüsiert feststellte. „Du hast die Schule geschmissen? Echt?“
Sandra nickte. „Vor, hm, anderthalb Jahren. Hatte keinen Bock mehr. Aber das soll keine Aufforderung sein, klar?“
„Wie alt warst du da?“, wollte Nora wissen, wie fast jeder Heranwachsende gleichermaßen ohnmächtig daran erinnert, dass die Schule der Dreh- und Angelpunkt der eigenen Welt war, die doch so viel größer und interessanter erschien ohne Prüfungen, Noten und Lehrer.
„Siebzehn. Habe dann im Laden meiner Eltern mitgearbeitet und bin vor zwei Monaten hierher gezogen.“
Nora blickte sie ernst an. „Hast du´s auch nicht mehr ausgehalten in der Schule? Und dir sind deine Alten deswegen auf die Pelle gerückt?“
„So ähnlich“, sagte Sandra und seufzte tief durch. Sie verspürte wenig Lust, auf ihre eigenen Probleme einzugehen. Andererseits erlangte sie dadurch das Interesse und vielleicht auch Vertrauen Noras. „Es ging mir nicht so gut und ich sah keinen Sinn mehr darin, das Abi zu machen, nur, weil es die meisten anderen auch haben.“
Verstehend nickte Nora. Sie wirkte nicht mehr so blass wie noch vor wenigen Minuten.
„Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, noch vier Jahre mit der Schule durchzuhalten. Aber meine Eltern sind da so wie deine: Du brauchst dein Abi und -“
„Was denn“, unterbrach Sandra. „Du bist fünfzehn?“
„Ja. Die meisten Leute glauben, ich sei vielleicht zwölf. In der Disco bekomm ich nicht mal Cola-Rum.“
Über diese Bemerkung musste Sandra lachen. „Selbst mit fünfzehn dürftest du keinen Alkohol trinken.“
„Ich tu´s aber trotzdem“, sagte Nora fast trotzig, als hätte ihr Sandra etwas verwehrt. „Manchmal geh ich zu einer Freundin und wir trinken ein bisschen Schnaps. Wir nippen nur dran. Dann fühlen wir uns ein bisschen erwachsener.“
„In deinem Alter habe ich zu rauchen begonnen“, erklärte Sandra. „Anfangs nur heimlich, später dann ganz ungeniert. Habe damit aufgehört, als -“
Sie hielt kurz inne, unsicher darin, sich dem Mädchen zu offenbaren. Vielleicht würde sie es ihr ein ander Mal erzählen. Aber nicht hier und heute. Nicht an diesem Ort und nicht unter diesen Umständen. „Nun, als ich damit nicht mehr schockieren konnte“, schob sie vor.
„Ich wollte nicht schockieren. Ich wollte sterben.“
Sandra fühlte ein Frösteln, das sich zuerst in ihrem Herzen bemerkbar machte. Was mochte in diesem jungen Körper vorgehen, dass er sich nach dem Unvermeidlichen sehnte, das ihn früher oder später ohnedies ereilen würde?
„Du bist noch viel zu jung dafür.“
In ihrer Stimme lag eine Spur Empörung. „Entschuldige. Ich will nicht mit einer blöden Moralpredigt oder so kommen.“
„Schon okay“, flüsterte Nora und gähnte herzhaft. „Sorry.“
„Ich muss sowieso gehen“, log Sandra. Was wartete zu Hause schon auf sie? Die Einsamkeit würde auch ohne sie den sauren Atem der Hoffnungslosigkeit in ihre Wohnung erbrechen. „Hör mal, du musst dich gut erholen, verstehst du?“
„Ja. Kommst du wieder? Bitte!“
Innerlich tief berührt, sagte sie zu. Es war ein anderes „Bitte“, als sie es gewohnt war. Keine versteckte Aufforderung oder die leere Hülse einer Höflichkeitsfloskel, sondern der Wunsch nach menschlicher Zuneigung.

***

Und wie es ihrem Charakter entsprach, hielt Sandra Wort. Jeden Tag besuchte sie Nora, stellte erfreut fest, dass die Narben an ihrem Arm heilten, bis sie fast harmlos aussahen, wie eine versehentliche Blessur. Da Noras Eltern stets tagsüber kamen, begegnete sie ihnen in der Station nie. Einerseits war sie darüber nicht unglücklich. Andererseits nahm sie sich vor, irgendwann ein ernstes Gespräch mit ihnen zu führen.
„Morgen darf ich raus“, eröffnete ihr Nora nach zwei Wochen.
Sie saßen auf einer Bank im angrenzenden Park. Nora in ihrem weißen Nachthemd, das sich in der warmen Juli-Brise wie ein atmendes Wesen aufblähte und wieder zusammensank, Sandra in Jeans und einer dünnen Bluse. Die Gebäude vor und der Lärm der Straßen hinter ihnen zermürbten die junge Frau. Wenngleich sie es sich nicht eingestehen wollte, vermisste sie die fast idyllische Ruhe der Kleinstadt, in die sie hineingeboren worden war.
„He, super!“, sagte Sandra und lächelte ihr aufmunternd zu.
Doch Nora rümpfte die Nase. „Ich weiß nicht. Ich muss dann in so ne Therapie. Und in die Schule muss ich dann ja auch wieder. Die werden mich ganz schön nerven, mit ihren Fragen und guten Ratschlägen.“
„Wahrscheinlich“, entgegnete Sandra. „Nicht, dass ich so großartige Lebenserfahrung hätte. Aber ich glaube, das gehört zum Leben einfach dazu. Man sieht sich in einem Wettbewerb mit allen anderen und freut sich, wenn ein anderer auf die Schnauze fällt und es einen selber nicht betrifft. Das ist so wie die Erleichterung, wenn man bei einem Test schummelt und ein anderer erwischt wird. Verstehst du, was ich meine?“
Nora blickte sie ernst an. „Glaub schon. Man fühlt sich irgendwie … besser. Ich ging mal in einen Zeichenkurs, wo ein Junge war, der im Rollstuhl saß. Er tat mir natürlich Leid. Aber -“
Rasch wandte sie den Blick wieder ab. „Irgendwie war ich froh, dass es nicht mich betraf. Und ich fühlte mich dann saumies und gemein, wenn ich erleichtert wieder nach Hause fuhr. Weil ich ja gehen konnte, wohin ich wollte, und keine Hilfe brauchte.“
Eine Zeit lang schwiegen die Beiden. Die Sonne war vollständig hinter dem riesigen Bürokomplex einer Versicherungsgesellschaft verschwunden und alles, was noch von ihrer Existenz zeugte, waren lange Schatten. Eine ältere Frau humpelte auf zwei Krücken quälend langsam an ihnen vorbei und wurde von einem Jogger überholt, dessen Laufschritte rhythmisch wie ein penibles Uhrwerk auf den knirschenden Schotter klatschten.
„Ich glaube, du musst dann wieder auf dein Zimmer.“
„Ja, Mami“, entgegnete Nora mit einem breiten, kindlichen Grinsen, dessen ansteckendem Charme sich Sandra nicht entziehen konnte: Sie lächelte gleichfalls.
„Hör mal, wir wohnen ja im gleichen Haus. Wenn du Lust hast, besuch mich doch. Oder wenn du einfach nur reden möchtest. Okay?“, schlug Sandra vor. „Ich bin so ab halb sieben zu Hause.“
„Klasse!“, jauchzte Nora fröhlich und umarmte ihre perplexe Freundin, die nicht so Recht wusste, wie ihr geschah. Nach einer kurzen Schrecksekunde erwiderte sie die Geste, schloss die Augen und freute sich ob des Gedankens, vielleicht doch zu etwas nützlich zu sein und dergestalt vieler Menschen Worte Lügen zu strafen.
„Ach wenn sie mich doch jetzt sehen könnten!“, ging es ihr durch den Kopf, während sie das Mädchen zärtlich in ihren Armen schaukelte und es nie wieder der kalten Welt außerhalb ihrer Gefühle ausliefern wollte.

