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Eine unheilbare Sucht
Die Gedanken sind frei
"Es soll eine sehr gute Klinik sein!", sagte meine Mutter zum hundertsten Mal. Und wieder nickte ich nur und umklammerte meine rechte Hand mit der linken. Ich wusste einfach nicht mehr, wie man mit Menschen redet. Ein einziges Mal hatte sie gesagt, dass es hart werden würde. War das erst gestern gewesen? Nachdem ich drei Wochen lang nicht mehr auf ihre Anrufe reagierte, stand sie plötzlich an der Tür. Schweigend hatte sie auf das Chaos von leeren Pizzaschachteln, Keksdosen, dreckiger Wäsche, Büchern und Papieren geschaut und eilig alle Fenster aufgerissen. Und dann ihr Blick! Wahrscheinlich war mein Aussehen genauso wüst gewesen. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt in einen Spiegel geschaut hatte. Schließlich sprach sie das aus, was ich schon lange geahnt hatte: "So geht das nicht weiter!" und rief in der Klinik an.
Jetzt lenkte sie das Auto durch das geöffnete schmiedeeiserne Tor – nachts wurde es sicher abgeschlossen, ich bemerkte auf den ersten Blick die scharfen Spitzen, die warnend nach oben zeigten. Mir wurde ganz flau.
Der Kies knirschte leise unter den Rädern, die Zufahrt führte kreisförmig um ein großzügig angelegtes Blumenbeet. Weiße, rote und dunkelviolette bildeten abwechselnd mit kleinen Rasenstücken kunstvolle Ornamente.
Vier Gärtner krochen mit Gartenscheren bewaffnet zwischen Tulpen herum und blickten uns neugierig entgegen. Oder waren es Patienten so wie ich es gleich sein würde? Ich hasste Gartenarbeit! Aber sie sahen recht entspannt und zufrieden aus.
Meine Mutter parkte direkt vor der breiten Treppe, die zu dem von altrömischen Säulen getragenen Palast hinauf führte. Ein Palast oder die Hölle? Mit zitternden Knien stieg ich aus.
"Du wirst es schon schaffen!", wiederholte meine Mutter und ich spürte, dass sie es nur sagte, um sich selber davon zu überzeugen. Sie drückte mich so heftig an ihre Brust, als wäre es das letzte Mal.
"Danke", flüsterte ich benommen. Ihre Augen wirkten ganz glasig, als sie wieder ins Auto stieg und mir zum Abschied hinterher winkte. Inzwischen fuhr ein Taxi vor und ein sehr blasser, junger Mann mit wirren Haaren stieg zitternd aus. Sah ich etwa genauso elend aus?
Ich wandte mich rasch um und da eilte schon ein weiß gekleideter Pfleger auf mich zu, als ob er befürchtete, dass ich es mir im letzten Moment anders überlegen würde. Doch es gab kein zurück mehr für mich. Ein widerlich professionelles Pseudolächeln war in sein ansonsten nichtssagendes Gesicht gemeißelt und er rief mit enthusiastischer Stimme: "Herzlich willkommen im Haus der Stille!" Sein Händedruck brach mir fast meine wertvollsten Knochen. Meine Rechte zitterte wieder und ich versteckte sie schnell in der Hosentasche.
