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Eine Unterhaltung über die Gesellschaft
A conversation about society
Zwei Uhr nachts. Seit nunmehr fünf Stunden saß er im nächtlichen D-Zug, vier hatte er noch vor sich. Er hatte zwanzig Minuten lang einen Mitfahrer gehabt. Dieser war in Frankfurt eingestiegen, hatte das Abteil aber vor drei Stunden verlassen - ohne zurückzukehren. Vermutlich saß er schon längst nicht mehr in derselben Bahn.
Er hatte die Stille und die Einsamkeit genossen. In seinem Job waren immer Menschen um ihn; permanenter Stress war sein Alltag. Diese Reise war daher eine angenehme Erholung gewesen, die verhaltenen Rollgeräusche des Wagons, die ihn an das Rauschen des Meeres in einer romantischen, mondbeschienenen Nacht am Strand erinnerten, waren Balsam für seine aufgekratzte Psyche.
Alles schön und gut, doch irgendwann war diese erzwungene Ruhetherapie langweilig geworden. Deshalb kam es ihm gerade recht, als sich mit einem Rumpeln die Schiebetür zum Korridor öffnete und jemand zu ihm in das Abteil trat.
"Darf ich mich setzen?" Die Stimme des Fremden klang warm, freundlich und angenehm, war aber irgendwie, kaum merkbar, mit einer unterschwelligen Emotion hinterlegt, die sich schwer einordnen ließ. So etwas ignoriert man für gewöhnlich und misst ihm keine Bedeutung bei.
"Gern.", erwiderte daher der einsame Reisende. "Ich würde mich über etwas Gesellschaft freuen."
Der Neuankömmling nahm Platz, direkt gegenüber seines gelangweilten Sitzgenossen.
"Gesellschaft." Die Stimme des Mannes klang fast abfällig. "Das ist es, wonach alle Menschen suchen. Es zieht sie an, wie das Licht die Motten, die sich in der Dunkelheit nach Wärme sehnen. Aber wenn sie diesen wunderschönen Ort erreicht haben müssen sie erkennen, dass es eine Insektenfalle war. Die Gesellschaft fängt die Menschen ein, lässt sie nicht mehr los und zerstört sie nach und nach."
'Na toll', dachte der Bahnfahrer. 'Ein Miesmuffel.'
Er musterte sein eigenartiges Gegenüber. Er war groß, mindestens eins fünfundachtzig. Er hatte tiefschwarzes Haar, das in scharfem Kontrast zu seiner auffallend hellen Haut stand. Die geschleckte Kurzhaarfrisur beschwor das Klischee eines Bilderbuchmachos herauf; ein Eindruck, der durch den glänzenden, schwarzen Ledermantel nur verstärkt wurde. Dazu der eng anliegende Pullover, der unter dem Mantel zu sehen war und der so schwarz war wie der Rest seines Aufzugs: die pechschwarze Hose, die völlig unangebrachte, stark getönte Sonnenbrille mit ovalen Gläsern in einem schwarzen Gestell. Und letztlich noch die farblich passenden, glänzenden Lederschuhe.
Er kam zu dem Schluss, dass er es mit einer Art von deprimiertem Rockstar zu tun haben müsse. Das versprach ein Gespräch zu werden, zu dem man nicht jeden Tag Gelegenheit hatte.
"Ein interessantes Bild.", packte er es an. "Was machen Sie eigentlich beruflich, Herr...?"
Der andere fixierte ihn durch die schier undurchdringlichen Gläser seiner Brille. "Sie möchten wohl meinen Namen wissen. Deshalb vertrauen Sie auf die Regeln der Gesellschaft, die es mir hier gebieten würden mich vorzustellen. So drücken Sie sich um eine Frage. Aber ich will es Ihnen beantworten: Ich nenne mich Black. Falkman Black."
"Ja, verrückt wie angepasst wir sind." Wirklich ein seltsamer Kauz. "Falkman Black. Das klingt wie ein Künstlername."
Der andere lachte. "Ein Künstlername. So habe ich es noch nie betrachtet. Ja, vielleicht kann man es so nennen. Tatsächlich gibt es da Gemeinsamkeiten, denn die Kunst ist, genau wie ich, stets auf der Suche nach dem Leben, der Essenz des Seins. Das ist meine Profession."