***

„Nette Wohnung“, bemerkte Nora leidenschaftslos und nippte an der Cola.
Fast wirkte sie wie ein anderer Mensch, da sie nunmehr bunte Kleidung trug und Sandra fühlte sich absurder Weise an die Metamorphose einer Raupe zu einem schillernden Schmetterling erinnert.
„Quatsch“, entgegnete Sandra und stieß einen Seufzer aus.
Die Wohnküche, in der sie saßen, hatte ihre besten Zeiten längst hinter sich. Durch den Dunst vom Herd blätterte die billige Furnier der Küchenmöbel bereits ab und die Tapeten an der Wand waren eine ausgesuchte Hässlichkeit der 80er Jahre. Der billige Teppichboden wies unzählige Flecken auf, die zum Raten einluden, wo welche Speise ihren Fingerabdruck hinterlassen haben mochte.
„Aber was Besseres kann ich mir nicht leisten“, fügte sie beinahe entschuldigend hinzu.
„Sagen meine Eltern auch immer. Dabei ist mein Zimmer so klein, dass grade mal ein Bett, ein Kleiderschrank und ein Schreibtisch reingehen. Ich fühle mich da oft so beengt, dass ich raus gehe, um ein bisschen durchatmen zu können.“
„Das ist natürlich doof. Wir waren vier Kinder, und jedes hatte sein eigenes Zimmer. Meines war, hm, etwa so groß wie der Raum hier.“
„Und dann ziehst du hier her?“, fragte Nora in wahrhaftem Erstaunen.
Sandra zuckte mit den Achseln. „Ich hielt´s einfach nicht mehr aus und wollte auf eigenen Beinen stehen. Außerdem hatte ich ein wenig Stress mit meinen Eltern.“
Tatsächlich hatte sie jeglichen Kontakt zu ihnen abgebrochen und nicht einmal ihre Wohnanschrift angegeben. Zur Sicherheit hatte sie den Handy-Betreiber gewechselt, um eine neue Telefonnummer zu bekommen. Manchmal war die Versuchung, zu Hause anzurufen, größer als die Angst, Vorwürfe an den Kopf geschmissen zu bekommen. Wie mochte es ihren Eltern gehen? Und Jan, der beschlossen hatte, zu Hause zu bleiben um einmal den Laden zu übernehmen?
„Du hast mich noch gar nicht gefragt, wie mein erster Schultag und meine erste Bekloppten-Sitzung waren.“
„Entschuldige!“, rief Sandra lachend. „Also, wie war´s?“
„Überraschend lustig“, erklärte das Mädchen und rückte mit dem Stuhl näher an den Tisch ran. „In der Schule hat zwar jeder getan, als wäre nichts passiert. Aber irgendwie hatten sie wohl Angst, ich würde ausflippen oder so. Stell dir vor: Alle Fensterflügel waren geöffnet. Nur der in meiner Sitzreihe war gekippt. Die dachten wohl, ich würde gleich rausspringen.“
Begeistert sprudelten die Worte aus ihrem Mund. „Wie ein rohes Ei haben sie mich behandelt! Aber wirklich lustig war dann die Therapie bei so einer alten Tussi, die auf verständnisvoll machte und mir tausend Fragen stellte. Als würde ich nicht merken, dass die mich zum Reden bringen möchte. Und dann ließ sie mich einen Baum zeichnen und meinte, ich hätte kein Vertrauen in die Zukunft, weil … ich weiß auch nicht mehr genau. Weil ich keine Wurzeln gezeichnet hatte, oder so. Völlig bescheuerte Kacke halt.“
Noras Augen leuchteten beim Erzählen und Sandra fühlte, wie gut es dem jungen Menschen tat, einfach zwanglos zu reden, ohne Angst, das Falsche zu sagen oder in eine bestimmte Richtung gedrängt zu werden.
„Na ja, ich war zwar noch nie in Therapie, denke aber doch, dass das Sinn macht. Eine Freundin von mir ging mal ein oder zwei Jahre, weil sie an Sozialphobien litt.“
„He!“, sagte Nora. „Zu wem hältst du eigentlich?“
Und beide lachten herzhaft, ehe Sandra wieder ernst wurde. „Und deine Eltern? Wie haben sie reagiert?“
Darüber dachte Nora einige Sekunden lang nach. „Die waren zwar nett wie nie. Aber egal, was sie sagten – irgendwie klangen doch immer Vorwürfe durch. Wahrscheinlich wissen sie nicht, was sie mit mir tun sollen.“
Sandra nickte. „Soll ich mal mit ihnen reden?“
Erstaunt registrierte sie, wie Nora zusammen zuckte. „Ne, lieber nicht. Ich glaube nicht, dass das was ändern würde.“
Dagegen wollte Sandra protestieren. Doch sie entsann sich des Verhältnisses zu ihren Eltern. Hätte die Intervention eines Fremden zur Entspannung ihrer Konflikte beigetragen? Wäre es nicht vielmehr peinlich gewesen für Sandra, hätte jemand zu vermitteln versucht?
Vielleicht gab es auf solche Fragen gar keine eindeutigen Antworten und wie in einem endlosen Kreislauf mussten sich die jüngeren Generationen von den älteren unverstanden wissen, genau so, wie die Körpersprache eines Hundes von einer ihn argwöhnisch beobachtenden Katze falsch interpretiert wurde.
„Wahrscheinlich hast du Recht“, gab Sandra zu. „Himmel, ich benehme mich ja echt schon wie eine Glucke.“
„Tust du nicht“, flüsterte Nora, „sonst hättest du mich damit gelöchert, warum ich mich umbringen wollte.“
Die kühle Feststellung traf sie unvorbereitet; natürlich hatte sie oft über diese Frage gebrütet und sie doch niemals gestellt. Instinktiv ahnte sie aber, dass diese das Vertrauen Noras in sie untergraben könnte. Manche Fragen wurden auch ohne Drängen beantwortet, und Sandra war optimistisch, dass diese dazu gehörte.
„Wenn du die Zeit reif findest, wirst du es mir erzählen“, sagte Sandra und war über ihre eigenen Worte erstaunt. Tatsächlich schienen die Worte auch ihr selbst zu gelten. So vieles war ungesagt, das ihre Seele unerbittlich aushöhlte.
„Gehen wir ins Kino?“, fragte Nora plötzlich.
„Jetzt? Es ist schon ziemlich spät. Musst du nicht für die Schule was lernen?“
Nora lächelte verschmitzt. „Ja, eben deshalb!“

