Eine unwirkliche Begebenheit
Ich weiß nicht mehr, wie es genau begann, und wann es seinen Anfang nahm. Es geschah plötzlich und unerwartet. An diesem Morgen hab ich mir bereits den Kopf darüber zerbrochen. Gab es Andeutungen von ihm, die ich nicht richtig gedeutet hatte? Wenn es so ist, fallen sie mir nicht ein. Sein Verhalten in den Tagen zuvor war normal gewesen; auch mir gegenüber. In der Schule war Thomas gewesen wie immer.
Er hatte seine kleinen Scherze gemacht und am Unterricht nur unkonzentriert teilgenommen. Doch dann...
Dann war es geschehen. Am Abend des ersten Tages der angebrochenen Sommerferien, auf die wir uns schon seit Wochen gefreut hatten.
In der Schule hatten wir ausgemacht, dass Thomas bei mir übernachtet. Es war eine gute Gelegenheit Horrorfilme zu schauen, auf die wir schon immer scharf gewesen waren. Meine Eltern waren am diesem Tag auf einer Hochzeitsfeier eingeladen und sie hatten angekündigt erst spät in der Nacht wieder zu kommen.
Ein bisschen Blut und Tod im Fernsehen, Bier und etwas Vodka, was konnte es schöneres geben, für zwei 16jährige? Insgeheim hoffte ich darauf, Thomas würde ein paar Pornos von seinem älteren Bruder mitbringen. In den Pausen hatte er oft von ihnen geschwärmt und einem erlesenem Kreis auf dem Schulhof die einzelnen Praktiken geschildert. Seine Erzählungen hatten mich ganz spitz gemacht. Ich war und bin eben auch nur ein pubertierender Junge, der keine Freundin hat, an der er sich auslassen kann.
Er brachte an diesem Abend keine Pornos mit (was mich zwar enttäuschte, aber nicht so sehr, wie man vermuten mag) dafür aber jede Menge Splatterzeugs; von Freitag der 13. bis zu den ersten drei Teilen von Nightmare on Elmstreet.
Es war gerade einmal zehn Uhr durch, als es uns zu langweilig wurde; nach fünfzig Morden nach dem immergleichen Muster ist auch Jason nicht mehr ängstigend. Wir ließen das Wohnzimmer meiner Eltern und den Schnaps (von dem wie jeder nur zwei Gläser getrunken hatten) hinter uns und gingen in mein Zimmer.
Es ist nicht sehr groß, doch für eine Matratze und einen Schlafsack reicht es noch. Thomas breitete seine Sachen neben meinem Bett aus. Es war nichts ungewöhnliches daran, dass er die Nacht bei mir verbrachte; das hatte er schon öfters gemacht. Früher sicherlich häufiger, als in letzter Zeit, aber ich denke auch das ist normal in der Pubertät.
Um aber die Geschehnisse der vergangenen Nacht zu erzählen, muss ich ein Stück weiter ausholen und die Beziehung zwischen Thomas und mir erklären. Wir leben seit acht Jahren gemeinsam in einer Straße mit Einfamilienhäusern. Meine Eltern waren mit mir ‚94 hier her gezogen und am Anfang fiel es mir schwer, mich auf die neue Situation in dieser neuen großen Stadt einzuleben. Ich war schon immer ein schüchterner Junge gewesen und hatte im Kindergarten nie mehr, als zwei, drei gute Freunde gehabt. In meinem neuen Zuhause war ich nun ganz allein. Die anderen Kinder wollten nichts mit mir zu tun haben und nannten mich spöttisch „Bauernjunge“, weil ich vom land kam. Das machte es natürlich nicht einfacher für meine Eltern, die die selben Probleme hatten. Auch sie wechselten von einer vertrauten Umgebung, in der schon ihre Eltern aufgewachsen waren und wo ihre Schulfreunde und Geschwister lebten in eine zunächst kalte Umwelt. Mein Vater arbeitete in einer VW-Werkstätte, wo er noch heute beschäftigt ist. Ich fühlte mich unwohl und wäre am liebsten wieder von hier weg. Dies änderte sich, als ich eingeschult wurde. Da gab es plötzlich einen Jungen, der gern mit mir spielte und dem es auch gar nichts ausmachte, sich im Unterricht neben mich zusetzen. Dieser Junge war natürlich Thomas. Und so begann unsere Freundschaft. In den letzten Jahren haben wir viel zusammen erlebt. Wir haben jeden scheiß durch, den man eben so macht, wenn man jung und ungebunden ist. Wir nahmen an Zeltlagern teil, spielten gemeinsam in einem Fußballverein (er ist ein begnadeter Stürmer, während ich nur zu Einsätzen komme, wenn wir zuwenig Mann sind) und gingen auf Parties. Wir stritten darüber welche Mädchen aus unserer Klasse die größten Titten hatten und welche den geilsten Arsch. Kurzum, wie erlebten das, was fast alle in diesem Alter erleben. Natürlich hatte ich, wie auch Thomas noch weitere Freunde mit denen wir weggingen, aber zu keinem war mein Verhältnis so eng, wie zu ihm.