"Ich zeige Ihnen erst einmal Ihr Zimmer. Sie werden sich hier mit Sicherheit sehr wohl fühlen!", flötete mein Wärter. Ich hatte geahnt, dass diese Klischees kommen würden! Die riesige Eingangshalle war ebenso luxuriös, wie das Äußere des Gebäudes ahnen ließ. Leise Klaviermusik schwebte über bequeme Ledersofas und Sessel, der Duft von frisch gehacktem Holz stammte offensichtlich von dem meterhohen Stapel, der vor dem offenen Kamin bereit lag. Die Wände waren mit einer blassrosa Textiltapete bespannt. Es gab weder Bilder, noch Fernseher, Zeitschriften oder gar Bücher. Dafür sehr viele Palmen und andere Zimmerpflanzen in geflochtenen Übertöpfen. Wir schritten über lichtdurchflutete Gänge. Alles sollte wohl hell und freundlich wirken. Doch meine Beine fühlten sich an wie Pudding. Welche grausamen Methoden würde ich nur zu erdulden haben? Ich hatte schon viel von den erstaunlichen Erfolgen dieser berühmten Klinik gehört, aber ich hatte nie gewagt, nach Details zu fragen. Die Einrichtung meines Zimmers bestand lediglich aus einem geschnitzten Bauernbett, einem dazu passenden Kiefernholzschrank und einem Korbsessel. Das Fenster bot einen idyllischen Blick auf einen Gemüsegarten, dahinter Wiesen und ein wunderschöner See, der still in der Sonne glänzte.
"Ich helfe Ihnen schnell beim Auspacken, wenn Sie möchten, können Sie sich solange frisch machen." Der Pfleger deutete zur Badezimmertür, ich trottete dort hinein. Das Toilettenpapier war so weich, dass es fast zwischen den Fingern zerfiel. 'Die haben auch nichts vergessen!', seufzte ich.
Inzwischen hatte der Pfleger meine Wäsche fein säuberlich im Schrank gestapelt. Er schaffte es gleichzeitig zu lächeln und die Mundwinkel nach unten zu ziehen. Offenbar war er enttäuscht, weil er keinerlei Hilfsmittel meiner Sucht gefunden hatte. Ob er eine Erfolgsprämie bekam?
"Ziehen Sie doch Ihre Jacke aus, es ist warm genug!", seine Augen glänzten wie im Jagdfieber. Ich reichte ihm meine leichte Windjacke und er durchsuchte die Taschen.
"Machen Sie auch eine Leibesvisitation?", diese Bemerkung konnte ich einfach nicht unterdrücken.
"Aber nicht doch!", versuchte er mich zu beruhigen, zog meinen Mont Blank Kugelschreiber hervor und steckte ihn triumphierend ein.
"Ich bringe Sie jetzt zu der Leiterin unseres Hauses. Sie wird die genaue Diagnose stellen und den optimalen Heilungsplan mit Ihnen zusammen ausarbeiten." Sein Optimismus sollte wohl ansteckend sein, doch mir wurde wieder flau im Magen.
Frau Professor Reich-Ranitzki hätte es leicht mit jeder russischen Profisportlerin aufnehmen können - und sicherlich mit jedem ihrer Patienten. Ihr Haar war aerodynamisch kurz, ihr grimmiges Gesicht wurde durch eine hässliche Narbe entstellt, die sich vom äußeren rechten Augenwinkel bis zum Kinn zog. Na ja, eigentlich war da nicht mehr viel zu entstellen.
"Fragen Sie mich bloß nicht, ob ein gewisser Namensvetter mit mir verwandt ist!", keifte sie statt einer Begrüßung. Wenigstens sülzte sie nicht so rum, ich war fast erleichtert.
"Nun, da Sie also hierher gefunden haben, werden wir Ihr Problem bald in den Griff bekommen", fuhr sie in einem starken Akzent fort, der mich doch unangenehm an jemanden erinnerte. Wir ließen uns in die schwarzen Ledersessel sinken. Vor uns stand auf einem kleinen Tischchen ein rätselhaftes Gerät mit einem blinkenden Display, Kabeln, zwei etwa zehn Zentimeter langen Metallrohren und einer harmlos aussehenden Armbanduhr. Was für Folterinstrumente mochten das nur sein? Ich wischte mir die feuchten Hände an der Hose ab und versuchte wieder vergeblich, meine zitternde Rechte mit der Linken zu beruhigen.
