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Eine weiße Rose, die niemals verwelkt.
Eine weiße Rose, die niemals verwelkt.
Ich sehe sie hin und wieder. Sofie Michaelis! Und wenn ich sie sehe, dann muss ich lächeln. Sie studiert Politik, aber sie ist immer noch so wild, wie sie vor sieben Jahren war. „Schaut hin!“ Sie steht auf dem Podium, und alle Anwesenden hören ihr gebannt zu, so wie ich.
Ich bin Mechthild Schwager, Deutsch- und Geschichtslehrerin auf der Gesamtschule in unserer Stadt, und wenn ich sie dort oben so sehe, dann kommen mir die Erinnerungen an meine Klasse von damals, als sie im neunten Schuljahr war.
„Ein schweres, tief fliegendes Ufo. Achtung!“ Der nasse Schwamm, ich hatte ihn bereits vermisst, traf Selcans Nacken. Die Türkin sprang auf und zischte die rothaarige Werferin in ihrer Heimatsprache böse an. Die ganze Klasse, mehr als die Hälfte waren Jungs, grölte und applaudierte. Nicht, dass Fremdenhass ein spezielles Problem in dieser Klasse oder auf unserer Schule gewesen wäre, vielmehr war es gang und gäbe, dass der Pulk auffällig ausgelassen mit menschlichen Merkmalen umging, ohne sich wirklich Gedanken darüber zu machen. Ausländer zu sein schien ein solches Merkmal zu sein, ebenso der Kleinwuchs von Timo, die bemerkenswert große Nase von Melanie oder der Vorname von Oskar, der, nach Meinung der Klasse, im Steinzeitmuseum abgegeben werden sollte. Am Freitag war es wegen dem bevorstehenden Wochenende immer besonders heftig. Schon flogen die ersten Papierkugeln auf Jeremias, unseren großen Afrikaner mit seinen zotteligen Locken und auf Sven, der im Aussehen wesentlich mehr nach seiner philippinischen Mutter kam. Im Normalfall hätte ich nun mit dem Lineal peitschend laut auf das Pult geschlagen, um die Aufmerksamkeit der Schüler zurückzugewinnen. Diesmal war es aber schwieriger, denn Sofie, die gerade triumphierend auf ihrem Stuhl auf und ab sprang, hatte bereits die letzte Verwarnung bekommen. Sie galt von je her als unbelehrbar und schwierig zu bändigen. Die Konsequenz für ihr Verhalten wäre diesmal ganz sicher der Verweis von der Schule gewesen.
„So war die Zeit der Aufklärung der Beginn des Widerstandes gegen die Menschenverachtung“, rief ich doppelt so laut aus, dabei drehte ich mich der Klasse zu, stütze mich am Lehrerpult ab und sprach in verschwörerischem Ton: „Und wisst ihr, was das für Auswirkungen auf uns hatte?“ Die Zeit nach der französischen Revolution war für die Schüler grundsätzlich eine Qual. Das war ihnen stets zu philosophisch, und sicher, sie lauschten viel lieber meinen Schilderungen über die blutrünstigen Schlachten.
Meine geheimnisvolle Stimme brachte tatsächlich Ruhe ein, und Sofie und Selcan setzten sich wieder und schauten mich gespannt an. Himmel, die Schar der Geschichtsgelehrten möge mir verzeihen, wie ich den Übergang von der Aufklärung zum innenpolitischen Widerstand im nationalsozialistischen Deutschland erklärte.
„Sie gab uns unseren Willen zur Freiheit, unseren Respekt zu anderen Menschen, die Ablehnung von Unterdrückung auf der ganzen Welt. Schlagt fix alle“, ich schaute flugsschnell im Inhaltsverzeichnis nach, „die Seite einhundertvierzehn auf!“ Die eine Hälfte der Klasse fand die Bilder der Geschwister Scholl fast auf Anhieb, manche von ihnen lasen sogar das Kleingedruckte darunter. Die andere Hälfte schaute bei ihrem Nachbarn, weil sie entweder das Geschichtsbuch wieder einmal vergessen oder verkauft, oder weil sie schlicht weg meine Seitenzahlangabe vergessen hatten.
„Diese beiden jungen Menschen waren gerade von der Schule auf der Universität.“ Ich gab meinen Schützlingen eine sehr dramatische Schilderung der Situation unter dem Naziregime und über die Volkslähmung, die Hitler und seinen Verbündeten freie Hand ließ.
„Nur wenige hatten genügend Mut, sich dagegen aufzulehnen. Eine sehr bekannte Gruppe war ‚Die Weiße Rose’, die mit insgesamt sechs Flugblättern das deutsche Volk aufklären wollte. Die zwei bekanntesten Gruppenmitglieder seht ihr auf dieser Seite.“ Ich machte eine Halbsekundenpause, dann fuhr ich ein wenig lauter fort: „Hans und Sophie Scholl.“ Ich sah aus dem Augenwinkel, wie die wilde, rote Mähne eines bestimmten Mädchens sich über das Buch verteilte.