Jetzt wo ich darüber nachdenke wird mir klar, wie glücklich ich mich schätzen kann, so jemanden kennen gelernt zu haben. Wenn nicht letzte Nacht gewesen wäre. Ich befürchte, dieser Abend wird unsere Freundschaft auf eine harte Zerreisprobe stellen, wenn ich ihm überhaupt noch einmal unter die Augen treten werden kann. Ich schäme mich.
Es ist die selbe Scham die ich empfinde, wenn ich tags zuvor besoffen war und Mist gebaut habe, und ein anderer mich darauf anspricht. Doch jeder ist in seinem leben mal besoffen und baut Mist, aber das, was wir gemacht haben, macht nicht jeder in seinem Leben.
Nach dem wir noch eine zeitlang in meinem Zimmer Fernsehen geschaut hatten, verkrochen wir uns ins Bett, bzw. in den Schlafsack. Das Licht war ausgeschaltet. Keiner von wollte jetzt schon schlafen und keiner von uns war müde. Und so begannen wir uns Geschichten zu erzählen. Keine erfundenen, fiktiven Geschichten, sondern welche aus dem täglichen Leben. Wir redeten über Schule, Eltern, die neuesten Filme und die besten CDs, so wie man sich ein Gespräch zwischen zwei heranwachsenden eben vorstellt. "Hast du's schon mal getrieben?", fragte er mich plötzlich. Ich war überrascht und wusste zunächst nicht richtig, was ich darauf antworten sollte. Aber Thomas nahm mir diese Entscheidung ab.
"Ich hab dir noch nichts davon erzählt", sagte er, "aber ich hab es gemacht."
Wir wussten beide, dass das nicht stimmte. Thomas hatte seit der Grundschule keine Freundin mehr gehabt. Es lag nicht an seinem Aussehen (er war recht hübsch, nur ein bisschen zu schmal für sein Alter), sondern vielmehr an seinem Verhalten. Er war kein Draufgänger, keiner der gern auf Parties ging. Es viel ihm schwer mit Leuten ins Gespräch zu kommen (noch schwerer als mir, obwohl ich auch kein besonders begabter Redner bin; ich nuschele, sagen meine Lehrer). In der Gegenwart von Mädchen konnte man alles vergessen. Er benahm sich dann wie ein Idiot.
Nur wenn wir alleine waren, mutierte er plötzlich zum Frauenschwarm, der die tollsten Sachen mit Mädchen anstellte. Ich habe ihm nie gesagt, dass ich ihm seine Geschichten nicht abnehme, weil er mein Freund war und ich ihn nicht verletzen wollte.
Aber in Wirklichkeit erging es ihm mit dem weiblichen Geschlecht nicht besser als mir.
„Erzähl“, sagte ich und seufzte innerlich. Er würde mit einem seiner langen, ausführlichen Berichten anfangen, die nur dazu da waren, um mir zu beweißen, was für ein toller Kerl er war.
„Es war letzten Sommer, als wir mit der Ferien-Freizeit unten in Bayern waren. Erinnerst du dich noch an Julie?“
Ich erinnerte mich an Julie, und ich erinnerte mich an die endlos langen Nächte, die ich wach im Zelt gelegen hatte, und in denen ich mir den Kopf wegen ihr zerbrochen hatte. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, warum er immer so übertreiben musste. Hätte er nicht von einem anderen Mädchen erzählen können? Warum ausgerechnet Julie, auf die alle scharf gewesen waren und die keiner bekommen hatte, weil sie Zuhause einen zwanzigjährigen Freund sitzen hatte.
„Ja, ich kann mich noch gut an sie erinnern. Sie war wirklich hübsch, nicht?“ Ich versuchte interessiert zu klingeln und es gelang mir. Vielleicht sollte ich Schauspieler werden, dachte ich sarkastisch.
