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Eine Weihnachtsgeschichte
"Es stört mich manchmal voll, dass ich so sensibel bin.
Ich merk es immer gleich, wenn mein Bruder traurig ist, oderso." -
"Dann stell dir mal vor, dein Bruder wäre depressiv", wollte ich entgegnen, "denn kurz bevor es dich kaputt macht, lernst du von ganz alleine, wie man Gefühle ignoriert." Aber ich konnte es nicht sagen. Schließlich wusste kein Außenstehender von der Krankheit meiner großen Schwester und sowas konnte ich ja nicht einfach weitererzählen.
Beim Abendessen war seit langem die ganze Familie zusammen, auch Michelle, meine zweite große Schwester, die normalerweise bei ihrem Freund wohnt. Ich bemühte mich, ganz schnell mit Essen fertig zu sein, um sämtliche Gespräche nicht mitzubekommen, aber es fing bereits nach meinem ersten Löffel Kartoffelbrei an.
"Willst du nicht noch ein bisschen Fleisch zu deinem Kartoffelbrei, Elenaschätzchen? Ich hab extra ein ganz mageres rausgesucht." -
"Will sie nicht. Sie is doch magersüchtig.", konterte Michelle. Oh nein. Ich wusste nicht, warum sie immer tat als würde Elena es nur spielen. Immerhin war sie ziemlich genau ein Jahr lang in Behandlung und musste Medikamente nehmen.
"Ich bin nicht magersüchtig, du Stück Scheiße!", schrie sie.
"Hört auf zu streiten!", sagte meine Mutter verzweifelt, und "Ess doch wenigstens 'nen Löffel Gemüse dazu. Kartoffelbrei ohne irgendwas schmeckt doch langweilig."
Dann sagte keiner mehr was, und Elena stocherte weiter in ihrem Kartoffelbrei rum. Doch dann fing Michelle an zu singen, und zwar ganz laut und krumm und hoch, so wie sie es immer tat. Unterbewusst, da ich genau wusste, was jetzt kommt, klammerte ich mich an meinem Löffel fest und starrte angestrengt auf meinen Teller.
"Halt die Fresse du hässliches Kind oder ich komm rüber und hau dich!" Und wie es zu erwarten war, hörte sie nicht auf zu singen.
"Fuck ich halt das nicht aus!", weinte sie fast, sprang gleichzeitig auf, stieß dabei ihr Glas um, schlug die Küchentür zu und kurz danach ihre Zimmertür. Dann hörte man Deathmetal durchs Haus hämmern.
"Musst du dich immer so aufführen? Kannst du sie nicht Einmal in Ruhe lassen?" Die Worte meiner Mutter klangen eher überfordert als strafend.
"Ich führ mich auf?! Sie muss doch immer so nen Aufstand machen!"
Sie senkte den Kopf.
"Räumt ihr bitte dann den Tisch ab?" Dann stand sie auf und ging mit Tränen in den Augen in ihr Schlafzimmer.
"Also wirklich, dass ihr zwei nicht mal nett zueinander sein könnt!", schaltete sich nun auch mein Vater ein.
"Ich mach doch garnichts! Sie muss ja immer gleich rumschreien!" Beleidigt ging nun auch Michelle in ihr Zimmer.
"Ouh, ich muss zur Arbeit. Bin schon spät dran. Tschüss!"
Also räumte ich alleine den Tisch ab und spülte das Geschirr.
Auf der Küchentheke stand die Duftkerze, die ich meiner Mutter mal zum Muttertag geschenkt hatte, weil ich die Dose so schön fand. Ich wollte mal dran riechen, also öffnete ich die Dose, aber statt der Duftkerze waren da jetzt die Tabletten meiner Schwester drin. Ich schaute ca. 10 Sekunden lang erschrocken und ungläubig in die schöne Dose, das Geschenk meiner Mutter. Ich dachte, ich wäre enttäuscht, stattdessen fühlte ich nichts. Und dann wurde mir schlecht.