***

Unverwandt starrte Sandra die Frau an, die sich als Noras Mutter vorgestellt hatte. Die kleine, dünne Gestalt unter dem Türbogen schien weniger mit Nora gemein zu haben denn Sandra. Aus grau-grünen Augen, die wie Fremdkörper in dem teigigen Gesicht wirkten, blickte sie Sandra traurig an.
„Ich habe mich noch gar nicht bei ihnen bedankt, dass sie unsere Tochter gerettet haben“, sagte sie mit leiser, fast piepsiger Stimme.
„War doch selbstverständlich“, sagte Sandra automatisch. „Wollen Sie nicht reinkommen?“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Ich wollte mich eigentlich nur bedanken bei Ihnen und mir ein Bild von Ihnen machen. Nora redet viel von Ihnen, wissen Sie.“
„Oh“, meinte Sandra. Sie wurde sich bewusst, dass sie mit der Linken immer noch die Klinke fest hielt, was so aussah, als wollte sie die Tür gleich wieder schließen. Deshalb verschränkte sie die Arme hinter dem Rücken. „Tatsächlich?“
„Ja. Natürlich freut mich das, weil sie ja eigentlich nie eine Freundin hatte. Und wenn sie von Ihnen erzählt hat man das Gefühl, dass sie endlich eine gefunden hat. Ich hoffe nur, dass Sie sich nicht, wie soll ich sagen, überfordert fühlen.“
Sandra setzte ein Lächeln auf, um ihr Gegenüber zu beruhigen. „Nein, überhaupt nicht! Nora ist ein nettes Mädchen, das noch zu sich finden muss. Ich denke, das ist völlig normal in dem Alter und -“
„Normal?“, schnitt Noras Mutter den Satz ab. „Mein Mann und ich machen uns große Sorgen um Nora. Eben weil sie nicht normal zu sein scheint.“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun ja, sie ist irgendwie anders“, begann die Frau und leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Dabei blickte sie an Sandra vorbei, als könnte sie es nicht ertragen, das Folgende ins Gesicht zu sagen. „Sie interessiert sich nicht für das, was Mädchen normaler Weise interessiert. Also Partys, Discos und Jungen. Sie liest viel, redet manchmal gar nichts und ist einfach total verstockt.“
„Ich finde das nicht abnormal, um ehrlich zu sein. Jeder Mensch ist nun mal anders.“
Kurz schwieg Noras Mutter. „Die Therapeutin, bei der sie in Behandlung ist, meint, dass Nora Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen hat. Dass sie keine Freude am Leben hat und so weiter. Das ist nicht gerade etwas, das meinem Mann und mir Zuversicht gibt, verstehen Sie?“
„Ich denke schon. Aber ich kann Ihnen nur versichern, dass sie mir wie ein völlig normales Mädchen vorkommt.“
„Trotz des Selbstmordversuchs?“
„Ja“, antwortete Sandra ohne zu zögern. „Natürlich war das schockierend. Aber sie hat es im Stiegenaufgang gemacht, auf eine Weise die es ermöglichte, sie zu retten.“
Die ältere Frau blinzelte verständnislos.
Geduldig führte Sandra weiter aus. „Im Grunde war das ein Hilfeschrei, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Wäre sie vom Dach gesprungen, wäre das etwas anderes gewesen. Doch auf diese Weise wollte sie sich nicht wirklich umbringen. Sie wollte gefunden werden. Sie wollte, dass man ihr hilft.“
Die ungeschönte Wahrheit war das natürlich nicht. Immerhin waren die Schnitte tief genug gewesen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Hätte man sie eine viertel oder halbe Stunde später aufgefunden, wäre sie nicht mehr zu retten gewesen. Aber mit kleinen Lügen ließ es sich leichter leben, selbst wenn man sie selber erfand und viel Phantasie aufbringen musste, um an sie glauben zu können.
„Das klingt ja ganz einleuchtend. Aber warum will sie dann nicht, dass wir ihr helfen, ihre eigenen Eltern?“
Sandra winkte lächelnd ab. „Wenn man in der Pubertät steckt oder gerade daraus entwachsen ist, sind die eigenen Eltern doch die letzten Menschen, denen man vertraut. Das war bei mir nicht anders, da spreche ich aus Erfahrung. Geben Sie ihr etwas Zeit, um ihr Vertrauen wieder zu gewinnen.“
„Wieder? Sie hatte nie welches.“
„Geben Sie ihr Zeit“, drängte Sandra erneut, obwohl sie selber nicht so richtig überzeugt von ihrem Rat war.

