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Eine. Wie jeden Tag.
Donnerstag, 18. September 2003 – „der Tag“.
Es ist 10:15 Uhr. Melanie und ich sind gerade durch die große Glastür in dieses hässliche Gebäude gegangen und warten jetzt hinter zwei älteren Herren und einer nach Ehrgeiz riechenden Frau so um die 35 darauf, dass unsere Taschen und wir auf Waffen und andere bedrohliche Gegenstände hin untersucht werden. Man kommt sich fast wie auf einem Flughafen vor – na ja, wenigstens fühlt es sich dadurch nicht ganz so befremdlich an.
Wir gehen endlich durch die Schranke und schauen uns um, wo um alles in der Welt müssen wir zwei denn jetzt bloß hin?
Da, eine Hinweistafel!
Cafeteria: rechts die Treppe hoch
Zeugenschutzzimmer: links und dann im zweiten Stock
Melanie nimmt mich noch mal in die Arme und drückt mich ganz fest, dabei murmelt sie was von „... wir treffen uns wenn’s vorbei ist...“ und „... hey, Du packst das schon...“ aber ich bekomme davon schon gar nichts mehr mit.
Ich muss jetzt in dieses Zeugenschutzzimmer – eigentlich muss ich es ja erst mal finden. Wie sich das schon anhört, Zeugenschutzzimmer!
Aber gut, werde ich schon schaffen, abhauen ist jetzt ja eh nicht mehr.
Also zittere ich die Treppe hoch, die Linke und suche nach Raum A 24. Endlich finde ich ihn und will am liebsten doch für immer suchen ohne jemals anzukommen. Aber da ist schon meine Anwältin und begrüßt mich. Sie erklärt mir noch kurz wie es jetzt weitergehen wird und verschwindet.
Er sagt jetzt aus und ich darf nicht mit, darf ihm nicht zuhören – ich muss warten, warten bis ich dran bin.
Jetzt sitze ich also auf dieser Couch und warte. Ich bin ganz allein und kann nichts gegen meine aufziehende Angst tun. Ich sehe mich in diesem Raum um – an der Einrichtung und den Gegenständen, die sich hier befinden kann man erkennen, warum dieser Raum wohl Zeugenschutzzimmer heißt.
Hier soll man zur Ruhe kommen, sich ablenken oder einfach nur warten. Da liegen Zeitungen, Informationsmaterial von allen möglichen Hilfseinrichtungen. Die Kaffeeküche ist gut ausgestattet – jede Menge Kaffeemaschinen, als ob jemand bei diesem Stress noch Koffein brauchen könnte. In einer Ecke sehe ich jede Menge Spielzeug und Kinderbücher – ich mag gar nicht daran denken warum die hier liegen. Da liegen auch die berühmten Mädchen-, Jungen- und Eltern-Puppen, die manchmal benutzt werden wenn Kinder ihre Erfahrungen nicht in Worte fassen können.
Mir ist auf einmal ganz schlecht bei diesem Gedanken und mir kommen die Tränen hoch. Mein Puls wird auch immer schneller – 160 beats per minute – ich fühle mich wie ein Hamster ohne Laufrad, dafür aber total im Stress. Ich kann gerade gar nicht sagen ob ich lieber noch ewig warten will oder ob ich das ganze am liebsten sofort hinter mich bringen möchte.
Schon 42 Minuten – hatte meine Anwältin vorhin nicht was von ca. 30 Minuten gesagt? Was machen die denn da so lange? Ich stehe auf, weil mein Kreislauf am abdrehen ist – ich muss laufen, meinen Stress abbauen – außerdem sind meine Hände schon ganz blau vor lauter Kälte und trotzdem schweißnass.
Im Vorzimmer klingelt das Telefon. Ich bekomme leider nicht mit worum es geht, aber es hat irgendwie mit mir zu tun. In wenigen Sekunden gehen die letzten 9 ½ Monate der Angst, des Wartens noch mal an mir vorbei – wie gelähmt ich doch dank dieser Scheiße gewesen bin. Auf einmal schrecke ich hoch – abwesend wie ich war habe ich nicht bemerkt wie die Vorzimmerdame zu mir gekommen ist. Ich solle mal kurz an’s Telefon kommen, meine Anwältin hätte mir was zu sagen. Er hat gestanden, ich muss nicht mehr aussagen, kann aber zur Urteilsverkündung in den Gerichtssaal kommen.
Ich fange an zu weinen – ich verstehe nicht was da gerade passiert. Wieso gesteht er jetzt? Warum wird er dafür jetzt auch noch belohnt? Ich fühle mich verarscht – betrogen! Jetzt braucht er auch nicht mehr gestehen, nicht nach dieser Hölle, durch die ich gegangen bin. Zum ersten Mal seit Monaten fühle ich, dass ich aussagen will – muss – doch jetzt darf ich nicht mehr.
Ich gehe hoch und warte vor dem Saal auf meine Anwältin – Minuten scheinen wieder zu Stunden zu werden – ich drehe gleich durch.
Endlich, da kommt sie. Wir gehen ein paar Schritte zur Seite damit ich ihn nicht sehen muss und sie schildert mir was in der letzten Stunde abgegangen ist. Und während sie das tut, steht er mit seinem Anwalt nur wenige Meter entfernt. Ich könnte kotzen bei dem Gedanken an die Show, die er gerade abgezogen hat – noch immer abzieht.
Wir werden in den Saal gebeten. Zum ersten Mal seit Monaten sehe ich ihn und sehe nun auch die Menschen, die über seine Strafe zu befinden haben.
Alle mustern mich, schauen mich in einer Mischung von Neugier, Mitleid und Stolz an. Ich setze mich neben meine Anwältin und mustere die Leute: die Richterin, die beiden Schöffen, den Staatsanwalt und seinen Verteidiger – ihn ignoriere ich.
Das Urteil wird verkündet: schuldig des sexuellen Missbrauchs einer wehrunfähigen Person. Zwei Jahre auf Bewährung.
Während der Urteilsbegründung fange ich in tiefer Trauer an zu weinen – ganz leise, ganz still. Er hat sie alle getäuscht, sich ein mildes Urteil erlogen und erspielt. Ich hasse ihn – nein, ich verachte ihn nur noch – er ist nicht mal mehr wert gehasst zu werden.
Man sieht mich an als müsste ich glücklich oder doch wenigstens zufrieden sein – ich habe doch gewonnen, oder etwa nicht?! Wie kann man als Opfer jemals gewinnen, frage ich?
Wir gehen so schnell wir können – ich will ihm nicht noch mal in die Augen sehen müssen. Melanie wartet in der Cafeteria.
Wieder nimmt sie mich in die Arme und drückt mich. Wieder murmelt sie etwas, das ich nicht mitbekomme.
Diesmal nicht vor lauter Angst, sondern weil ich zum ersten Mal seit Monaten - wenn auch nicht glücklich und zufrieden - so doch erleichtert und irgendwie frei von ihm bin.
Wir gehen an der Schranke, den Sicherheitsbeamten und neuen älteren Herren und weiteren ehrgeizig riechenden Damen vorbei durch die große Glastür hinaus.
Und das Gebäude sieht jetzt auch nicht mehr so hässlich aus.