Ich war zwar nicht müde, aber da ich weder etwas zu tun hatte, noch Lust hatte, länger wach zu bleiben, legte ich mich schließlich auch ins Bett. Schlafen konnte ich sowieso nicht, es war viel zu hell in meinem Zimmer, da das Licht vom Hausflur durch meine Glastür fiel. Dort lief meine Mutter mit dem Telefon rum und obwohl sie flüsterte, konnte ich sie gut hören.
"Ach Martin, sie hat sich schon wieder aufgeschnitten, ich weiß einfach nicht, was ich noch tun soll,"..."Natürlich, aber das bringt doch nichts, das Kind ist 17 Jahre alt, sie kann sich einfach neue kaufen."..."Okay, dann geh ich mal zu ihr. Vielleicht hat sie sich wieder etwas beruhigt." Sie legte auf, steckte das Telefon in die Ladestation und klopfte an der Zimmertür meiner Schwester, die genau neben meiner war. Dann hörte ich leises Murmeln, war froh dass ich nichts Genaues verstand, und versuchte doch zu schlafen.
"Du musst atmen! Elena! Atmen! Eeeinatmen. Ausatmen. Einatmen.", hörte ich meine Mutter, die versuchte, ihre überreizte Stimme beruhigend klingen zu lassen.
"Ganz ruhig! Ist doch alles in Ordnung!"
Ich kniff fest die Augen zusammen und plötzlich stiegen mir Bilder von zwei kleinen, blondgelockten Kindern in die Gedanken. Sie wuchsen auf dem Bauernhof ihrer Großeltern auf, es war ein Tag in den Sommerferien und sie waren extra früh aufgestanden, um beim Tiere füttern zu helfen. Im Hasenstall suchten sie nach ihrem Lieblingshasen, doch sie fanden ihn nicht. Natürlich wurde ihnen nicht gesagt, dass er geschlachtet wurde und sie ihn wenige Tage später zu Mittag essen würden. Dann schrieben sie das Gedicht über ihre Oma weiter, das sie an ihrem Geburtstag vortragen wollten, so wie sie es schon immer taten. Sie hatten beide schon im Kindergarten lesen und schreiben können und wollten später aufs Gymnasium um viel lernen zu können. Wahrscheinlich würden sie sich beim Vortragen sowieso schämen und die ganze Zeit kichern, aber Oma würde das nicht stören.
"Sie sind doch noch so klein und sie geben sich solche Mühe", sagte sie immer und steckte ihnen eine Tafel Schokolade zu.
Dann kam der Tag an dem alle Kühe und Schweine zum Schlachter gefahren wurden, weil die Großeltern zu alt geworden waren, um sich darum zu kümmern. Und bald verbrachte einer der blonden Engel die Sommerferien besoffen in irgendwelchen Ecken von irgendwelchen dreckigen Kneipen oder Discos.
Ich hörte meine Mutter schnell in die Küche und dann wieder zurück zu meiner Schwester rennen.
Sie übergab sich, ich drückte die Bettdecke über meinen Kopf, hörte mit meinem MP3-Player Maschinenmusik auf voller Lautstärke und biss mir so lange in die Hand, bis ich nicht mehr das Gefühl hatte, gleich weinen zu müssen. Ohne die Musik auszumachen, setzte ich mich im Halbdunkel an meinen Schreibtisch.
Liebes Tagebuch, 24.12.2010, 23:47
Eigentlich war heute ein Tag wie jeder andere. Die neuen Möbel für mein Zimmer, die ich geschenkt bekommen habe, hatte ich ja vorher schon ausgesucht. Irgendwie hatten meine Schwestern wohl gedacht, dass wir uns dieses Jahr nichts schenken, denn sie waren glaube ich ein bisschen verlegen als ich jedem von ihnen ein Buch geschenkt habe, sie aber nichts für mich hatten. Naja, Elena fand ihrs eh blöd, deswegen hat sies mir gleich wieder gegeben. Meine Mutter hatte keine Zeit, einzukaufen, weil ein Termin meiner Schwester kurzfristig vorverlegt wurde. Deswegen gabs nochmal das selbe Essen wie gestern. Alles in allem war Weihnachten dieses Jahr schöner als letztes Jahr. Aber was ich mir wirklich gewünscht habe, ist nicht in Erfüllung gegangen.