„Juden sind doch sowieso alles Schweine“, gluckste der große Armin lauthals, womit Jeremias die nächste Papierkugel abkriegte. Ein kräftiges Lachkonzert wurde eingestimmt, und unter „Jude–Jude“ - Rufen flog eine Vielzahl der Papierbälle auf den Jungen afrikanischer Herkunft. Ich seufzte innerlich, wusste ich doch, dass ich ihnen dringend etwas Völkerkunde nahe bringen sollte. Bevor ich noch irgendwelche Maßregeln treffen, und bevor ich die Hausaufgaben nennen konnte, für die sich sowieso keiner interessierte, klingelte es, und die Neuntklässler stürmten ins Wochenende.
In Sekunden war die Klasse leer. Einzig Sofie war noch im Buch vertieft. Ich erspähte, dass sie sich auf den Folgeseiten befand, dort wo jedes Flugblatt abgelichtet war. Ich ging ebenfalls, leise, um sie keinesfalls zu stören.
Am folgenden Montag wurde ich von einer sehr ungewöhnlichen Kulisse überrascht. Ich kam ins Klassenzimmer, und ich sah, wie auf jedem Schülertisch ein Blatt Papier und auf ihm eine weiße Rose lag. Sofie war bereits da; ungewöhnlich, dass einmal ein Schüler vor dem Lehrer im Klassenraum eingetroffen war. Sie saß auf ihrem Tisch und beobachtete die Ankömmlinge. Nach mir trottete so nach und nach ein verwirrter Schüler nach dem anderen ein.
„Was ist das denn?“, wurde oft gefragt, und als Armin auftauchte, tönte er laut:
„Ey, wer packt mir denn dieses Unkraut auf den Tisch?“
„Ich“, entgegnete ihm Sofie nicht leiser.
„Mensch, Sof, wie bist du denn drauf?“, fragte er, wobei er sich langsam über das Papier beugte.
„Lies das“, verlangte die Rothaarige.
„Bist du noch ganz leibhaftig? Weißt du, wie viele Buchstaben das sind? Das kommt echt dünn“, protestierte der Hüne. Sofie sprang auf und eilte bedrohlich auf Armin zu.
„Lies das“, wiederholte sie angriffslustig.
Ich nahm mir ebenfalls eines der Blätter vom nicht besetzten Schülerpult und las:
Mit dem Nationalsozialismus wurden Millionen von Juden, Andersdenkenden, Regimefeinden, Ausländern, Behinderten und vielen mehr gequält und niedergemetzelt. Wir kennen nun das fürchterlichste Verbrechen an Menschen von uns Menschen. Auch die Ausländer sind doch Menschen. Auch alle anderen Menschen sind Menschen.
Warum verhalten wir uns angesichts all dieser scheußlichsten, menschenunwürdigsten Verbrechen so apathisch? Kaum einer von uns macht sich Gedanken darüber. Mit unserem Verhalten machen wir doch das Menschenunwürdige erst möglich.
Es muss unsere höchste und heiligste Pflicht sein, unsere Menschenfeindlichkeit zu vertilgen.
Ich bitte, diese Schrift mit möglichst vielen Durchschlägen abzuschreiben und weiterzuverteilen.
Ich gebe es zu, ich hatte innerlich herzhaft gelacht. Zum Einen waren ihre Rechtschreibfehler sehr belustigend und wirklich zahlreich, zum Anderen erkannte ich im Text die Verwandtschaft zu einem der Flugblätter der ‚weißen Rose’. Sofie hatte tatsächlich versucht, den Text von damals auf die gegenwärtige Situation umzusetzen, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob sie damals das Wort „apathisch“ überhaupt kannte.
Nicht dass dieses Ereignis eine besondere Veränderung in die Klasse gebracht hätte; nach Schulschluss fand sich so manches Blatt auf dem Schulhof oder auf den Bürgersteigen wieder, und nicht selten lag die weiße Rose daneben. Aber für Sofie änderte sich alles. Sie wurde ernster und eifriger. Leicht hatte sie es nicht, aber sie kämpfte um die Versetzung, sie kämpfte um die Qualifikation, und sie kämpfte schließlich um das Abitur. Möglich, dass ihr dabei so manches Mal etwas geschenkt wurde. Zumindest tat ich es am Anfang, denn ich wollte, dass dieses Mädchen es schaffte.
„Wie können wir uns nur so unglaublich apathisch verhalten? Verschließt Eure Augen nicht vor dem, was ihr bereits gesehen habt.“
Ich drehe mich um und gehe heim, aber ich lächle noch eine Weile, weiß ich doch, dass ich sie noch oft reden sehen und hören werde.