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Eine Zugfahrt im ICE-Ruhebereich
Im Berliner Hauptbahnhof rollte ich auf der Rolltreppe in das Untergeschoss, genauer gesagt zum Gleis 1. Dort stand der ICE nach Hamburg-Altona abfahrbereit am Bahnsteig, neben einer Vielzahl von Reisenden und Gepäck. "Fährt denn dieser Zug nach Hamburg?", schrillte eine grelle Frauenstimme über den Bahnsteig. Der Angesprochene, ein kräftiger Mann mit Bürstenhaarschnitt, einem kurzärmligen, blaukarierten Hemd, Mitte vierzig, antwortete: "Dieser Zug fährt nach Hamburg", und wies auf die Anzeige über dem Bahnsteig. "Fährt denn dieser Zug wirklich nach Hamburg?", schrillte die grelle Frauenstimme erneut. "Dieser Zug fährt immer noch nach Hamburg", erklärte der Bürstenhaarschnittmann aufs Neue. Die Besitzerin der grellen Schrillstimme, eine dürre Endfünfzigerin, bekleidet mit gewaltigen Outdoorsandalen und einem sehr filigranen gelben Kleid, krähte: "Ständig verwechselt die Bahn die Züge und Bahnsteige, wie oft habe ich es erlebt, das am Bahnsteig Hamburg stand und der Zug dann nach Leipzig fuhr. Dann musste ich unterwegs aussteigen und den halben Weg wieder zurückfahren. Sind Sie wirklich sicher, dass der Zug nach Hamburg fährt?“ Der Mann ächzte und gab zurück: „Ganz sicher, dieser Zug kam aus Leipzig und fährt in zehn Minuten weiter nach Hamburg. Steht auf der Anzeige des Bahnsteiges, steht am Zug und wurde per Durchsage mehrfach angesagt.“ „Dann habe ich zum Einsteigen nur noch ganz wenig Zeit“, keuchte die Dame und zerrte einen Schrankkoffer, der fast so groß war, wie sie selbst, hinter sich her. „Können Sie mir bitte helfen, mein Handgepäck in den Zug zu heben“, wandte sich die Dame an den Bürstenfrisurmann. Dieser beäugte den großen Schrankkoffer misstrauisch, ergriff ihn und schleppte ihn zum Einstieg, wo er beim Hochheben schmerzhaft das Gesicht verzog.
Inzwischen war ich am Einstieg angelangt und half unter Aufbietung aller Kräfte dem Mann beim hineinwuchten des Schrankkoffers in den ICE. Die dürre Dame folgte uns, bedankte sich, ergriff mit beiden Armen ihr Kofferungetüm, holte Schwung und schob es mit Getöse durch den Gang. „Aua“, rief ein Fahrgast, als dass Koffermonster seinen Rücken traf und er zur Seite stolperte. „Geben Sie den Weg frei, machen Sie zügig Platz“, rief die Dame. Die Reisenden auf dem Gang drückten sich mit eingezogenen Bäuchen an die Wand. Ich folgte der kofferrollenden Dame und gelangte so schnell zum Ruhebereich. Darin hatte ich extra einen Platz im Großraumabteil gebucht, in der Hoffnung von Berlin bis Hamburg schlafen zu können. Doch es kam anders.
Ich strebte meinen reservierten Platz zu, das Hämmern von Maschinenpistolen unterbrach meinen Weg. "Wir schaffen es nicht, es sind zu viele Banditen", brüllte eine Männerstimme, "werft die Handgranaten!" Kurz darauf detonierten Handgranaten, Blut lief die Scheiben herunter, menschliche Überreste und Blutlachen bedeckten den Boden.
Ein fülliger junger Mann, saß über sein Notebook gebeugt und konsumierte einen Kriegsfilm. Er war völlig in das Geschehen vertieft, freute sich und starrte gebannt auf die Blutpfützen in seinem Display. Ich ging rasch zu meinem Platz, verstaute mein Gepäck, nahm eine bequeme Haltung ein und schob meine Jacke vor das Gesicht. "Endlich schlafen", freute ich mich und schlummerte ein.
Kurz darauf wurde ich durch lautes Stimmengewirr wieder geweckt. Laute Telefonate erklangen durch den Ruhebereich, an Schlafen war nicht zu denken. Die Fahrgäste verkündeten per Handy, dass sie nun im ICE nach Hamburg sitzen würden, in Kürze dort eintreffen und sich freuen würden.
Zwischen den lauten Telefonaten ertönte die Stimme des Zugchefs, der die Fahrgäste auf Deutsch und Englisch begrüßte. Danach lud er in das Bordrestaurant ein und wiederholte die Einladung auf Englisch. Als ich der Meinung war, nun endlich weiter schlafen zu können, empfahl der Zugchef Getränke und Gerichte aus dem Bordrestaurant. Dazu las er die dreiseitige Speisekarte vor, nannte alle Speisen und Getränken mit Preisen. Die ersten Fahrgäste verzogen die Gesichter, andere hielten sich die Ohren zu. Aber der Zugchef kannte kein Erbarmen. Erneut las er die Speisekarte vor, diesmal auf Englisch.
Nachdem der Zugchef die etwa achtminütige Bordrestaurant-Vorlesung, in zwei Sprachen, beendet hatte, kehrte Ruhe ein und schlummerte ich wieder ein.