"Wie Ihre Mutter mir am Telefon berichtete, traten erste Anzeichen Ihrer Sucht erst vor etwa einem halben Jahr auf, waren in letzter Zeit jedoch sehr massiv. Ich schätze Ihre Heilungschancen daher auf 70 %."
Frau Professor Reich-Ranitzki sprach frei, sie hatte weder einen Notizblock noch gab es einen Computer im Raum.
"Wir sind allerdings auf Ihre Mithilfe angewiesen. Wollen Sie wirklich von diesem abscheulichen Verhalten lassen?", ihre kalten, wasserblauen Augen blickten mich streng an und bei dem Wort "abscheulich" sprühte mir ein kleiner Speichelregen entgegen. Ich konnte nur nicken, mein Hals war wie zugeschnürt.
"Wir bieten hier sowohl Beschäftigungstherapie an, wie Holz hacken, Gartenarbeit, Korbflechten und so weiter. Holzhacken gestatten wir allerdings nur noch den Fortgeschrittenen." Ich schaute voller Bedauern auf ihre Narbe. Mein Kollege muss leider zu geschwächt gewesen sein.
"Natürlich nichts Kreatives, kein Malen, Töpfern und diesen Unsinn. Unser Ziel ist es schließlich, Sie auf den Boden der Tatsachen zurück zu bringen. Für einige unserer Patienten hat sich erstaunlicher Weise die Muße als sehr hilfreich heraus gestellt." Sie merkte in ihrem Wortschwall nicht, dass ich heimlich grinste.
"Sie können angeln oder einfach nur spazieren gehen. Neulinge müssen sich jedoch erst einmal ablenken. Bei dem schönen Wetter sollten Sie mit Gartenarbeit anfangen. Einen Spaten oder eine Gartenschere werden sie vorerst auch noch nicht bekommen. Also werden Sie das kleine Unkraut rund um die jungen Gemüsepflanzen zupfen. Aber nun zum wesentlichen Teil unserer Therapie." Ein Leuchten trat in ihre Augen.
"Die geniale Erfindung meines intelligenteren Vetters. Es funktioniert so ähnlich wie ein Lügendetektor. Ich werde Ihnen nun einige Wörter vorlesen, die für Ihre Sucht typisch sind und wir messen ihre emotionale Resonanz mit Hilfe des elektrischen Hautwiderstandes. Wenn sie später bei einer Kontrollmessung auf dieser Anzeige – ", ihre Wurstfinger streichelten liebevoll das Display, "- unter 50 gesunken ist, können Sie als geheilt entlassen werden. Das ist die Diagnose. Zum Zwecke der neuen Verhaltenstherapie, die von mir entwickelt worden ist -", sie streckte stolz ihren mächtigen Busen hervor, "- werden die stärksten Reizwörter in dieses kleine Gerät gespeichert", sie hob die Uhr mit dem Metallarmband hoch. Diese war über ein dünnes Kabel mit dem Gerät verbunden.
"Diese Uhr werden Sie während Ihres Aufenthaltes hier immer tragen, Sie können sie nicht selber abnehmen. Sobald Sie eines Ihrer Reizwörter aussprechen, wird ein ungefährlicher, aber unangenehmer Stromstoß ausgelöst." Frau Professor Reich-Ranitzki schmunzelte diabolisch und ich war kurz davor, mich zu übergeben.
"Bei mehr als fünf Verstößen am Tag kommen Sie in Einzelha-, ähem, werden Sie von den anderen Patienten abgeschirmt. So werden Sie ganz schnell auf andere Gedanken kommen. Also, fangen wir gleich an." Sie drückte mir die beiden Metallrohre in die Hände. Doch die waren so zittrig und klatschnass, dass die Folterinstrumente scheppernd auf den Boden rutschten. Die Herrin der Folterkammer warf mir einen verächtlichen Blick zu und reichte mir wortlos ein Gästehandtuch.