***

„Ich möchte nicht so werden wie meine Eltern. Deshalb wollte ich sterben“, platzte Nora eine Woche später heraus, während sie auf dem winzigen Balkon saßen, der gerade Platz genug für zwei Klappstühle und ein kleines Tischchen bot. Sandra verschluckte sich an der Limonade und hustete.
„Wie meinst du das?“, fragte sie krächzend, als sie wieder Luft gewonnen hatte.
Nora winkelte die Beine an und blickte hinauf zum Himmel, der so anders war als die vom Menschen regulierte Farbenwelt aus Grau und Schwarz.
Sie leben nicht wirklich. Sie sind wie Roboter, die man jahrelang mit bestimmten Vorstellungen gefüttert hatte und die seitdem keinen Zentimeter davon abgewichen sind. Sie gehen zur Arbeit um Geld für Dinge zu verdienen, die sie angeblich unbedingt brauchen. Mich haben sie in die Welt gesetzt, weil man halt wenigstens ein Kind haben sollte. Manchmal laden sie ein paar Bekannte ein, mit denen sie Müll labern und bei deren dämlichen Scherzen sie gekünstelt lachen. Aber ich will frei sein, Sandra, frei zu denken, fühlen, tun, was ich will. Nicht, was ein anderer oder die Gesellschaft will. Macht das Sinn?“
„Soll ich dir was verraten?“
„Klar.“
Sandra stellte das Glas auf dem kleinen Plastik-Tischchen ab. „Das sind Gedanken, die wohl jeder in seiner Jugend hat. Man denkt, man sei der Einzige mit solchen Gedanken oder mit bestimmten Problemen. Und später kommt man drauf, dass man der Einzige gewesen wäre, hätte man sie eben nicht gehabt.“
Als sie das Mädchen betrachtete hatte sie einen seltsamen Moment lang das Gefühl, sie wäre in den wenigen Wochen, die sie sich kannten, erwachsener geworden.
„Genau das Selbe hatten sich meine Eltern geschworen: Sie wollten nie ein so spießiges und eintöniges Leben wie ihre Eltern führen. Und weißt du was? Sie wurden zu ihren Eltern, trotz aller guter Vorsätze.“
„Hm“, machte Nora und runzelte die Stirn. „Das klingt ziemlich schicksalhaft, als könnte man gar nicht verhindern, so zu werden.“
„Na ja, vielleicht irre ich mich. Ist nur eine Theorie meinerseits. Frag doch die Bekloppten-Tussi, wie du sie nennst!“
Noras helles Lachen korrigierte Sandras Gedankengang: Nicht Nora war erwachsener geworden, sondern sie selber. Die Zeit, sich auf jugendlichen Leichtsinn auszureden war vorbei; dies war ihr Leben, mit allen Konsequenzen. Eine davon war, sich der Wahrheit zu stellen und dem Trug abzuschwören.
Manchmal schien die Last der Existenz zu schwer, um auch nur einen einzigen Atemzug zu machen; doch in diesem Moment war ihr, als wäre die Last gewichen, die sie auf dem Boden hielt, und sie begann sich frei zu fühlen, wie sie dahinschwebte im Orbit ihrer Gefühlswelt.
„Ich war schwanger“, begann sie, ein Lächeln auf ihren schmalen Lippen. Dabei drehte sie den Kopf und blickte zu Nora hinüber, die sich nun aufrichtete, ohne ein Wort von sich zu geben. „Deshalb schmiss ich die Schule. Ich war eine ziemlich gute Schülerin. Mein Weg war, nun ja, vorgezeichnet. Abitur und ein Wirtschaftsstudium, um später das Geschäft meiner Eltern zu übernehmen. Statt mir wird nun mein jüngerer Bruder Jan in den Laden einsteigen.“
Sie wartete, ob Nora etwas erwidern würde. Ihr Schweigen ermunterte sie fortzufahren. „Ich war eine gute Schülerin, aber eine verdammte Idiotin, was das echte Leben betraf. Ich konnte Körper berechnen, fast fehlerfrei Aufsätze in Deutsch, Englisch und Spanisch schreiben, kannte wichtige historische Eckdaten, wusste, wie ein Orkan entsteht und so weiter und so fort. Aber alles, was außerhalb der Lehrbücher existierte, war mir fremd.“
Der Wind wurde stärker und kühlte die Abendluft ab. Der Smog färbe die Sonne unnatürlich rot. „Ich war geschmeichelt, als sich Bernd für mich zu interessieren begann. Er war Student und schien mir so wahnsinnig reif und lebenserfahren. Dabei war er nur vier Jahre älter. Er war anders als die Jungen in meinem Alter. Erwachsen, ernst und witzig zugleich und anders. Er war ernsthaft an mir interessiert, unterhielt sich gerne mit mir, lehrte mich so manches, ging mit mir zu Konzerten oder ins Theater, schien mich einfach zu verstehen und nicht als sexuelles Freiwild zu sehen, das man erlegt, mit schönen Worten ausstopft und ins Bett legt, um später damit vor den Freunden anzugeben und es mit einem Fußtritt wieder loszuwerden.
Aber natürlich nicht Bernd. Er war anders. Bis ich ihm eröffnetet, dass ich schwanger sei.“
Die Erinnerung tat immer noch weh, trotz der zeitlichen und räumlichen Distanz. Das war das Grausame an Erinnerungen: Sie wurden schwächer oder stärker. Aber der Schmerz blieb stets der gleiche. Sandra schluckte hart.
„Er wollte es nicht. Es sei noch zu früh, und überhaupt wäre er sich ja nicht sicher, ob wir wirklich zusammen passen, und all dieser Rechtfertigungs-Müll. Dass er gleichsam Verantwortung trug, schien ihm gar nicht aufgefallen zu sein.
Und anstatt mir Rückhalt zu geben, machten mir meine Eltern auch noch Vorwürfe und malten meine Zukunft in düstersten Farben aus. Ich fühlte mich, als wäre ich nicht schwanger, sondern ein Verbrecher, der sich höchstens noch aussuchen durfte, welches Folterwerkzeug ihm genehm war.“
Tröstend warm fühlte sich der Arm an, der sich um ihre Schultern legte. „Also entschied ich mich für das geringere Übel, wie es hieß. Und kann mich seitdem nicht mehr in den Spiegel schauen. Ich sehe das Bild einer Mörderin. Und dafür hasse ich Bernd so sehr. Und weil ich Bernd hasse, hasse ich mich selber. Scheiße.“
Mit einer schnellen Handbewegung wischte sie die Tränen weg. „Pass bloß auf, dass du niemals in Selbstmitleid versinkst. Damit machst du dich nur lächerlich und kriegst Falten.“
„Und wenn schon“, flüsterte das Mädchen in ihr Ohr. „Wir können nicht junge, schöne Helden bleiben.“
Schweigend boten sie einander Trost, bis die Kälte sie in die Wohnung trieb.