"Aha..." In Wahrheit hatte er nichts verstanden.
Und genau das sagte Black ihm auch.
"Meine Güte, hören Sie sich nur an. Aus Ihnen spricht die Gesellschaft selbst. Sie haben überhaupt nicht kapiert was ich meinte, aber Sie haben nicht nachgehakt."
Er beugte sich vor und faltete die Hände, wobei er Daumen und Zeigefinger abgespreizt gegen das Pendant der anderen Hand legte.
"Nur warum haben Sie es nicht getan? Wollten Sie meine Gefühle nicht verletzen? Ich bezweifle, dass Ihnen so eine Überlegung auch nur für eine Sekunde in den Sinn kam. Hatten Sie Angst, dass ich Ihnen beim Stellen einer möglicherweise dummen Frage etwas antun würde? Unwahrscheinlich. Warum also nicht?"
Der Gesellschaftsmensch war überrumpelt und nahm eine Abwehrhaltung ein. "Ich hab keine Ahnung, verdammt!"
"Weil man es nicht tut!" Die Antwort des schwarzen Mannes war scharf und laut. "Das ist der ganze Grund. Wer nachfragt was der andere meint steht als Trottel da, es kann seinem Ruf, also seinem Ansehen in der Gesellschaft schaden, und wenn es nur für einen Moment im Auge des Gesprächspartners geschieht."
"Na schön, meinetwegen. Dann ist es eben so. Na und?" Das ging ihm doch schnell auf die Nerven. "Die Gesellschaft ist wichtig, ohne sie könnten die Menschen nicht zusammen leben!"
Der andere sprach wieder etwas sanfter. "Soweit richtig. Aber nicht ganz. Die Menschen können sehr wohl ohne die Gesellschaft leben, nur nicht ohne irgendeine."
"Vielleicht. Aber diejenige, die sich durchgesetzt hat wird ja wohl die beste sein."
"Woher wissen Sie das?"
"Weil die Menschen sie angenommen haben." Ein hoffnungsloser Fall. "Die anderen Formen davon nicht."
"Ist das so?" Jetzt klang Black wirklich verächtlich. "Es gibt viele Menschen, die sie nicht annehmen. Diese Leute fliehen zu Dingen wie Punk oder HipHop und klinken sich somit aus der Gesellschaft aus. Es gibt andere Kulturen, mit anderen Ansichten, Sitten und Gebräuchen."
Er nahm die Sonnenbrille ab. Für einen Moment glaubte der Bahnreisende dämonische, rot leuchtende Augen zu sehen. Aber als er ungläubig zwinkerte und wieder hinsah blickte er nur in zwei dunkelbraun eingefasste Pupillen, die ihn anzuziehen schienen, zweifellos mit der Absicht ihn zu verschlingen. Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Einen so furchteinflößenden Blick hatte er noch nie zuvor erlebt.
"Es gibt Dinge, die Sie einfach nicht wahrhaben wollen. Es wird immer alles so dargestellt, als sei die Welt perfekt. Doch es gibt eine Menge von Leuten, denen die Regeln nicht passen, die ihnen aufgezwungen werden. Die Randgruppen werden diskriminiert, unterdrückt oder verleugnet. Auf jeden Fall werden ihre Interessen nicht berücksichtigt, keiner versucht sie wieder in die Gemeinschaft zu integrieren. Wie viele entfliehen den Problemen des Regelwerkes durch Alkohol, Kriminalität oder Drogen?"
Sein Blick intensivierte sich. Der bedrängte Reisende fühlte Schweiß auf seine Stirn treten. Er lockerte den Knoten der Krawatte ein wenig, die er über seinem Anzug trug, um noch atmen zu können. Aus den Augen dieses schwarzen Mannes sprach enormes Selbstbewusstsein - und eine Kraft, von der er zu fürchten begann, dass sie stark genug war um die sprichwörtlichen tödlichen Blicke, die man gelegentlich abfeuerte, tatsächlich lebensgefährlich zu machen.