"Setzten Sie sich bequem hin, es tut nicht weh. Wir werden mit ein paar harmlosen Kontrollwörtern anfangen", versuchte sie mich zu beruhigen, aber ihre Stimme war ungeduldig. Ich tat mein Bestes um das Zittern der Hände und meinen Magen unter Kontrolle zu halten.
"Also: Tisch." Die Anzeige ging von 10 auf 30 hoch und Frau Professor Reich-Ranitzki nickte zufrieden.
"See." Eine sehnsuchtsvolle Erinnerung traf mein Herz, aber Frau Professor Reich-Ranitzki war über die Zahl 60 sehr verwundert.
"Nun, das ist wohl mit persönlichen Erinnerungen verbunden", erklärte sie nüchtern. "Machen wir weiter. Haus."
Das Display beruhigte sich wieder auf 20.
"Buch." Der Schock traf mich unerwartet, ich starrte entsetzt auf die verräterische Zahl 70, Frau Professor Reich-Ranitzki lächelte triumphierend und drückte ein unscheinbares schwarzes Knöpfchen an dem Gerät. Dieses Wort war in Zukunft für mich also mit Schmerzen verbunden. Ich krümmte mich auf meinem Sessel zusammen.
"Roman" erzeugte nur den Wert 50.
"Geschichte" dagegen satte 100 und wieder wurde die Taste gedrückt.
"Aha!", freute sich meine Peinigerin und fuhr fort.
"Computer": 60, Tastendruck.
"Internet": 70, Tastendruck.
"Schreiben": 90, Tastendruck.
"Chat": 30. Frau Professor Reich-Ranitzki schaute mich erstaunt an, dann verdunkelte sich ihr Blick.
"Da kommt mir ein schlimmer Verdacht." Das Blut gefror mir in den Adern. 'Hoffentlich sagt sie jetzt nicht das Allerschlimmste!', betete ich. Aber es kam, wie es kommen musste.
"Kagepunktde!" Ich ließ die Metallrohre schreiend fallen, aber es war zu spät, das Display zeigte 140 an. Verzweifelt legte ich die Hände vors Gesicht und versank schluchzend im Sessel. Lieber wäre mir in diesem Moment der Erdboden gewesen.
"Oh, dann gehören Sie ja zu unseren schwerwiegendsten Fällen!" Ich hörte ihre Stimme wie durch einen Nebel.
"Diese Internetseite sollte verboten werden! Wir haben schon versucht, die Verantwortlichen zu verklagen. Eigentlich müssten diese Verbrecher die Therapie für die armen Opfer bezahlen. Aber es hat sich herausgestellt, dass es keine kommerzielle Organisation ist. Diese bedauernswerten Menschen rackern sich bis zum Umfallen ab und bekommen keinen Cent dafür!" Ihre Stimme wurde vor Empörung immer schriller.
"Ein Glück, dass wir diese Klinik eröffnet haben! Ihre Diagnose ist übrigens vorerst abgeschlossen." Sie hatte mich also doch nicht vergessen. Ich richtete mich langsam wieder auf. Sie reichte mir ein Papiertaschentuch und befestigte die Uhr an meinem linken Handgelenk.
"Wie gut, dass Sie zu uns gefunden haben, bevor es noch schlimmer geworden ist. Einer aus Ihrer Branche soll sich vor langer Zeit in seinem Wahn ja sogar ein Ohr abgeschnitten haben!"
"Das war ein Maler!", wagte ich zu widersprechen.
"Ach, das ist doch alles dasselbe! Diese nichtsnutzigen Tagträumer beschäftigen sich doch nur mit schädlichen Illusionen! Und dann veröffentlichen sie diesen Mist noch und verderben dadurch ihre Mitmenschen. Das ist doch unverantwortlich! Aber ich kann Sie ermutigen, viele fühlen sich schon nach nur einem Tag bei uns wesentlich wohler. Und einer kam sogar einmal extra zurück, um sich persönlich bei mir mit einem riesigen Blumenstrauß zu bedanken!" Sie errötete ein wenig und ich fragte mich, was für ein Idiot das gewesen sein muss.
