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Eine ungewöhnliche Nacht
Drei Uhr morgens war es, in der dunkelsten Stunde der Nacht, als ich erwachte. Im ersten Moment wusste ich nicht, was mich geweckt haben könnte, aber dann vernahm ich das leise Fiepen des Hundes an der Tür. Er musste etwas gehört haben, und so beschloss ich, nachzusehen.
Es war totenstill im Haus. Die alten Holzdielen knackten nicht, wie ich es gewöhnt war, und im Ofen brannte kein Feuer mehr, dessen Knistern und Prasseln die Stille durchbrochen hätte.
Ungeduldig kratzte der Hund an der Tür, während ich den Riegel öffnete, um sofort durch den Spalt hinaus zu laufen.
Ich blieb stehen und sah mich aufmerksam um. Wie schon im Haus, fiel mir auch hier nichts Ungewöhnliches auf, bis mein schweifender Blick auf die Pferde in der Koppel fiel: Ganz gleich, als ob sie auf ihr morgendliches Futter warteten, standen sie am Tor, aber nicht eines blickte zu mir, ihrer aller Aufmerksamkeit richtete sich auf das Tal.
Langsam trat ich an den Zaun und sprach beruhigend auf sie ein, aber nur kurz konnte ich sie ablenken. Ganz still standen sie, trappelten nicht unruhig herum, schoben sich auch nicht gegenseitig beiseite, als ob sie etwas beobachten würden. Auch ich sah in Richtung der Talsenke, aber zunächst konnte ich nichts entdecken. Obwohl der Himmel sternenklar war, lagerte eine Nebelbank über der Flussniederung, und nur verschwommen waren die Konturen der sich auf der anderen Seite erhebenden Berge wahrzunehmen. Geistesabwesend streichelte ich den Hals eines der Pferde und versuchte erneut, etwas zu erkennen. Ein Lichtpunkt fiel mir auf, an einer Stelle, an der es keine menschliche Ansiedlung gab. Ich strengte mich an, versuchte, mehr zu erkennen: Ja, zwei Lichter waren es sogar, aber dort konnte es niemanden geben, denn in dieser Richtung lagen nur die unwirtlichen Berge, und dahinter das Meer. Wer mochte dort sein?
Bevor ich diesem Gedanken weiter folgen konnte, ließ ein Laut mich erstarren, der nicht von einem Tier verursacht worden sein konnte, denn es war eindeutig der Schrei einer Frau.
Jetzt überlegte ich nicht lange, nahm einen Strick, der am Zaunpfosten hing, wand daraus ein behelfsmäßiges Seilhalfter und holte eine der Stuten aus der Koppel. Sie war ein ruhiges, wenngleich schnelles Tier, und von mir schon oft auf diese Weise geritten worden, für sie benötigte ich auch keinen Sattel.
Sehr schnell erreichte ich den Fluss, den ich das Pferd an der gewohnten Furt durchwaten ließ, aber wieder auf trockenem Ufer ließ ich es anhalten, und horchte in die Dunkelheit. Mehrere Minuten verblieben wir so bewegungslos in den wabernden Nebelschleiern, aber dann vernahm ich den Schrei erneut. Ohne zu zögern setzte ich meinen Weg in die Richtung fort, aus der er mir gekommen zu sein schien, aber ich konnte nicht verhindern, dass ich mich einer alten Geschichte entsann, an die ich schon lange nicht mehr gedacht hatte. Es war die Sage über den König der Räuber, der in diesen Bergen mit ihren Höhlen seinen Unterschlupf gehabt haben sollte. Es hieß, er habe einmal eine junge Frau entführt, die sich jedoch in ihn verliebt habe, und seitdem hätten sie gemeinsam ihre Raubzüge ausgeführt. Niemand in weitem Umkreis wäre hier mehr sicher gewesen, und um nicht entdeckt zu werden, hätten sie ihre Opfer stets getötet. Bis zum heutigen Tage war ihr Versteck nicht gefunden worden.
Als ich mich den Hügeln näherte, bemerkte ich Hufspuren, die tiefer in die verwinkelten Schluchten hineinführten, und wenige Meter später blieb der Hund zurück. Ich mochte ihn rufen und ihm befehlen, da es mir angenehmer gewesen wäre, ihn bei mir zu wissen, aber er winselte nur und weigerte sich, so dass ich ohne ihn weiterritt.
Sehr bald schon waren die Spuren für mich nicht mehr zu erkennen, da der weiche Grasboden von lockerem Geröll abgelöst wurde.
Und just, als ich beschloss, die Suche aufzugeben, hörte ich ein weiteres Mal einen Schrei. Er ging mir durch Mark und Bein, so verzweifelt und schmerzerfüllt klang er, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass sich auch meiner Stute die Haare sträubten. Aber von diesem Moment an ging sie keinen Schritt weiter, so dass ich gezwungen war, zu Fuß zu gehen.
Ich hatte gerade einen hohen Felsvorsprung umrundet, als ich auf dem Boden etwas im Mondlicht aufblitzen sah. Als ich es aufhob, erkannte ich es als eine Brosche, besetzt mit edlen Steinen. Ich steckte sie ein und ging weiter, um nur wenige Schritte später ein weiteres Schmuckstück zu finden. Noch fünf weitere Pretiosen entdeckte ich, als das Geräusch von Pferdehufen mich innehalten ließ. Ein rauer Ruf einer Männerstimme erklang, gefolgt von der hellen Antwort einer Frau; ein Lachen, und dann sich entfernende Pferde, die in hohem Tempo geritten worden sein mussten, denn ich hörte losgetretenes Gestein die Hügel herunterrollen.
Jetzt wurde es auch mir zuviel, und ich entschied, dass es besser wäre, im Tageslicht den nächtlichen Ereignissen auf den Grund zu gehen. Erleichtert konnte ich feststellen, dass die Stute auf mich gewartet hatte, auch der Hund war in sicherer Entfernung geblieben, und ich hatte es mehr als eilig, zurück zum Hof zu kommen, und dort die bleiche Nacht vor der schweren Holztür auszusperren.
Als ich jedoch im Licht der aufgehenden Sonne meine Fundstücke betrachtete, erwiesen sie sich als blankpolierte Kieselsteine.
Es war der Morgen des ersten Novembers.
In der Geschichte Islands wird über diesen Räuber berichtet, der seine Geisel zur Frau nahm.
Aber auch heute noch kann nur vermutet werden, in welchem Teil der Berge sich die Höhle befand, in der die geraubten Schätze versteckt sind. Die Höhle, in der die beiden wohnten, wurde gefunden.
Aragorn