***

Aber der Trost war von kurzer Dauer, wie sie am nächsten Tag feststellen musste. Und das Schicksal vergaß nie ein Gesicht – mit berechnender Unbarmherzigkeit hielt es neue Unbill für jene bereit, die es sich eingeprägt hatte.
Bereits auf dem Weg in Hagenstecks Büro ahnte sie das Ungemach, das beiläufig über sie einbrach.
„Es tut mir ehrlich Leid“, spulte der Markleiter automatisch ab, „aber wir müssen uns von Ihnen trennen. Die Direktiven aus der Zentrale sind unmissverständlich und zwingen uns zu Personaleinsparungen. Das mag Ihnen natürlich unfair erscheinen. Doch Tatsache ist, dass sie sich einige Male als unzuverlässig bewiesen und –“
Den Rest des Hörspiels übertönten ihre Gedanken: Was tun was tun was tun…
Während sie mechanisch nickte, entwickelte ihr Verstand ein Katastrophenszenario nach dem anderen. Für Hoffnung blieb da kein Platz mehr.
Gerne hätte sie sich wenigstens verteidigt, hätte eingeworfen, dass sie nicht aus purer Boshaftigkeit einige Male zu spät gekommen war, sondern durchaus berechtigte Gründe anführen konnte; oder dass sie wohl kaum die einzige Regalbetreuerin der Weltgeschichte war, der schon mal eine Palette Erdbeeren auf den Boden gefallen war Aber ein Blick in Hagenstecks starre Augen verrieten ihr, dass dieser Mann Opfer seiner eigenen Karriere geworden und gestorben war, ohne es zu bemerken. Womit sie es zu tun hatte, war ein notdürftig geflicktes Wrack, das man mit Geld, klugen Seminar-Worten und etwas Wirtschafts-Jargon ausgestopft hatte, um es künstlich am Leben zu erhalten. Mit einer solchen Lebensform konnte man über Umsätze, Vorteile von Leasingarbeitern oder geänderten Produkthaftungsgesetzen reden – keinesfalls über die Notwendigkeit, in andere Leben schützend einzugreifen, obwohl man ein zu spätes Erscheinen riskierte und dafür einen Strafpunkt beim Jüngsten Gericht der knallharten Lebensmittelbranche kassierte.
Sie hörte sich Hagenstecks Ausführungen zu Ende an und war froh, als sie endlich nach Hause gehen konnte.
Nach Hause, wo immer das auch sein mochte.

***

Sie drehte den Wasserhahn zu und legte sich in die Wanne. Der heimelige, sanfte Kamillen-Duft wirkte beruhigend auf sie ein und versetzte sie gemeinsam mit der Flasche Wein, die sie getrunken hatte, in fast hypnotischen Seelenfrieden. Ein bisschen hatte sie ein schlechtes Gewissen dabei, denn sie wusste, dass sie gescheitert war und keinen Grund hatte, schier bester Laune ein warmes Bad zu nehmen.
Von Alkohol und der Hitze benebelt, drehte sich die Decke über ihr, als wäre sie eine Papierkulisse im Wind. Auf dem Korbstuhl lag das Handy. Ein paar Mal lugte sie hinüber und war versucht, es zu nehmen und einfach anzurufen. Aber ein mitternächtlicher Anruf ihrer betrunkenen Tochter hätte ihre Eltern kaum versöhnlicher gestimmt.
Unbeholfen versuchte sie, das Shampoo in ihren Haaren zu verteilen. Dabei leerte sie den halben Inhalt in die Wanne. Ihr war kotzübel und sie legte sich wieder hin, statt zu hocken. Das flaue Gefühl im Magen und im Kopf ließ sich damit leichter ertragen. Sandra konnte sich nicht entsinnen, jemals betrunken gewesen zu sein. Höchstens ein Glas Rotwein oder ein Glas Sekt zum Anstoßen. Niemals eine ganze Flasche…
„Ganze Flasche“, wiederholte sie und schloss die Augen in der Hoffnung, sich nicht zu übergeben.
Welche Alternativen gab es dazu, mit eingekniffenem Schwanz reuig zurückzukehren?
Sie konnte sich einen neuen Job suchen, natürlich. Doch auf Grund fehlender Ausbildung würde sie wohl kaum auf einen gut dotierten, geschweige denn sicheren Arbeitsplatz hoffen dürfen. Märchenprinzen existierten lediglich in dummen Trivalromanen oder auf der Leinwand. Und Wunder … Nun, Wunder widerfuhren dem Gläubigen, nicht dem Skeptiker, wie sie einer war. Ein Wunder wäre es gewesen, wenn sich Bernd über ihre Nachricht gefreut hätte und sie eine Familie gegründet hätten. Oder wenn er sie nach der Abtreibung nicht wie ein schmutziges Geheimnis behandelt hätte.
Nach Hause? Was hieß das: Endlose Vorhaltungen ihrer Eltern, wie undankbar sie doch sei; die zudringliche Neugierde der Kleinstadtgeister; Jans Missmut über seine nie besonders geliebte Schwester.
Am Bittersten fand sie jedoch den unerträglichen Gedanken, Nora schutzlos zurückzulassen. In den vergangenen Tagen war sie sich dessen bewusst geworden, dass sie das Mädchen nicht einfach lieb gewonnen hatte, sondern sie vielmehr als ihr Kind betrachtete. Ihr zweites Kind. Und dieses Mal durfte es nicht sterben! Es musste leben, damit sie leben konnte.
Sandra merkte, dass sie zu tief ins Wasser gerutscht war und hustete das schaumige Badewasser aus dem Mund. Sie versuchte, sich aufzurichten, wurde dafür jedoch mit einem stechenden Schmerz im Kopf bestraft. Zischend sog sie die angenehm schwüle Luft ein, die merkwürdigerweise ein bisschen nach Rosmarin zu duften schien, und legte sich wieder in ihrer ganzen Länge hin.
Der Vorteil, den ihre Trunkenheit hatte, war, dass sie Gedanken hegte, die sie im klaren Zustand wohl kaum verfolgt hätte. Wie konnte sie in Nora nur ihr eigenes Kind erkennen? Weil sie bei ihrer ersten Begegnung Noras Blut an jenes gemahnt hatte, das sie vergossen hatte, wofür sie ewige Schuld auf sich geladen hatte?
Mit einem Mal schien alles so klar: Es war eine Fügung des Schicksals gewesen! Sie hatte ihr Kind töten lassen und dennoch eine zweite Chance erhalten, indem sie Nora gerettet hatte. Nora war in gewissem Sinne ihr Kind und sie hatte die Verantwortung für sie zu übernehmen. Gott, sie liebte sie so sehr, und Nora liebte sie.
Eine Trennung kam nicht in Frage. Unmöglich. Niemals. Angenommen, sie kehrte zu ihren Eltern zurück und erschuf sich dort eine bescheidene Existenz. Dann konnte sie Nora trotz allem besuchen oder ihrerseits Nora zu sich einladen? Vielleicht würde das kräftige Grün der ländlichen Kleinstadt die graue Tristesse aus ihrem jungen Herzen drängen und mit neuer Hoffnung erfüllen. Und gleichsam Sandra mit Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft versorgen. Gleich morgen würde sie alles Entsprechende arrangieren, würde mit ihren Eltern reden und sie um eine Chance bitten, würde Nora die Lage erklären und ihr erneut versprechen, dass alles gut werden würde und sie sich oft sehen und viel zusammen unternehmen würden, wann immer es ginge. Alles wird gut…
Sandra lächelte ob dieses Gedankens. Aus Samtpfoten schlich der Schlaf sich heran und übermannte sie unversehens.
Mit ihren warmen Händen hatte sie damals Noras kalte Arme gestreichelt. Warm und tröstend waren ihre Hände gewesen.
Die Hände, die nun unsanft nach ihr griffen, waren kalt.
Eiskalt und bar jeder Hoffnung.

