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Eine unerwartete Begegnung

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15.11.2024
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Eine unerwartete Begegnung

Fernand Goyon – oder David, wie er sich seit Jahren nannte – saß in seinem kleinen Apartment und blickte in die Dunkelheit hinaus. Der Schein einer Schreibtischlampe warf Schatten auf die unaufgeräumten Papiere und Bücherstapel, die sich um ihn herum türmten. Morgen war sein großer Vortrag, und wie so oft vor solchen Anlässen fühlte er seine große Einsamkeit.

Er hatte sich an den Namen „David“ gewöhnt. Fernand war zu fremd für die Region, in der er lebte. In Österreich wurde sein Vorname oft falsch ausgesprochen, belächelt oder missverstanden, und irgendwann hatte er entschieden, es sich einfacher zu machen. Sein zweiter Name David war neutral, unauffällig – und genau das, was er brauchte, um in Ruhe seiner Arbeit nachzugehen.

Sein Vortrag, ein Reisebericht über den Kaukasus, war mehr als nur ein Projekt. Es war eine Sammlung von Erlebnissen und Erinnerungen, die ihm halfen, die Einsamkeit zu ertragen. Doch an Abenden wie diesem, wenn die Stadt draußen zur Ruhe kam, spürte er die Leere. Gedanken an die Vergangenheit schlichen sich in seine Stille – und an die Menschen, die ihn geprägt hatten. Besonders an Marie.

Marie Berger. Ein Name, der ihn schmerzte und zugleich etwas in ihm zum Klingen brachte. Sie war die Erste gewesen, die ihm das Gefühl gegeben hatte, gesehen zu werden. Damals, in der Grundschule, hatte sie ihn mit ihrer Freundlichkeit überrascht. Er hatte nicht geglaubt, dass ein Mensch sich so für ihn interessieren konnte. Aber später hatte sie ihn mit derselben Leichtigkeit ignoriert, und diese Kälte war ihm geblieben, wie ein Dorn im Herzen.


Marie entdeckte den Hinweis auf den Vortrag zufällig, als sie abends durch ihre Social-Media-Feeds scrollte. „Reise durch den Kaukasus – Vortrag von David Goyon“, lautete der Titel. Der Nachname ließ sie innehalten. Goyon. Sie erinnerte sich an Fernand Goyon, den stillen Jungen aus ihrer Grundschule. Sein Nachname war so selten, dass sie sich fragte, ob dieser David ein Verwandter sein könnte. Neugierig kaufte sie ein Ticket.


Der Saal, in dem Fernand – als David – am nächsten Abend sprach, war voll. Die Bilder des Kaukasus, die auf eine große Leinwand projiziert wurden, fesselten das Publikum, doch es war seine Stimme, die sie alle in ihren Bann zog. Sie war ruhig, voller Nachhall mit einem hauch von Melancholie, sie brachte die Geschichten seiner Reise zum Leben. Fernand sprach von den wilden Landschaften, von Abenteuern, von Begegnungen mit Menschen, die ihn inspiriert hatten, und von Momenten der Stille, die er in den Bergen erlebt hatte.


Marie saß in der zweiten Reihe, ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Sein Gesicht kam ihr vertraut vor, doch sie konnte es nicht zuordnen. Es war mehr als nur der Nachname – irgendetwas in seinen Augen ließ sie an Fernand denken.

Nach dem Vortrag, als die Zuschauer applaudierten und sich erhoben, blieb Marie sitzen. Sie wartete, bis sich der Saal geleert hatte, und ging schließlich zu ihm. Sie räusperte sich.

Er war gerade dabei, seine Notizen zusammenzupacken, als er eine sanfte Stimme hinter sich hörte:
„Entschuldigen Sie, kennen Sie vielleicht einen Fernand, der denselben Nachnamen hat wie Sie? Ich habe als Kind jemanden gekannt …“

Fernand erstarrte er kannte diese Stimme. Er drehte sich langsam um und sah sie. Es war Marie. Ihr Gesicht war reifer geworden, doch die blauen Augen waren dieselben, die ihn damals in den ersten Schuljahren mit Wärme angelächelt hatten. Er erkannte sie sofort – und die Gefühle, die er all die Jahre unterdrückt hatte, brachen wie eine Flutwelle über ihn herein.

Tränen füllten seine Augen und rollten langsam über seine Wangen. Er atmete tief ein, um sich zu sammeln, und sprach mit einer erstaunlich ruhigen Stimme:
„Marie? … Marie Berger?“

Sie blinzelte überrascht, legte den Kopf schräg und schien zu überlegen. „Ja, aber … wie …?“

Fernand ließ ihre Frage unbeantwortet. Stattdessen sprach er weiter, seine Stimme sanft, aber mit einem Hauch von Bitterkeit:
„Meinen Sie vielleicht den Fernand, dem Sie an seinem ersten Schultag so freundlich begegnet sind, dass er dachte, ein Engel sei vom Himmel herabgestiegen? Den Fernand, dem Sie das Schwimmen beigebracht haben, als niemand sonst sich für ihn interessierte? Den Fernand, den Sie zu Ihrem elften Geburtstag nicht eingeladen haben, obwohl Sie fast alle anderen aus der Klasse eingeladen hatten?“
Marie starrte ihn an, die Farbe wich aus ihrem Gesicht.
„Meinen Sie den Fernand, den Sie später auf der Straße zusammen mit einem anderen Klassenkameraden gesehen haben und nicht einmal grüßten, während Sie sich mit diesem Klassenkameraden angeregt unterhielten?“ Seine Stimme zitterte leicht, doch er fuhr ruhig fort. „Soll ich Ihnen vielleicht seine Nummer geben, damit Sie die Gelegenheit bekommen, ihn nicht anzurufen?“

Marie wich einen Schritt zurück, überrascht von der Wucht seiner Worte. Sie öffnete den Mund, doch es schien, als fände sie keine Worte.

Fernand atmete tief ein, seine Schultern sanken ein wenig. „Ja, diesen Fernand kenne ich.“

Marie schluckte schwer. „Fernand, ich … ich wusste nicht, dass … es tut mir leid.“

Er nickte kurz, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Entschuldige bitte, manchmal tut es gut, Dinge einfach auszusprechen“, sagte er leise.

Eine Weile standen sie schweigend da. Dann sagte Marie: „Vielleicht könnten wir … etwas trinken gehen? Ich würde gerne mehr über dein Leben erfahren.“

Fernand sah sie lange an, bevor er antwortete. „Vielleicht“ sagte er und machte eine Pause, „aber nicht heute“, sagte er schlicht, und alle Bitterkeit war aus seiner Stimme verschwunden.

Er nahm seinen Rucksack und ging. Als er an ihr vorbeiging, nahm er ihre Hand und legte eine kleine Karte hinein ohne etwas zu sagen.


Sie blieb lange stehen und schaute ihm nach. Bevor er durch die entfernte Saaltür verschwand, drehte er sich noch einmal zu ihr um, und sie meinte ein kleines lächeln auf Seinem Gesicht zu sehen. Ihre Gedanken wanderten in die Vergangenheit. Bilder von freute und Leichtigkeit, aber auch Trauer und Schmerz huschten durch ihren Kopf.

Erst nach einer ganzen Weile blickte Sie auf die Visitenkarte. Sie hielt sie ins Licht und las die Worte:

Fernand David Goyon
Privatnummer: …

Sie hielt die Karte lange in der Hand und starrte darauf. Irgendetwas in ihr regte sich – ein Bedauern, eine Sehnsucht, eine Chance. Sie wusste, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Und sie spürte, wie viel Bedeutung diese Entscheidung haben würde.

 

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