"Aber selbst die sogenannten 'gesellschaftsfähigen' Menschen versuchen permanent ihr zu entfliehen. Was glauben Sie ist der Sinn von Theater, Musik, Filmen und Computerspielen? Sie dienen der Befreiung in der Phantasie! Dort dürfen Sie töten, schreien, prügeln, Sex haben mit wem Sie wollen und überhaupt ALLES!
Das heißt, wenn die Vision nicht zensiert, also von der Gesellschaft verboten wird. Zensur. Ein weiterer Wachturm des Gefängnisses."
"Ge-Gefängis?" Er presste sich in seinen Sitz, um möglichst viel Abstand von Falkman Black halten zu können.
"Ja. Ein Gefängnis für den menschlichen Individualismus. Ohne diese Fesseln würdet ihr euch gegenseitig zerstören, es wäre ein ewiger Krieg!"
Er flüsterte jetzt, aber die Worte schienen trotzdem dröhnend laut durch das Abteil zu hallen und seinen Mitfahrer zu erschlagen.
"Die Menschen sind nicht fähig, ohne eine festgefahrene, vorgegebene Gesellschaft zu existieren. Ohne eure Sitten und Gesetze seid ihr selbst die gefährlichsten Waffen, die es gibt - nur leider völlig unkontrollierbar. Mit ihnen seid ihr schwach, lächerlich und leicht zu stellen."
Er stand auf. Ohne weitere Worte ging er aus dem Abteil und ließ seinen zitternden Zuhörer zurück.
Der erholte sich bald.
'Wahnsinn.', dachte er. 'So heftig war das doch gar nicht, was er gesagt hat. Oder besser: Was er mir ins Hirn gebrannt hat.' Er schüttelte den Kopf. 'Was für ein Verrückter.'
Plötzlich hörte er draußen im Gang eine Frau kreischen. Sie klang völlig hysterisch, als habe sie den Leibhaftigen persönlich gesehen.
Er beschloss einmal nachzusehen, was da vor sich ging. Als er auf den Gang trat sah er etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Etwas weiter den Korridor hinunter, in Richtung des Hecks des Zuges, stand eine Frau vor einer offenen Abteilstür. Darin hatte es sich ein einzelner Reisender bequem gemacht - es war sein Mitfahrer aus Frankfurt. Beziehungsweise das, was noch von ihm übrig war.
Das ganze Abteil war von Blut bespritzt, die Leiche war regelrecht darin getränkt. Ihre glasigen Augen starrten blicklos ins Leere, das Gesicht zeigte jedoch seltsamerweise keinen Schmerz oder Entsetzen. Es war eigentlich völlig ausdruckslos, als hätte der Mann nichts von seinem Tod mitbekommen. Das war allerdings recht unwahrscheinlich, oder besser: unvorstellbar, wenn man die offensichtliche Todesursache betrachtete:
Der Brustkorb war geöffnet worden, es sah aus, als habe ein großes Raubtier eine lange, scharfe Kralle hineingeschlagen und ihn dann aufgeschlitzt. Dann war das Herz gepackt worden - was noch davon übrig war lag auf den Rippen, die Gefäße immer noch an das Kreislaufsystem angeschlossen. Das Herz war nicht herausgerissen, sondern nur freigelegt worden. Es war teilweise zerrissen, als sei es geplatzt. Man erkannte aber deutlich zwei Löcher in der linken Herzkammer. Sein spontaner Eindruck war, dass ein Wolf, oder ein Löwe seine Reißzähne hineingeschlagen hatte. Der Korpus war jedoch nicht angefressen; es sah eher so aus, als hätte sich etwas an seinem Herzblut gütlich getan. Etwas - oder jemand?
'Ihr... er sagte immer ihr Menschen...'. Es schlug alles mit unglaublicher Wucht über ihm zusammen. Er musste sich unwillkürlich übergeben und taumelte in sein Abteil, auf seinen Sitz zurück.
Als später kein Hinweis darauf gefunden wurde, dass jemals ein Falkman Black, oder jemand der ihm auch nur ähnlich sah, an Bord des Zuges gewesen war, war er jedenfalls nur wenig überrascht...