„Was meinst du erst, wie sich ihre Brüste angefühlt haben“, sagte Thomas und machte eine Pause, damit seine Worte ihre Wirkung entfalten konnten.
„Ihre Nippel stehen, wie die Enden von Radiergummis, die an den Enden von Bleistiften angebracht sind. Oh man!“ Er seufzte.
„Sie war wirklich geil!“ Ich hasste ihn dafür. Er spielte sich auf, war in diesem Moment ein verdammter Angeber. Er war einer von denen, die in der Schule immer auf uns herab sahen. Er unterschied sich nicht mehr von ihnen.
„Es war am vorletzten Abend“, fuhr Thomas fort. „Du hast schon geschlafen, da hab ich mich raus geschlichen. Ich hab in Julies Zelt noch Licht brennen sehen. Ich bin einfach rein und sie war die einzige von den Dreien, die noch wach war. Sie hat ein Buch gelesen. Ich hätte nie gedacht, dass so ein Mädchen Abends liest. Verstehst du?“, fragte er. „Lesen, so ein Mädchen!“
„Ich versteh was du meinst“, sagte ich, als er allzu theatralisch zu sprechen anfing. Ich wusste tatsächlich, was er damit meinte, aber ich teilte seine Ansichten in dieser Hinsicht keineswegs.
„Ich meine, sie könnte alles machen, wozu sie Lust hat. Schöne Mädchen können das. Und sie war schön; verdammt schön sogar!“ Ja, das war sie wirklich gewesen. Und wenn ich an ihr enges Top denken musste, aus dem ihre beiden Titten halb rausquellten wurde mir warm ums Herz, und verdammt heiß an einer anderen Stelle.
„Also, wie schon gesagt“, erzählte Thomas weiter, während ich mir vor meinem geistigen Auge Julie nackt vorstellte. „Alle anderen schliefen schon, außer sie. Sie sah mich an und ich fragte, ob wir nicht draußen etwas spazieren gehen könnten.“ Das hättest du sie niemals gefragt, du verdammter Arsch. Und das einzige, was sie getan hätte, wenn du plötzlich im Mädchenzelt gestanden hättest, wäre dich anzuschreien und dich ein verdammtes Schwein zu nennen.
Ich war erschrocken, über meinen plötzlichen Hass auf meinen langjährigen Freund. Und dieser Hass ließ mich etwas sagen, dass ich unter normalen Umständen nie ausgesprochen hätte.
„Du weißt selbst, dass das nicht stimmt“, sagte ich und war geschockt. Meine Worte klangen hart und für eine Weile herrschte drückende Stille.
„Was meinst du damit?“, fragte mich Thomas.
Ich wollte es nicht sagen, aber nun konnte ich keinen Rückzieher mehr machen.
„Du hast es mit Julie nicht getrieben. Du hast es noch mit niemanden getrieben!“
„Das stimmt nicht“, setzte er an, aber ich unterbrach ihn. „Hör auf mir etwas vorzumachen!“ Die Worte klangen scharf; härter als ich sie aussprechen wollte.
Daraufhin sagte er nichts mehr. Ich hatte ihn gedemütigt und es tat mir leid. Er war schon oft gedemütigt worden, ob in der Schule, oder von seinem Vater, der ihm deutlich zeigte, dass er seinen Sohn für einen Versager hielt. Thomas hatte es nicht verdient, auch noch von seinem besten Freund erniedrigt und bloßgestellt zu werden.
Dann hörte ich ihn weinen. Es war das erste Mal, dass ich einen Jungen bei einer solchen intimen Handlungen direkt neben mir sitzen (oder besser gesagt liegen) hatte. Es war eine äußerst unangenehme Erfahrung (vor allem, weil ich an diesem Zustand Schuld war) und ich brenne darauf, sie nie wieder miterleben zu müssen.
Thomas hatte sein Gesicht unter seinen Armen verborgen, so dass mir wenigstens der Anblick seiner mit Sicherheit on Tränen geröteten Augen erspart blieb. Schon so waren meine Schuldgefühle groß genug.
Ich lag einfach so da auf meinem Bett und bewegte mich nicht einen Zentimeter. Ich wollte etwas sagen; wollte alles irgendwie wieder gut machen, den schönen Abend retten, aber kein Wort kam über meine Lippen. Vielleicht war das auch besser so; wer weiß, bestimmt hätte ich es wieder vermasselt.
