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Eine unheimliche Begegnung
Eine unheimliche Begegnung
Heute Morgen fuhr ich bei strahlend blauem Himmel zur Arbeit. Die Sonne stand dicht unter den Baumwipfeln. Nicht mehr lange und sie würde ihren Platz im Zenit einnehmen, aber dann sollte ich bereits im Büro sitzen und schwitzen.
Doch ich hatte mich getäuscht. Am späten Vormittag braute sich ein Hitzegewitter über uns zusammen. Kurze Zeit später fielen die ersten Tropfen auf den trockenen Asphalt. Seitdem hatte es nicht mehr aufgehört.
Somit blieb mir nach Büroschluss nichts anderes übrig, als bei strömendem Regen nach Hause zu fahren. Innerhalb der ersten fünf Minuten war ich bis auf die Haut durchnässt. Ich schaute wütend zum Himmel, aber mein hasserfüllter Blick konnte den Regen nicht stoppen.
Der Weg am Rhein entlang war menschenleer. Nicht einmal ein Mensch, der seinen Hund spazieren führte, kam mir in diesem Sauwetter entgegen. Das war auch gut so, befand sich doch meine Stimmung auf dem Nullpunkt.
Nach einer halben Stunde Fahrt kam die letzte Steigung in Sicht. An der Stelle verließ ich den Rhein. Einige Kurven lagen noch vor mir und dann konnte ich den lehmigen Weg nehmen, der direkt in den Fahrradkeller führte. Kurz bevor ich vom Fahrrad absteigen wollte, sah ich einen Mann.
Ich dachte mir nichts besonderes, aber etwas stimmte an dem Mann nicht.
Er sah aus wie mein Vater, der vor mehr als zwanzig Jahren gestorben war. Verheißungsvoll lächelte er mich an. Bei dem Gedanken daran, dass mein Vater vor mir stand, schlug meine innere Uhr an. Sie wollte mich vorwärts treiben, wollte, dass ich den Weg in den Keller nahm und diesem Mann den Rücken zudrehte.
Aber ich konnte es nicht. Es war, als würde er mich zwingen, stehen zu bleiben. Mit flauem Gefühl im Magen schaute ich mir den Mann genauer an. Auch, wenn ich nicht wusste woher, aber ich hatte diesen Mann schon einmal gesehen. Bei diesem strömenden Regen wollte mir aber partout nicht einfallen, wo das war.
Ich suchte nach einer Möglichkeit, diese Situation so schnell wie möglich hinter mich zu bringen, aber ich konnte es nicht. Ich schaute ihm ins Gesicht. Warum? Ich wusste es nicht. Aber wohin hätte ich schauen sollen? Irgendwann trafen sich unsere Augen und ich bemerkte, dass er mich mit seinen braunen Augen musterte. Wie versteinert blieb ich vor dem Kellerweg stehen.
„Was geschieht, wenn er jetzt zu dir kommt?“, fragte ich mich, aber ich fand auch auf diese Frage keine Antwort.
Mit einem Mal läutete meine innere Stimme nicht mehr. Sie schrillte. Sie gab mir zu verstehen, dass ich mich diesem Menschen unter keinen Umständen nähern sollte.
Während meine innere Stimme das sagte, war ich aber nicht in der Lage, mich einfach herum zu drehen und das Fahrrad in den Keller zu schieben. Ich war nicht einmal in der Lage, meinen Blick von ihm weg zu nehmen. So ausgeliefert, wie in diesem Moment hatte ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt. Es ist kaum zu beschreiben, aber ich fühlte mich nackt. Ich versuchte meinen Blick auf den linken Baum zu richten und sah doch, wie mich dieser Mann plötzlich anlächelte.
Vorsichtig ging ich vorwärts, immer darauf bedacht, dass mich der alte Mann angreifen konnte. Und dann sah ich etwas, was nahezu unmöglich war. Die ganze Zeit über hatte ich nicht darauf geachtet.
Während meine Kleidung vollkommen durchnässt war, war der Mann vor mir trocken. Von meinen Haaren tropfte der Regen herunter, als würde ich unter der Brause stehen und der Mann stand da, als würde die Sonne scheinen. Seine Hände hingen an den Seiten herab. Seine Brille war nicht beschlagen und er lächelte in dem Moment, in dem ich ihn betrachtete, als hätte wir den schönsten Sommertag.
