Eine Weihnachtsgeschichte im April
Der Wecker klingelte schrill. Erschreckt fuhr sie hoch.
Heute war Dieters erster Arbeitstag in der neuen Firma, viele hundert Kilometer entfernt von ihrem eigentlichen zuhause , in einer kleinen Stadt im Allgäu.
Sie knipste die kleine Lampe auf ihrem Nachttisch an und sah, dass Dieters Bett leer war. Aus der kleinen Küche wehte der Duft von frischgebrühtem Kaffee herüber. Nach kurzem Räkeln schwang sie ihre Beine aus dem Bett, zog den Morgenmantel über und ging in die Küche.
Dieter hatte schon den Frühstückstisch gedeckt, Tee und Brot für die Arbeit zurechtgemacht und trank seine erste Tasse Kaffee. Er war ein bisschen aufgeregt, was ihn wohl heute erwarten würde. Während er sich für den Weg zur Arbeit vorbereitete, zog sie die Gardinen im Schlafzimmer zurück und öffnete das Fenster.
Wie angewurzelt blieb sie stehen.
Die Landschaft ringsherum war tief verschneit.
Wie konnte das sein ?
Es war Ende April und gestern hatten sie frühlingshafte Temperaturen gehabt. In ihre Verwunderung über diesen plötzlichen Wetterwechsel mischten sich klitzekleine vorweihnachtliche Gefühle. Ach ja, wie hatte sie diese in den letzten Jahren vermisst. Und überhaupt, wann hatte sie das letzte Mal Schnee gesehen ?
Dort, wo sie ihre vergangenen Weihnachtsfeste gefeiert hatten, war zu diesem Zeitpunkt Hochsommer, die Temperaturen bewegten sich in diesen Tagen zwischen 30 und 35 Grad Wärme und statt einer Weihnachtsgans mit Rotkohl und Klößen gab es ein sogenanntes Barbecue mit Steaks und Salat.
Kurze Zeit später, Dieter war auf dem Weg zu seiner neuen Arbeitstelle, überlegte sie, wie sie den heutigen Tag gestalten könnte. Sie räumte die Küche und das Schlafzimmer auf und entschied sich dann zu einem kleinen "Winterspaziergang" durch den verschneiten Wald
Nach ihrer Rückkehr in die kleine Ferienwohnung kam ihr eine Idee. Hatte sie nicht gestern bei der Durchsicht der Kücheneinrichtung einige Plätzchenausstechformen gesehen ?
Sie eilte in die Küche und öffnete alle Schranktüren. Nach kurzer Zeit hatte sie alle Utensilien zum Plätzchenbacken zusammen. Im Bücherregal in der Stube fand sie ein Backbuch und sogar eine Musik-CD mit weihnachtlicher Musik. Das war perfekt!
Die nachweihnachtliche Plätzchenbäckerei im Frühlingsmonat April konnte beginnen.
Sie siebte und rührte, schlug Eier in den Teig, knetete und rollte und belegte ein Backblech mit Sternen, Weihnachtsmännern und Nikolausstiefeln. Aus der Stube klangen Lieder wie "Bald nun ist Weihnachten..." und "Freude im Advent..." . Leise summte sie die Melodie mit. Schließlich zog ein köstlicher Geruch durch die Ferienwohnung.
Es war geschafft !
30 goldbraune Plätzchen lagen zum Abkühlen auf dem Küchentisch.
Sie wischte sich das Mehl von den Händen, setzte sich an den Küchentisch und betrachtete ihr Werk.
Plötzlich musste sie lachen, erst ganz leise, dann immer lauter.
Sie hatte tatsächlich im Frühling Weihnachtsplätzchen gebacken, etwas, was sie in der Adventszeit der letzten Jahre so sehr vermisst hatte.
Am Nachmittag, als Dieter von seinem ersten Arbeitstag in der neuen Firma nach Hause kam, empfing sie ihn freudestrahlend. Sie half ihm, die Arbeitssachen abzulegen und führte ihn ins Wohnzimmer.
Dort hatte sie einige Kerzen angezündet, der Tisch war zum Kaffeetrinken gedeckt, neben den Tassen stand ein großer Teller mit Weihnachtsplätzchen und aus einer Zimmerecke klang wieder die Musik-CD mit den Weihnachtsliedern.
Dieter sah sie an, lächelte und setzte sich zu ihr auf die Couch. Er brauchte nichts fragen und nichts sagen, er wusste, wie sehr seine Frau dieses besondere vorweihnachtliche Ritual liebte
Beide genossen die Plätzchen bei Kerzenschein, lauschten den Klängen der Musik und sahen dabei durch das Fenster in den verschneiten Garten.
Am darauffolgenden Morgen weckte sie der Tag mit Sonnenschein und Vogelgezwitscher. Der Frühling war zurückgekehrt und ließ den Tag zuvor wie einen Traum erscheinen.
Nur ein übriggebliebenes Plätzchen in Form eines Weihnachtsmannes erinnerte an ihn.