 

Hallo Rainer!
Eine Typisch gute Rainer-geschichte.
Das war aber das positivste das ich sagen kann.
Denn das du gut schreiben kannst, weißt du selbst am besten.
Aber soll es das für dich schon gewesen sein?
Ich gestehe, das ich nur die ersten zwei Seiten gelesen hab. Denn vom Stil her habe ich solche Geschichten schon sehr oft von dir gelesen.
Du veränderst nur den Plot. Reicht das für deine Ansprüche?
Dein wortreicher Stil ist gut und auch schön zu lesen. Aber wie lange? Ich hab sehr viel von dir schon gelesen, bin aber jetzt soweit, das ich deine Stagnation so nicht mehr dulden kann. Klar, ich könnte jetzt sagen: "Was kümmerst mich, wie er schreibt. ich les eben einfach seine Geschichten nicht mehr."
Das ist aber für mich nicht der richtige Weg.
Ich weiß deine hervorragende Phantasie und deine Beschreibungen zu schätzen. Aber wo bleibt die Innovation?
Ich weiß nicht, ob du dich noch an eine gewisse Diskussion im Musik-Thread erinnern kannst? Dort ging es um Innovation bei Iron Maiden.
Ich hoffe du bist mir jetzt nicht beleidigt wenn ich dich als Iron Maiden auf KG.de bezeichne. Gut aber immer gleichbleibend.
Irgendwie habe ich den Eindruck, du hast Angst vor einer Änderung deines Stils und somit vor einer Änderung in dir, denn der Stil kommt von innen.
Schüttel mal die Angst ab und schreib mal ganz was Neues. Mehr als Zerrissen kannst du ja nicht werden.
Nix für ungut du oida Haberer! :D

Der
Boa

 

:eek1: Zombie-Alarm!!! :D He, super, dass du mal wieder was schreibst, Boa! Wäre schön, wenn du dich wieder mehr engagieren würdest. Aber das nur nebenher, hüstel...

Zu deiner Kritik: Du hast ganz sicher Recht, dass ich "meinen" Stil habe, den ich nicht verändere. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das wirklich "schlecht" ist. Ich habe lange darum gerungen, einen eigenen Stil zu finden, und vielleicht macht das ja auch die Ernsthaftigkeit aus, mit der man das Schreiben betreibt.

Das Innovative versuche ich eher über den Plot an sich zu finden. Liege ich damit falsch? Ich weiß es nicht. Vielleicht gehen ja mehr ähnlich lautende Meinungen dazu ein und ich muss mir was einfallen lassen, um nicht in den Trott zu verfallen, den du ansprichst. Selber hat man ja zu wenig Distanz zu seinen Geschichten.

Mit Iron Maiden möchte ich übrigens nicht gerade verglichen werden... :)

 

Hallo Rainer,

deine Geschichte ist in sich rund. Zwei einsame Seelen finden zu einander, geben sich Halt und die Not der einen gibt der anderen Kraft zum Weiterleben.
Der Suizidversuch der einen ist die zweite Chance des Lebens für die andere. Das ist fast eine unmoralischen Situation, wie sie oft vorkommt in unserer Zeit. Kann es sein, dass wir das Elend anderer für uns brauchen?
Mir fallen Schlagworte wie "Helfersyndrom" aber auch "Ausbeutung" ein.
Beide Figuren ehen an die Substanz in ihrer Deutlichkeit und in deiner treffenden, präzisen und sensiblen Beschreibung. Beide Menschen leben im Leser auf und deine Geschichte zieht einen irgendwie warm umhüllt in ihre kalte Welt.
Das gefällt mir ausgesprochen gut.

Dein Ende spannt einen auf die Folter, obwohl man es ahnt. Dass der Tod entgegen Sandras Entschluss seine Hände dann doch nach ihr ausstreckt, ihr die zweite Chance beendet, nachdem sie sie doch genutzt hat, ist konsequent. Es scheint, als hätte sie ihre Aufgabe in dieser Welt erfüllt, auch wenn sie Nora jetzt alleine zurücklässt.

Was mir nicht ganz so gut gefiel, war dein dritter Abschnitt, die Busfahrt. Da bist du für meinen Geschmack zu sehr in lebensphilosophische erklärende Beschreibungen gerutscht, die sich zwar schön lesen, aber die für das Verständnis der Geschichte nicht unbedingt notwendig sind.
Das ist aber lediglich mein persönlicher Eindruck.

Zwei kleine Schnitzer sind mir aufgefallen, von denen der zweite vielleciht einfach nur ein regional bedingter Terminus ist, der mir deshalb fremd vorkommt.

„Du hast mich noch gar nicht gefragt, wie mein erster Schultag und meine erste Bekloppten-Sitzung war.“
waren
Sie gehen in die Arbeit um Geld für Dinge zu verdienen, die sie angeblich unbedingt brauchen.
zur Arbeit

Leider habe ich vor dem Schreiben meiner Gedanken zu deiner Geschichte noch einmal F5 gedrückt und bin so auf Hennaboindls Anmerkungen gestoßen.

Ich habe nun noch nicht so viele Geschichten von dir gelesen, es mag sein, dass mich dein Stil und deine Sprache deshalb nicht störten. Ich glaube aber eher, dass du in dieser Sprache einfach einen Stil gefunden hast, der zu dir gehört, und der sich der Atmosphäre deiner Geschichte optimal anpasst.
Dein Gefühl wird dir schon sagen, wenn Zeit zur Veränderung ist, und wenn du deiner Sprache entwächst.

Lieben Gruß, sim

 

@Rainer
Mein Engagement auf der Seite ist immer noch da.
Ich kritisiere eben nur noch auf Anfrage oder eben leute bei denen ich weiß das ich nichts anrichte mit meinem Kritikstil.