„Entschuldigen Sie bitte, junger Mann“, sagte er und kam auf mich zu. Meine Gehirnwindungen begannen zu rotieren. Ich wusste, dass ich diese Stimme zuordnen konnte. Es war lange her, aber diese Stimme würde ich nie vergessen. Sie gehörte …
Auch sie gehörte meinem Vater. Ich schloss die Augen. Als ich einen eiskalten Schauer den Rücken herunter laufen spürte, schüttelte ich mich. Am liebsten wäre ich weg gerannt, aber ein unsichtbares Band hielt mich an meinem Platz.
„Kennen Sie den Fasanenweg?“, fragte er mich und ich starrte ihn an, als ob ich einen Geist gesehen hätte. Das mit dem Geist stimmte ja irgendwie, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass es einen anderen Menschen gab, der meinem Vater so sehr glich. Bei dem Mann stimmte nicht nur die billige Brille, die er auf der Nase hatte, sondern vor allem die Stimme. Und seine Stimme würde ich mein Leben lang nicht vergessen.
„Der soll hier ganz in der Nähe sein.“, teilte er mir mit.
Ich versuchte immer noch meine Gedanken zu ordnen, was nicht leicht war. Schließlich erklärte ich ihm unter Mithilfe meiner Hände den Weg.
„Vielen Dank, junger Mann“, bedankte er sich und seine Augen glänzten in diesem Moment, wie ich noch nie zwei Augen glänzen gesehen hatte.
„Das dürfte nicht schwer zu finden sein“, teilte er mir mit, bevor er sich herum drehte und seinen Weg ging.
„Von hier sind es zehn Minuten Fußweg“, rief ich ihm hinterher.
Er setzte einen Schritt vor den anderen und ging los. Als ich ihm hinterher schaute, spürte ich den Regen nicht mehr. Mein Blick verfolgte ihn, bis er zur ersten Abzweigung kam. Dort drehte er sich nach rechts und verschwand aus meinem Blickfeld.
Aufgebracht und mit zitternden Beinen brachte ich mein Fahrrad in den Fahrradkeller. Ich wollte an meine Familie denken, an meine Kinder, aber der Mann ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zu dem Schluss, dass es sich wirklich um meinen Vater gehandelt hatte.
Nachdenklich schloss ich die Wohnungstür auf, zog den Schlüssel ab und legte ihn auf den Schuhschrank, der im Flur stand. Als die Tür ins Schloss fiel rief meine Frau: „Der Papa ist da.“
Nicht ganz bei der Sache begrüßte ich meine Kinder, die aus ihren Zimmern kamen. Ich hatte das Wohnzimmer noch nicht ganz betreten als ich von meiner Frau seltsam angestarrt wurde. Anfangs hatte ich gedacht, dass sie mich wütend anstarrte, weil ich mit den nassen Klamotten das Wohnzimmer betreten hatte und ihre Arbeit mit einem einzigen Gang ruinierte. Als sie mich aber fragte: „Was ist denn mit dir los? Hast du ein Gespenst gesehen?“, wusste ich nicht, was ich antworten sollte.
Mit offenem Mund stand ich eine Weile vor ihr und überlegte mir, was wirklich geschehen war. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich selber nicht mehr glauben, dass der Mann im strömendem Regen nicht nass gewesen war.
„Ich habe draußen einen Mann getroffen“, begann ich mit meiner Erklärung: „Er hat mich nach dem ...“
Ich stoppte mit meiner Erklärung, denn plötzlich fiel mir etwas ein, an dass ich bisher nicht gedacht hatte. Im Fasanenweg wohnte mein Bruder. Wir beide waren nie aus unserem Ortsteil weggezogen. Sollte dieser Fremde wirklich mein Vater gewesen sein, dann war er auf dem Weg zu ihm.
„Er hat dich was gefragt?“, erkundigte sich meine Frau.
„Er hat mich nach dem Fasanenweg gefragt?“, erklärte ich und spürte eine innere Angst, die fast zum zerreißen gespannt war. Ängstlich starrte ich auf das Telefon im Flur.
„Er hat sich hier nicht ausgekannt“, resümierte Helen.