Nach einer Weile (nachdem ich die Schluchzgeräusche und das Nasehochziehen nicht mehr länger ertragen konnte) fasste ich mir ein Herz und kam zu Thomas auf den Boden gekrochen. Er sah auf. Seine tränenbefluteten Augen starrten mich verzweifelt an. An das, was ich als nächstes tat kann ich mich, von allen Dingen, die an diesem Abend passierten, am aller wenigsten erinnern. Ich legte meine Arme um ihn. Er gab nach anfänglicher Abneigung der Umarmung nach und presste seine Brust gegen die meine. Ich spürte seine Wärme und die Nähe zu seinem Körper war mir nicht unangenehm. Sein Gesicht lag auf meiner Schulter und ich konnte seine heißen Tränen spüren, wie sie auf meiner Haut verliefen und sich ihren Weg suchten. Als er seinen Kopf hob, sah er mir genau in die Augen. Ich hielt seinem Blick stand, der nichts anderes als Verzweiflung beinhaltete. Er küsste mich auf meine Lippen. Ich zuckte nicht zurück, oder tat sonst etwas, um seiner Liebkosung auszuweichen. Es fühlte sich eigenartig an. Ich weiß nicht, wie es ist von einem Mädchen geküsst zu werden, aber das hier fühlte sich komisch an. Ich hatte immer gedacht, dass ich es eklig finden würde, wenn mich ein Junge küsst, aber ich ekelte mich keineswegs. Ich mochte es, von Thomas geküsst zu werden, auch wenn ich es eigenartig fand. Nachdem sich unsere Lippen wieder getrennt hatten, war ich es, der die Initiative ergriff. Bevor mein Mund den seinen berührte schloss ich die Augen. Die Situation war so absurd und so neu, dass ich jetzt nicht mehr weiß, was ich dabei fühlte, oder ob ich überhaupt etwas gefühlt habe. Aber eins ist sicher: Gedacht habe ich in diesem Moment nicht.
Das Nächste, das ich spürte war, wie seine Zunge ihren Weg in meinen Mund suchte. Ich öffnete die Lippen und wir küssten uns französisch. Und es war schön. Was darauf folgte, war wie ein Szenario aus einem Softporno. Wir entkleideten uns beide bis auf unsere Boxershorts. Keiner von uns trug eine von den weiten; nein, unsere saßen eng am Körper und ließen die Umrisse unseres Geschlechtteils erkennen. Ich legte mich mit dem Rücken auf mein Bett, nachdem ich die Decke runter geworfen hatte. Thomas beugte sich über mich, und noch einmal küssten wir uns leidenschaftlich. Er setzte sich auf meinem Bauch und ich spürte, wie sich mein Penis aufrichtete und gegen den engen Stoff meiner Boxershorts drückte. Ich sah seine Bauchmuskeln und wie sie sich bei jedem Atemzug spannten und entspannten. Seine Nippel standen ab, wie die einer erregten Frau. Dann rutschte er mit seinem Becken zurück, so, dass er mit seinem Po direkt auf meinem Schwanz saß.
Um es abzukürzen (und um mir die Scham zu ersparen über jedes Detail in dieser Nacht nachzudenken - obwohl ich diesen Akt mehr mit den Augen eines Zuschauers, als mit meinen eigenen sah), wir trieben es mit einander; wir machten Sex; wir schliefen miteinander; wir steckten ihn uns gegenseitig in den Arsch; wir machten Liebe - nehmen sie einen dieser Begriffe, suchen sie sich den aus, der ihnen am ehesten zusagt. Wenn sie katholisch erzogen wurden bedienen sie sich vielleicht des Letzterem (ich würde in meiner Sprache den "Arsch-Ausdruck" verwenden).
Keiner sagte auch nur ein Wort; es herrschte magische Stille. Vielleicht, weil jeder von uns beiden wusste, dass dies nicht die Realität war. Dieser Augenblick war nur ein kurzes Ausbrechen aus unserer beider Leben. Wie als würde man ein Buch lesen und ganz in die Welt von Feen und Zwergen eintauchen.
Das war die Nacht, wie ich sie aus meiner halbabwesenden Sicht empfunden habe - ich weiß nicht, wie Thomas das tut, und um ehrlich zu sein, will ich dies auch gar nicht. Ich empfinde keinen Ekel für das, was passiert ist, trotzem schäme ich mich. Wie ein Junge, der weiß, dass Wichsen etwas ganz Normales ist und trotzdem dem Mädchen, welches seine Gedanken bepflügelte, am nächsten Morgen nicht in die Augen sehen kann.
ENDE
26. 02. 03 by TIMO MENGEL