Eine Weihnachtsgeschichte
Von Erich Kästner stammt das "chemisch gereinigte Weihnachtslied" mit dem Titel "Morgen, Kinder, wird´s nichts geben", das mich 1992 zu dieser etwas anderen Weihnachtsgeschichte inspirierte.
Eine Weihnachtsgeschichte
Wieder einmal stand das Fest der Liebe vor der Tür, weihnachtliche Stimmung umgab Stadt und Land; eine glänzende Glitzerwelt verkündete allenthalben die frohe Botschaft, die Gläubige und Ungläubige ob der zu erwartenden materiellen Bereicherung gleichermaßen erfreute. Alsbald füllte sich auch des Weihnachtsmannes Säckel mit den edelsten und feinsten Gaben, die der brave Mann pünktlich den artigen Menschen und denen, die es zu werden gedachten, zu übergeben beabsichtigte. Indes sollte ein schwerer Schneesturm über ihn hereinbrechen, der die Verkehrstüchtigkeit seines von Tierkraft angetriebenen Gefährtes stark beeinträchtigte. Auf die allseits propagierte, aber schlechterdings dürftig praktizierte Nächstenliebe hoffend, entschloß sich der Weihnachtsmann, ein auf der naheliegenden Landstraße fahrendes Automobil anzuhalten, um die darin befindlichen Menschen um Hilfe zu ersuchen. Jedoch begab es sich, daß er Räubern und Unholden in die Hände fiel, die ihn seiner ganzen Habe beraubten und gar seine leuchtend rote Winterbekleidung nicht verschmähten. Bitterlich weinend und erbärmlich frierend fand sich der arme, gute Weihnachtsmann halbnackt im Schnee wieder. Unter ärgster Mühe rappelte er sich auf und humpelte durch den sich verstärkenden Schneesturm in Richtung der nächsten Stadt. Dem Erfrierungstode näher als dem Leben, taten sich ihm entsetzliche Wahnbilder vor seinen Augen auf, die jedoch jäh durch ein helles und an ein Fünkchen Wärme erinnerndes Licht unterbrochen wurden. Er hatte die Stadt erreicht, die er noch im Vorjahr mit besonders großzügigen Geschenken bedacht hatte, jene Stadt, die ihm aufgrund einer ungewöhnlich hilfsbereiten Bürgerschaft vielfach zu Ohren gekommen war. In dem unumstößlichen Glauben, an diesem Orte Rettung zu finden, schleppte er sich bis zu dem ersten Haus und läutete. Es öffnete ihm eine wohlbeleibte Maid, die ihn auf das ärgste beschimpfte, es falle ihr nicht im Traum ein, einen fremden Mann in ihr Haus zu lassen. Als der halb erfrorene Weihnachtsmann schließlich vor ihr auf die Knie sank, erhob sie ihr Nudelholz, mit dem sie zuvor Weihnachtsplätzchen gebacken hatte, und schlug auf ihn ein. Erschrocken flüchtete der wehrlose Mann und wankte mit allerletzter Kraft zu dem Nachbarhaus, das ihn vor dem sicheren Erfrierungstod bewahren konnte. Als er mit Mühe und Not das Portal erreichte, versagten bedauerlicherweise seine letzten Beinkleider ihren Dienst, so daß er der zweiten Frau gänzlich unbekleidet gegenüberstand, die nach dem Öffnen der Tür in ein hysterisches Schreien ausbrach. Auch die wegen Exhibitionismus verhängte Untersuchungshaft konnte nicht verhindern, daß der arme Weihnachtsmann eine Lungenentzündung erlitte, nach deren Ausklingen er überdenken wird, ob er weiterhin die Rolle des Weihnachtsmannes spielen und demzufolge gezwungenermaßen in die geschlossene Heilanstalt übersiedeln möchte oder ob die gesündere Alternative nicht darin besteht, sich ebenfalls auf den menschlichen Pfad der Untugenden zu begeben.