„Er sah aus wie mein Vater. Er sprach wie mein Vater und er fragte mich nach der Straße, in der mein Bruder wohnt. Das kann doch kein Zufall sein“,erklärte ich ihr.
Langsam drehte ich mich zu ihr herum.
Unsere Unterhaltung dauerte nicht lange, bevor ich mit einem Schrecken feststellte, dass das Telefon klingelte. Schwerfällig drehte ich mich herum und ging in den Flur. Als ich das Telefon abhob, schwante mir nichts Gutes
Ich sah den grünen Knopf an, mit dem ich das Telefonat annehmen konnte und wusste doch, dass es ein riesiger Fehler war, ihn zu drücken.
Trotzdem nahm ich das Telefonat an.
„Müller“, sprach ich ins Telefon und bekam beinahe einen Schlag, als ich die Stimme meines Bruders vernahm.
„Hallo Guido“, sprach er ins Telefon: „Unser Vater steht vor meiner Haustür.“
Vielleicht vor Schreck, vielleicht durch einen Schock oder einen unsichtbaren Tritt gegen das Schienbein ließ ich den Hörer fallen. Sekundenlang starrte ich ihn an und hob ihn nur mit Widerwillen auf. Meine Frau stand mittlerweile auf der Schwelle zum Flur und schaute mich an.
„Was hast du?“, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf und versuchte, ihr damit zu sagen, dass ich nicht sprechen konnte. Als ich auf den Hörer starrte, dachte ich, dass jeden Moment eine Hand aus der Sprechmuschel heraus kam und mich ins Innere zog. Selber fühlte ich mich, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen.
„Bist du noch dran?“, fragte ich ihn, als ich den Hörer wieder an mein Ohr gepresst hatte.
„Ich hatte schon gedacht, dass du aufgelegt hast“, erklärte mir mein Bruder.
„Nein“, sagte ich: „Ich habe nur eine wahnsinnige Angst“
„Glaubst du, mir geht es besser?“, fragte mein Bruder: „Was soll ich denn jetzt tun?“
Für seine Angst hörte er sich aber ziemlich gut an. Wusste ich nicht einmal, was ich vor lauter Angst sagen sollte, redete mein Bruder, als sei nichts gewesen.
„Wo ist er denn jetzt?“, fragte ich ihn. In diesem Moment war es schon verdammt schwer, diese fünf Worte aus mir heraus zu bekommen.
„Wer?“
„Unser Vater.“
„Er hat bei mir geklingelt. Ich habe die Tür geöffnet und wieder zugeschlagen. Ich glaube, er steht immer noch vor der Tür und wartet darauf, dass ich ihm die Tür öffne.“
Ich konnte ihm schlecht den Ratschlag geben, dass er doch einmal nachschauen und ihn herein bitten sollte. Dieses Wesen war keine Person und mit einem toten Menschen konnte man nichts anfangen.
„Er geht gerade wieder“, sagte mein Bruder in meine Überlegungen hinein.
„Bist du dir sicher?“, fragte ich.
„Ich sehe ihn gerade, wie er die Straße entlang geht“, kommentierte er. Seine Stimme hörte sich mit einem Mal so anders an.
Wohin geht er?“, wollte ich wissen, aber die Antwort, die er mir gab, war vorher zu sehen.
„Glaubst du, dass ich ihm hinterher gehe?“, erwiderte er.
Unser Telefonat dauerte nicht mehr lange. Als ich den Hörer aufgelegt hatte, war nichts mehr so, wie es anfangs war. Nicht die Gegend hatte sich verändert, sondern meine innere Stimme, mein Bewusstsein.
Meine innere Stimme zog mich in die Küche und dort zum Fenster. Ich schaute hinaus auf die Straße. Es regnete noch. Schwächer als zuvor, aber in diesem Wetter ging man nicht vor die Tür.
Letztlich war es aber nicht der Regen der mich störte. Es war mein Vater. Er stand unweit unserer Wohnung und starrte mich an. Eine geistige Verbindung musste ihm gesagt haben, dass ich hinter dem Küchenfenster stand und heimlich die Gegend beobachten wollte.
Mir fuhr ein Schrecken durch die Glieder, als sich unsere Blicke trafen. Erneut fand eine Veränderung in mir statt. Ich wollte wissen, was er hier machte und entschloss mich, nach draußen zu gehen.