Aber jetzt zur fehlenden Innovation.
Das du "Deinen" Stil hast wunderbar. Doch du kostest ihn aus und, sei mir nicht böse, du legst dich auf die faule Haut und suchst nicht nach Veränderungen im Stil.
Behalte den Stil. Du musst keinen neuen suchen. Doch arbeite ihn aus. Es gibt dir Sätze und Beschreibungen die finde ich in jeder zweiter Geschichte wieder.
Das mag gut sein, wenn man deine Ergüsse nicht verfolgt. Aber wenn man fast alles von dir liest, driftet das in langeweile ab.
Und das ist meines Erachtens das schlimmste was passieren kann, langweilig zu werden.
Du bist ein guter Autor. Doch solange du nicht eine Tausender Auflage hast, darfst du dich nicht auf den Lorbeeren ausruhen. So seh ich das und so schreibe ich auch.
Es gibt bestimmt andere leser und Autoren, die das genau anders herum sehen. Aber ich finde, das dein Standard eigentlich höher liegen sollte, als immer im selben Trott zu latschen.

 

Rainer,

ich lese ja alles von Dir. Diese Geschichte hier hat mir besonders gut gefallen, vor allem das Ende. Vom Stil her genieße ich den Deinen und finde nicht, daß etwas geändert werden müßte.

Den ungarischen Paprika empfinde ich her als rot (das scharfe, den fürs Gulasch, welches in Budapest ja zu unvergleichlichem Scharfgenuß perfektioniert wird), Da war ich ein bisserl verdutzt.

"Schon Okay", flüsterte Nora und gähnte herzhaft, "Sorry!" Natürlich hier ist die direkte Rede, aber ich hasse dieses Neusprech, könnte die Protagonistin nicht "Verzeih" oder "Entschuldige" sagen? Ich weiß, ich weiß, Echna der Purist...

Sandra prüfte zur Sicherheit im Fahrplan, den sie bei sich trägt.

Ich weiß nicht, hier ist das einzige Verb im Präsens? Hat das einen bestimmten Grund? Die ganze Geschichte wird nämlich im Imperfekt erzählt.

Den Folder würd ich auch Faltprospekt nennen, aber gut, Echna der stets zuversichtlich in die Vergangenheit blickt und sich an derlei Neudenglisch nicht ergötzen kann. Itipferlreiter eben!

Ah am Anfang steht Automatische dachte sie...

Ein E zuviel

Diese Art Geschichten von Dir lese ich am allerliebsten. Diese kalte Neue Zeit, das Unbarmherzige, und doch ein Schimmer an Hoffnung, der am Ende vom einzig sicheren im Leben jäh erlischt.

War wieder mal beeindruckt. Vielleicht weil wir mehr oder weniger in derselben "Phase" stecken.

liebe Grüße

Echna

 
Zuletzt bearbeitet:

Dank euch für die interessanten Anmerkungen!

@ sim

Ja, da steckt ein gewisses Helfersyndrom dahinter. Besonders, da Sandra im Laufe der Geschichte so eine Art "Ersatzkind" in Nora sieht, um das sie sich kümmern muss, um über ihren eigenen Schmerz hinwegzukommen. Übrigens erlebt man das auf weniger drastische Weise bei Frauen, deren Kinder erwachsen sind und die so eine Art "Gluck" für jüngere Männer werden.

So Abschnitte wie die Busfahrt brauche ich einfach. Pathos? Übertrieben? Vermutlich. Aber man muss sich ja ein wenig unterscheiden von anderen... ;)

@ Henna

Das macht mich jetzt natürlich nachdenklich, dass du eine gewisse Endlos-Schleife bei mir feststellst. Das ist klarerweise nicht gerade mein Ziel und ich wünschte, ich könnte quasi "neutral" meine Geschichten mal lesen und überprüfen. Klappt natürlich nicht, weshalb ich dir für diesen Hinweis - und ich weiß ja, dass ich deinem Urteil vertrauen kann! - sehr dankbar bin.
Werde versuchen, dies künftig zu beherzigen und vielleicht mal "anders" anders zu schreiben. :)

@ Echnaton

Äh... Die Fehler sind nicht gerade beabsichtigt... Du traust mir vielleicht Schweinereien zu! :D
Die englischen Ausdrücke, wie das "sorry" sind bewusst gewählt. Junge Leute verwenden dieses scheinbar sehr gerne.
Der Folder ist auch bewusst gewählt, eben von meiner Erfahrung her.

Ob es Hoffnung gibt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Bis zu einem gewissen Grad können wir das Schicksal durchaus beeinflussen. Und vielleicht gibt genau dies jene Hoffnung, die wir suchen? Wer weiß.

PS: "Echter" Paprika ist rot. Ich bevorzuge zum Essen jedoch den Grünen. :)

 

Hallo Rainer,

hatte Deine geschichte schon vor ein paar tagen gelesen - mein erste von dir und ich war gespannt..

die story hat mir insgesamt gefallen, weil sie rund, fast klassisch ist, weil mir das ende gefiel und weil die botschaft der geschichte sowohl nachvollziehbar als auch wert-voll ist...

im einzelnen habe ich dann aber auch einiges zu kritisieren..

zwar finde ich gerade deine beschreibungen von orten und empfindungen zum teil äußerst stark und intensiv - aber nicht immer zum verlauf der geschichte, des inhaltes passend..

so zum beispiel bei dem besuch auf der intensiv-station - ein gespräch der beiden, das (passend) belanglos mit "Hallos" und der namentlichen Vorstellung beginnt - hier aber komplett gebrochen wird durch den "schrecklichen Ort des Leids" oder das "blütenweiße Nachthemd" etc...

der schreckliche ort des leids ist entweder eine formulierung, die einige jahrhunderte zuvor während der pest ihre berechtigung hat oder wenn die gefühle jemanden komplett übermannen..z.B. wenn jemand einen toten betrachtet, in sich gekehrt, dann finde ich solch starke formulierungen perfekt, dann wirken sie - aber zwischen zwei "hallos" wirken sie auf mich komplett aufgesetzt..das gabs an der ein oder anderen stelle..

Am Anafnag und vor allem am schluß hingegen finde ich ergänzt es den inahlt wunderbar...

Vielleicht würde das kräftige Grün der ländlichen Kleinstadt die graue Tristesse aus ihrem jungen Herzen drängen und mit neuer Hoffnung erfüllen.