Ein permanentes: "Düdd, Düdd, Chr, Chr, Düdeldü, Peng", rissen mich erneut aus dem Schlaf. An einem Tischplatz vergnügten sich die beiden Kinder einer Familie mit einem Gameboy.
Ein älterer Mann stand auf und bat die Familie um Ruhe, da er du seine Frau einen Platz im Ruhebereich gebucht haben. Wegen der Ruhe. Der Vater schaute verärgert auf: "Wollen Sie den Kindern etwa das Spielen verbieten?" Nein, auf keinen Fall", erwiderte der ältere Mann. "Die anderen Fahrgäste und ich würde uns freuen, wenn Sie die Lautstärke etwas dämpfen würden. Hat denn das Spielzeug keinen Lautstärkeregler?" Er zeigte auf den Gameboy. "Sie sind ja ein KINDERFEIND", kreischte hocherbost die Mutter. Jetzt klingelte das Handy des Vaters. "Ja, ich bin hier. Wir sitzen im Zug", der Vater plusterte beim Brüllen die Backen auf. Der ältere Mann hob abwehrend die Arme und bat mit leiser Stimme um Ruhe. Eine Frechheit ist das", kläffte die Mutter, "immer diese kinderfeindlichen alten Leute, die oberlehrerhaft alles besser wissen". Der ältere Mann wandte sich resigniert ab und ging zu seinem Platz. Der Geräuschpegel am Familientisch nahm etwas ab. Ich versenkte mich wieder hinter meine Jacke und nickte ein.
"RumbaBUM", "Trüüüüüüüht", "Prfffffft", "Tätärätä", "Schrill-Schrill", "derber, straffer, fester, ich will ne Krankenschwester", "Rüüüüüülps", "Kein Schwein ruft mich an“, rissen mich aus dem Schlummer. Ich schaute hinter meiner Jacke hervor. Einige Plätze weiter testete ein junger Mann die Klingeltöne seines Handys.
Donnernd erschallte eine Stimme durch das Großraumabteil. Es ging um Einkaufspreise, Gewinnmargen, Passwörter und interne Personalentscheidungen eines großen internationalen Fahrzeugherstellers aus Ingolstadt. Der Mann im gelben Anzug und blauer Krawatte führte heftig gestikulierend ein Telefongespräch.
Als ein Kundenbetreuer den Wagen durchquerte, sprach ihn der ältere Mann an: "Können Sie bitte etwas gegen den Lärm unternehmen, wir haben extra den Ruhebereich gebucht, um unsere Ruhe zu haben. Die lauten Handytelefonate gehen uns auf die Nerven." Der Schaffner antwortete: "Ich darf hier leider keine Reisenden disziplinieren, der Ruhebereich ist lediglich ein Appell an die Fahrgäste, sich leise zu verhalten. So wie man in einer Bibliothek erwartet, dass die Benutzer sich leise verhalten." Das dumpfe Motorengebrumm eines anfliegenden Bombergeschwaders, bestehend über Tausend Flugzeugen, untermalt von den Schüssen der Flak unterbrach die Ausführungen des Kundenbetreuers.
Der eingangs erwähnte junge Mann hatte die Lautstärke seines Notebooks kräftig erhöht. "Ich bitte Sie doch bloß Ihr Hausrecht wahrzunehmen und im Ruhebereich des Zuges die Mitreisenden freundlich um etwas Ruhe und Rücksichtnahme zu bitten. Wir haben doch extra den Ruhebereich gebucht, um Ruhe zu haben", entgegnete der Rentner. "Zu gefährlich", gab der Kundenbetreuer zurück, "dann gibt es bloß Beschwerden von den Fahrgästen, welche hier geräuschvoll ihre Individualität ausleben möchten. Das kann mich meine Zielvereinbarungsprämie kosten." Der Schaffner verzog das Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. "Außerdem ist dass hier ein Spiegelbild der Gesellschaft." Sprachs und eilte mit schnellen Schritten davon. Der ältere Mann schaute ihm fassungslos nach. "Spiegelbild der Gesellschaft", murmelte er fassungslos vor sich hin und begab sich zu seinem Platz.
Ich hatte mich wieder hinter meiner Jacke verkrochen und war eingeschlummert. Plötzlich verspürte ich wie Hände meine Jacke betasteten, Ich tauchte hinter dem Jackenvorhang auf und erblickte einen sportlich wirkenden Mann, Ende Fünfzig, welcher meine Jacke befühlte und daran zupfte. "Das ist meine Jacke und die bleibt hängen! Haben Sie denn keine eigene Jacke?", knurrte ich den Mann an. Der Mann schaute mich verunsichert an und bemerkte: "Ich habe mich verlaufen und weiß nicht mehr wo mein Platz ist. Bin immer hin und her gelaufen da war plötzlich mein Platz weg." Der Mann zuckte mit den Schultern und wandte sich ab. Kurz darauf hörte ich, wie ein Fahrgast den verirrten Mann lautstark darauf hinwies, dass er seinen Rucksack nicht befummeln möge.
An ein Weiterschlafen war nicht mehr zu denken. Als ich dann den Ruhebereich zum Ausstieg verließ, kam ich wieder an dem jungen Mann mit dem Notebook vorbei. Die US-Kavallerie stob über das Bild, laut peitschten Schüsse, übertönt vom Kriegsgeheul der Indianer. Der Protagonist schaute jetzt einen Western.
Als ich in Hamburg Hbf. den Ruhebereich des ICE verließ, empfand ich die Umgebungsgeräusche auf dem Bahnsteig als Wohltat.