Langsam und fast panisch vor Angst zog ich meine Schuhe an und nahm mir einen Regenschirm aus dem Ständer. Ich sagte nicht einmal meiner Frau, wohin ich ging, aber sie bemerkte, dass ich die Wohnung verließ.
Draußen angekommen, sah ich, dass sie am Fenster stand und mich beobachtete. Sie musste auch den Mann sehen, der vor mit stand und mich erwartungsvoll anschaute.
„Du bist … mein“, brachte ich hervor, traute mich aber nicht zu sagen, was ich glaubte. Mir selbst kam diese Möglichkeit schon viel zu absurd vor, als dass ich daran glauben konnte. Außerdem konnte ich meine Angst nicht verbergen.
„Dein Vater“, sagte er mir, als sei es das normalste auf der Welt.
„Aber … aber „, stotterte ich, weil ich zu mehr nicht imstande war.
„Unmöglich?“, fragte er und lachte.
„Du bist tot. Du bist vor mehr als zwanzig Jahren gestorben“, erklärte ich ihm, als bestünde der ganze Satz nur aus einem einzigen Wort. Mein Verstand setzte aus.
„Ich habe meine Hülle verlassen, ja“, begann er mir zu erzählen: „aber die Seele wird nicht vernichtet. Die Seele ist das, was du bist. Dein Körper hilft dir nur, deinen Traum zu leben. Das ist der einzige Grund, warum wir auf der Erde leben. Nur leider sind die wenigsten Träume von Erfolg gekrönt.“
Ich hörte ihm zu, als er mir die Sache mit dem Traum erzählte. Als ich mich dabei ertappte, dass ich ihm glaubte, schüttelte ich mich. Sekunden vergingen, bevor ich mich gefangen hatte und dann spürte ich, dieses geistige Band, das zwischen uns immer noch existierte. Durch dieses Band spürte ich, dass er mir die Wahrheit sagte.
„Deine Seele aber gehört dir. Sie ist der Teil von dir, den du während deines Lebens auf der Erde am meisten schädigst. Deine ganzen Seelenzustände verändern dich und noch bevor du dich daran gewöhnt hast, stirbst du und wirst wieder du selbst.“
Er erzählte es mir und es hörte sich so an, als sei es das Schönste, was einem Menschen geschehen konnte. Der Tod sollte das sein, wonach man sich sehnte? Ich konnte es mir nicht vorstellen.
„Aber das ist noch nicht alles“, fuhr er nach einer Weile fort. Mittlerweile hatte der Regen eine Pause eingelegt und ganz vorsichtig startete die Sonne einen letzten Versuch, sich an diesem Tag durch die Wolken zu kämpfen. „Du hast alle Freiheiten“, begann mein Vater mit seiner weiteren Erklärung: „Nichts ist unmöglich. Du kannst ausgelassen auf einer immergrünen Wiese spielen, wenn es dir danach ist. Du kannst schwimmen gehen, dich mit Frauen treffen und brauchst keine Angst zu haben. Angst, ein Wort, das man im Paradies nicht kennt. Es gibt nur Freude. Keinen Krieg, keine Vergewaltigungen, keine Menschenschänder, die man auf der Erde immer wieder vorfindet. Ich schwärme nicht nur davon. Ich erlebe es jeden Tag.“
Ich malte mir in Gedanken aus, wie schön diese Gegend sein musste. Man fühlte sich, als wäre man im Schlaraffenland und könnte sich Milch und Honig in den Mund fließen lassen. Einfach gigantisch und meine Angst, die ich hatte, als ich zu meinem Vater hinaus gegangen war, war mit einem Mal verflogen. Sie hatte sich in Sehnsucht verwandelt. Ich spürte, wie sehr ich mich nach dieser Welt sehnte.
„Komm zu uns, Guido. Verlasse diese Welt und komm wieder heim.“
Nachdem er mich gebeten hatte, wieder Heim zu kommen, drehte er sich herum und verließ mich. Auf mein Rufen, dass er stehen bleiben sollte, reagierte er nicht. Mit schwerem Herzen sah ich, wie er sich im trüben Licht der Sonne auflöste. Er winkte mir nicht einmal zu. Ich hörte nicht ein letztes Wort von ihm. Nichts. Das ganze sah so aus, als hätte es niemals stattgefunden.
