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Eine verhängnisvolle Nacht
Es ist dunkel. Meine Augen sind geschlossen. Neben mir höre ich das Atmen meiner Schwester und vor mir das leise Raunen meiner Eltern, die eine erregte Diskussion über das Hotel führen. Schmetterlinge breiten sich in meinem Bauch aus. Ich stelle mir den goldgelben Sand mit den großen Palmen vor und das weiche Bett aus Daunen. Vor lauter Vorfreude wird mir ganz schlecht. Ich blinzle und schaue zu meiner friedlich schlafenden Schwester rüber. Unter ihren Augen ist ein leichter Schatten zuerkennen. Ein zufriedenes Lächeln breitet sich in mir aus. Ihre Hand zuckt einmal kurz, dann liegt sie wieder still auf ihrem Schoß. Leicht dreht sie ihren Kopf zur Seite, dabei fällt ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. Ich stelle mir vor, wie sie gerade von ihrem ersten Schultag träumt, auf den sie sich so gefreut hat. Ich stelle mir vor, wie sie mit einer viel zu großen Schultüte am Eingang der Schule steht und ein breites Grinsen in ihrem feinen Gesicht prangt. Ich sehe das Leuchten in ihren haselnussbraunen Augen. Immer noch lächelnd wende ich meinen Blick von ihr ab und schaue aus dem Fenster. Die Bäume huschen an uns vorbei und ein leichtes Rauschen der fahrenden Reifen ist zu hören. Plötzlich schreit meine Mutter auf. Erschrocken fällt mein Blick auf einen großen LKW, der genau vor uns auf einmal aus der Bahn kommt und zu Seite kippt. Ich höre das Quietschen der Reifen neben uns. Mein Blick fällt auf meine Schwester. Sie schläft immer noch tief und fest. Ein seliger Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht. Panisch schaue ich wieder nach vorne. Mein Vater versucht vergeblich den Wagen umzulenken. Doch es ist zu spät. Ich höre ein lautes Krachen. Splitter fliegen an mir vorbei. Mein Vater dreht sich mit blutendem Gesicht zu mir um und sagt: „Pass auf deine Schwester auf.“ „Wir lieben euch“, ruft meine Mutter panisch. Fast als hätte sie Angst es würde nicht zu mir durchdringen. Doch für mich ist alles so klar und deutlich, dass mir schlecht wird. Das erschöpfte Sprechen und das leichte Krächzen meiner Eltern ist das letzte, was ich von ihnen höre, bevor meine Mutter erschöpft hustend zur Seite kippt und mein Vater aufs Lenkrad fällt. Völlig unfähig etwas zu sagen, geschweige denn zu tun, schaue ich auf meine Schwester. In ihren mittlerweile wachen Augen glitzern Tränen und in ihrem Gesicht sind mehre Wunden. Ein Arm steht merkwürdig ab und ihr Bein ist knallrot. Ein Schluchzen entfährt mir, als ich ihre liebliche Stimme höre. „Komm uns im Himmel besuchen, ja? Und pass auf Teddy auf. Er hat sonst Angst.“ Sie hält mir ihren zerknautschten Teddy entgegen. Meine Schwester. Meine so tapfere Schwester. Ich nehme ihre kalte Hand und streichel ihr mit der anderen über die Wange. Dann nicke ich. Ich werde ihn beschützen. Wenn ich schon nichts für sie tun kann, dann für ihn. Ich werde für ihn sorgen. Aufpassen, dass er nicht schmutzig wird. Ich werde ihn lieben und behüten. So wie ich es für meine Schwester getan hätte. Doch in diesem Moment ist mir nicht klar, dass auch ich diese Nacht nicht überleben würde.