Aus Samtpfoten schlich der Schlaf sich heran

das passt nach meinem gefühl außerordentlich gut, weil so schön harmlos - so grün und blumig - das bittere ende naht...

der schluß gibt der geschichte sowieso das besondere etwas - sonst wäre es für mich eine "eher normale" gute geschichte geblieben - weil er so gemein ist, nachdem dem schlechten anfang anscheinend ein freundlicher schluss folgte...

was mich dann aber immer zu der überlegung führt, warum die meisten von uns, sich von einem bösen ende mehr angezogen fühlen, ihm mehr anspruch zu billigen, als dem happy end..vielleicht muss man da noch eine kunstform finden, die eine positive botschaft auch mit einem positiven gefühl beim leser verbindet..

so haben sich aber meine nackenhaare aufgestellt - was will man mehr von einer story?

viele grüße, streicher

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Rainer!

Also mir gefällt Deine Geschichte auch sehr gut, obwohl ich das Ende schon recht traurig fand, hätte mir ein positiveres gewünscht … Aber keine Angst, ich versuch nicht, Dich zu überreden, es umzuschreiben, so ist es eben ein echter Rainer. ;)

Psychologisch finde ich sie sehr stimmig, soweit ich das beurteilen kann, nur am Ende bin ich mir nicht sicher, ob die Flasche Wein reicht, daß sie dermaßen benebelt ist, daß sie nicht zu sich kommt, sobald sie Wasser statt Luft atmet… Auch, wenn sie nichts gewöhnt ist, ist das glaub ich zu wenig. Warum läßt Du sie nix Härteres trinken?

Schön find ich übrigens auch die Wiederholung des Rosmarin-Duftes und besonders gelungen die Namensgebung, speziell Hagensteck. :)

An dieser Stelle – »Ihr war kotzübel und sie legte sich wieder hin, statt zu hocken« – verrätst Du in meinen Augen zu viel vom Ende, ich dachte mir hier jedenfalls schon „oje…“. Ich würde „statt zu hocken“ raus nehmen.

Was Deinen Stil insgesamt betrifft, mußte ich natürlich auch über Hennas Anmerkung nachdenken. Ich habe zwar (noch) nicht alle Deine Geschichten gelesen, aber doch einige, und bisher hat mich die von Henna kritisierte Gleichförmigkeit Deines Stils nicht gestört. Mir haben alle Deine Geschichten, die ich gelesen habe, jeweils für sich gefallen. Es waren ja jeweils andere Geschichten, aber eben in Deinem Stil, und Deine „Stammleser“ lesen Dich ja eben wegen Deines Stils gerne. (Ausnahmen wie Henna bestätigen die Regel…) Ich glaube deshalb nicht, daß es unbedingt etwas Neues sein muß, das Du Dir einfallen läßt. (Um ebenfalls auf den Musik-Thread zu verweisen: Sonst gehts mir mit Dir am Ende wie mit Queen…:lol: )
Was natürlich schon Sinn machen würde, wäre, wenn Du auch weiterhin versuchst, an Deinem Stil zu feilen, nicht stehen zu bleiben, sondern das, was Deinen Stil in Deinen Augen ausmacht, noch stärker herauszuarbeiten. Richtige, also tiefgreifende Veränderungen sollten, wie sim schon sagte, aus Dir kommen, nur dann sind sie nämlich echt und gut. (In meinen Augen) :)

Ein paar Anmerkungen hab ich noch:

»und läutete an der nächstgelegenen Haustür Sturm.«
– da sie ja im Stiegenhaus war, ist es wohl eher eine Wohnungstür gewesen ;)

»entdeckte sie ihr verquollenen Augen«
– ihre

»Sandra spürt, wie sie noch blässer wird«
– wenn mich nicht alles täuscht, heißt es blasser

»an das man sich klammern konnte um zu wissen, was«
– nach „konnte“ müßte glaub ich ein Beistrich hin (ich schlag heute nix nach, Du hast eh selber einen Duden :D)

»die Leute waren genau so unfreundlich und desinteressiert, sie als Person zu begreifen, …«
– der Satz liest sich etwas schwierig, man denkt, es wäre eine weitere Aufzählung und muß dann nochmal zurück, jedenfalls ging es mir so. Würde statt „desinteressiert“ „nicht daran interessiert“ schreiben, dann liest man es gleich richtig.

»In einem hässlichen Raum liegend, den linken Arm an eine Infusionsflasche angeschlossen, blass.«
– ist eigentlich kein vollständiger Satz, darum würde ich nach dem Doppelpunkt klein weiterschreiben: „Sie sah ja selbst, wie es Nora ging: in einem …“

»ihrem Zimmer, das mit Poster gerade angesagter Filmstars tapeziert war«
– mit Posters

»Als ich die Schule schmiss hielten sie mich auch für verrückt.«
– auch hier gehört glaub ich ein Beistrich her: schmiss, hielten

»Vielleicht würde sie es ihr ein ander Mal erzählen.«
– ein andermal (aber: ein anderes Mal)

»Eine Zeit lang schwiegen die Beiden.«
– die beiden

»natürlich hatte sie oft über diese Frage gebrütet«
– müßte es nicht heißen „über dieser Frage gebrütet“?

»Instinktiv ahnte sie aber, dass diese das Vertrauen Noras in sie untergraben könnte. Manche Fragen wurden auch ohne Drängen beantwortet, und Sandra war optimistisch, dass diese dazu gehörte.«
– vielleicht bringst Du ein „dass diese“ irgendwie weg?

»„Ich habe mich noch gar nicht bei ihnen bedankt, dass sie unsere Tochter gerettet haben“«
– bei Ihnen … dass Sie

»Ich wollte mich eigentlich nur bedanken bei Ihnen und mir ein Bild von Ihnen machen. Nora redet viel von Ihnen, wissen Sie«
– würde „nur bedanken“ und „bei Ihnen“ umtauschen: eigentlich nur bei Ihnen bedanken – allerdings ist es ja direkte Rede, und wenn Du meinst, die redet so, dann redet sie eben so. ;)

»Und wenn sie von Ihnen erzählt hat man das Gefühl«
– nach „erzählt“ müßte meiner Meinung nach ein Beistrich hin

»was Mädchen normaler Weise interessiert.«
– normalerweise

»auf eine Weise die es ermöglichte«
– würde nach „Weise“ einen Beistrich machen

»Bis ich ihm eröffnetet, dass ich schwanger sei.«
– ein t zuviel, bei eröffnete

»Doch Tatsache ist, dass sie sich einige Male als unzuverlässig bewiesen«
– müßte das nicht erwiesen heißen?
Sie

»gefallen war Aber ein Blick in Hagenstecks starre Augen verrieten ihr«
– Punkt nach „war“ fehlt
– ein Blick … verriet (ohne -en)

»Aus Samtpfoten schlich der Schlaf sich heran«
– Auf Samtpfoten


Liebe Grüße,
Susi :)

 

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