„Ich habe doch noch Fragen“, rief ich in die Leere hinein: „Verdammt, ich habe noch so viele Fragen.“
„Komm mich besuchen“, hörte ich ein letztes Mal seine Stimme. Ich wusste nicht, ob ich sie gehört hatte, oder ob sie nur in meinen Gedanken existierte.
Als ich mich herum drehte und zum Küchenfenster schaute, stand meine Frau immer noch dort und beobachtete mich. Sie sah besorgt aus, aber ich hatte meinen Entschluss gefasst. Ich betrat die Wohnung und hörte schon die Stimme meiner Frau.
„War er das?“, fragte sie.
„Ja“, sagte ich. Ich konnte ihr nicht mehr sagen. Wie sollte ich ihr erklären, dass ich mit einem Mann gesprochen hatte, der seit einer halben Ewigkeit tot war. Aber die Tatsache, dass auch sie ihn gesehen hatte, ließ mich die letzten Zweifel ablegen, die behaupteten, dass ich mir das alles nur eingebildet hatte.
„Du möchtest nicht wirklich darüber reden, oder?“, fragte meine Frau.
Ich ging ins Schlafzimmer und zog meine nasse Kleidung aus. Helen sagte nichts, als ich an ihr vorbei ins Wohnzimmer ging, mich aufs Sofa setzte und darüber nachdachte, wie so etwas möglich war. Je länger ich darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher kam es mir selbst vor. Wie sollte ich es ihr dann erklären können?
„So sah mein Vater aus“, teilte ich ihr nach einer Weile mit. An ihren Gesichtszügen erkannte ich, dass sie mir nicht ein Wort glaubte. Dafür hatte sich tief in mir aber eine Absicht herauskristallisiert, vor der ich keine Angst mehr hatte. Ich wollte meinem Vater folgen. Noch in dieser Nacht wollte ich mir die Pulsadern aufschneiden und in diese andere Welt gelangen.
Es dauerte nicht lange, bis meine Frau schlafen ging, meine Kinder schliefen und ich alleine im Wohnzimmer saß. Der Zeitpunkt war gekommen. Ich schaltete den Fernseher aus und stieß auf dem Weg in die Küche unbeabsichtigt gegen die Glasplatte des Wohnzimmertisches. Das darauf befindliche Glas fiel um und zerbrach. Trotzdem ging ich weiter und wollte meinen Plan umsetzen.
Langsam zog ich die Küchenschublade auf und sah mir die Messer an. Das schärfste Messer mit der spitzesten Spitze nahm ich heraus und hielt es an meine Pulsader.
„Wie schön, dass es hiermit nicht ...“, flüsterte ich vor mich hin, aber weiter kam ich nicht. Meine Frau stand an der Schwelle zur Küche, starrte mich ungläubig an und außer ihrem ohrenbetäubenden Schrei war sie nicht in der Lage etwas zu sagen.
Ich starrte sie an, ließ das Messer fallen und wusste nicht, was ich machen sollte. Obwohl ich mich umschaute, wusste ich in diesem Augenblick nicht, wie ich in die Küche gekommen war. Ich stand einfach da und hörte meine Frau weinen.
„Es“ stammelte ich vor mich hin: „Es … tut mir Leid.“
„Warum wolltest du dich umbringen?“, fragte sie schüchtern: „Ich brauche dich.“
„Ich weiß es nicht“, sagte ich und obwohl es sich unglaublich anhörte, war es die Wahrheit. Zärtlich nahm ich meine Frau in die Arme und küsste sie. An diesem Abend wollte ich nicht mehr alleine sein. Zusammen gingen wir ins Schlafzimmer und schliefen bald darauf ein.
Am nächsten Morgen wurde ich durch das Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen. Ich fühlte mich, als hätte ich nicht einmal eine Stunde geschlafen. Entsprechend müde ging ich hin und nahm ab.
„Ja“, sprach ich verschlafen hinein.
„Dein Bruder ist letzte Nacht gestorben“, teilte mir meine Schwägerin mit. Durch diese Worte war ich hellwach. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Hatte ich das Ganze mit meinem Vater nur geträumt? Hätte ich meinen Bruder retten können?
Leider gibt es niemanden, der mir diese Frage beantworten könnte?