"Allerdings ist die Rückfallquote bedauerlich hoch", sie seufzte kurz und riss sich dann wieder zusammen.
"Jetzt können Sie zum Mittagessen gehen und danach wird man Ihnen im Gemüsegarten zeigen, was Sie tun können." Sie klang gnädig wie eine strenge Mutter, die endlich ihr unfolgsames Kind gebändigt hatte.
"Jeder neue Patient stellt sich nach dem Abendessen in einem kleinen Ritual vor und gesteht laut und deutlich, ähnlich wie bei den anonymen Alkoholikern: 'Ich bin schreibsüchtig!' Aber bitte in sachlicher Sprache! Natürlich sind in dieser Zeit die Uhren deaktiviert."
Ich aß nur eine kleine Schüssel der klaren Vorsuppe. Mit Sternchennudeln. Selbst Buchstabennudeln waren wohl verboten! Es schmeckte nach Pappe, aber vielleicht lag es ja daran, dass meine Nase vom Weinen noch ganz geschwollen war. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich mir gegenüber meinen ebenfalls heute angekommenen Leidensgenossen sitzen. Seine Hand zitterte ebenfalls so stark, dass er die Hälfte seiner Suppe verschüttete.
Später robbte ich also zwischen den jungen Kohlrabipflänzchen hindurch und musste mir bald heimlich eingestehen, dass mir die Wärme der Sonne, die nach würziger Erde duftende Frühlingsluft und die leichte, körperliche Arbeit tatsächlich gut taten. Also zupfte ich rücksichtslos die zarten, unschuldigen Kräuter aus, denen die Silbe "Un" vorweg gestellt wird. 'Wie kann ein Mensch es wagen, andere Wesen oder Pflanzen als unwürdig oder minderwertig zu bezeichnen', dachte ich und steigerte mich immer weiter in meine Empörung über diese Ungerechtigkeit – wieder ein Wort mit "Un". Doch die Wut tat gut, ich fühlte mich endlich wieder lebendig, nicht mehr so hilflos und verachtet. Schließlich stellte ich mir bei jedem Pflänzchen, dessen junges Leben ich beenden musste, vor es wäre ein Haar oder ein Fingernagel von Frau Professor Reich-Ranitzki. Also zog ich quälend langsam! Bis jetzt hatte noch nie etwas für Horrorge-. Halt! Blinkte meine Uhr da nicht etwa gefährlich? Trotzdem schlug meine Phantasie Purzelbäume. Horror mit sozialkritischer Note, das wäre doch mal was Neues! Damit würde mir sicherlich der Durchbruch gelingen! Natürlich bedauerte ich sehr, dass ich meinen Kopf nicht sofort auf Papier entleeren konnte, aber so hatte ich Gelegenheit, mein jüngstes Geschöpf noch reifen zu lassen. Es war ein Gefühl, als ob man den Orgasmus herauszögert, um ihn noch länger genießen zu können! So verging der Nachmittag im Fluge.
Auf dem Rückweg zum Haus lief mir der junge Neuling wieder über den Weg. Fröhlich vor sich hin pfeifend trug er eine Anglerrute und zwei mindestens einen halben Meter lange Forellen. Frischer Fisch zum Abendessen! Das Knurren meines Magens bestätigte mir, dass sich auch mein Körper regeneriert hatte. Später betrachtete ich meinen Tischnachbar genauer, während er herzhaft in sein Käsebrot biss. Er hatte sogar ein bisschen Farbe bekommen, die moderne Kurzhaarfrisur stand ihm sehr gut und frisch rasiert kamen seine sensiblen Gesichtszügen klarer zur Geltung. Irgendwoher kam es mir bekannt vor.
"Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Anglerglück!", wünschte ich ihm. Wenn es mir selber gut geht, bin ich immer frei von Neid. "Gibt es den Fisch erst morgen zum Mittag?"
"Oh Danke. Nein, den Fisch hat das Küchenpersonal mir wortlos abgenommen. Wir sollen hier doch schließlich lernen, von Erfolg und Lob unabhängig zu werden", seine grünen Augen blinzelten lustig und ich fragte mich erstaunt, warum er trotz dieser Grausamkeit so fröhlich war.
"Und Sie haben am ersten Tag bestimmt Unkraut gerupft, habe ich Recht? Was ist Ihnen denn dabei so durch den Kopf gegangen?", er schaute mich über seine dampfende Teetasse hinweg neugierig an.
"Äh, ja, wie soll ich sagen?", stotterte ich und schielte vorsichtig auf die Armbanduhr.
"Haben Sie sich vorgestellt, dass Sie in Wirklichkeit Arme, Beine oder gar Köpfe ausreißen? Und haben Sie das dann in Gedanken weiter ausgearbeitet?", er zwinkerte mich geheimnisvoll an. Ich wurde rot, fühlte mich durchschaut. Dann sah ich sein warmes Lächeln. Dass so ein netter Mensch noch grausamere Phantasien haben kann als ich! Er trug die gleiche Armbanduhr.
"Woher - ? Ähm, Sie sind doch auch erst heute angekommen, wie schaffen Sie es, so eindeutige Andeutungen zu machen, ohne diese – ähm Wörter zu benutzen?", ich platzte fast vor Neugier.
"Oh daran gewöhnt man sich schnell, es ist wie Tabu spielen!", er machte eine wegwerfende Handbewegung und fing an zu grinsen.
"Ich dachte mir doch gleich, dass Sie zum ersten Mal hier sind!" Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. "Tja, damals war ich auch verzweifelt. Ich hatte tagelang nicht geschlafen und pausenlos einen Entwurf nach dem anderen zusammengestückelt. Und alles wieder verworfen. Ja, es war schrecklich, ich wusste nicht mehr weiter. Ich hatte keine wirklich guten Ideen mehr oder konnte sie nicht umsetzten, ich war völlig ausgebrannt. Aber ich konnte einfach nicht mehr damit aufhören, ich konnte überhaupt nichts anderes mehr tun. Wahrscheinlich kennen Sie das auch nur zu gut."
In diesem Moment entdeckte ich auf meinem rechten Schuh noch einen Krümel Gartenerde, den ich sofort entfernen musste. Der junge Mann sprach unbeirrt weiter.
"Schließlich hasste ich ES und wollte unbedingt von dieser Sucht los kommen. Also kam ich hierher und stürzte mich in den Garten. Und plötzlich küsste mich wieder die Muse. Unser wichtigstes Werkzeug kann uns schließlich niemand wegnehmen!", er tippte sich schelmisch an die Stirn.
"Hier am See kam mir die Idee für mein bestes Werk. Ich habe es in aller Ruhe zuende gesponnen und zu Hause in einem Rutsch fertig gestellt! An ein paar Details konnte ich mich leider nicht mehr erinnern. Also kehrte ich kurz zurück, bedankte mich bei Frau Professor Reich-Ranitzki mit einem teuren Blumenstrauß und bat sie, noch einmal die wunderbare Ruhe hier beim Angeln genießen zu dürfen. Seitdem bin ich ihr Lieblingspatient und immer, wenn ich unter einer Blockade leide, komme ich für zwei Tage her."
So ein gerissener Kerl! Da fiel mir plötzlich ein, woher ich sein Gesicht kannte! Von der Rückseite eines meiner Lieblingsb-!
"Haben Sie etwa 'Wir haben –'"
"Psst", unterbrach er mich und deutete verschwörerisch auf meine Uhr.
"Aber Sie haben Recht. Sag doch einfach Du und nenn mich Ulli, mit zwei 'L'!"