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Eine Träne der Zeit
Eine Träne der Zeit
Heute hatte sie die kleine Kim nicht in den Kindergarten gebracht. Sie wollte an diesem Tag nicht allein sein. Die beiden Großen waren in der Schule, so war sie froh, dass sie wenigstens ihre kleine Tochter daheim behalten konnte. Die sonst so lebhafte Kim sagte diesmal kein Wort, ließ sich kommentarlos von ihrer Mutter auf den Schoß nehmen und blieb da ganz ruhig sitzen. Es schien fast so, als verstünde das knapp vierjährige Mädchen, welche Rolle ihr gerade zuteil wurde, und so setzte sie ein breites Lächeln auf. Die Mutter erwiderte das Lächeln, dennoch sah sie etwas traurig aus. Vor ihnen stand eine geschlossene Blechkiste, die bunt verziert war mit Bildern vieler Leckereien, besonders aber Lebkuchen. Lebkuchen waren aber schon lange nicht mehr in der Kiste. Fotos! Viele, viele Fotos! Sie hatte auch Fotoalben. Aber in diesen Alben waren die Hochzeitsbilder, die Geburtsbilder der Kinder und eigentlich alles, was nach der Heirat aufgenommen wurde. In dieser Kiste aber waren die Bilder, die ihr Leben vor der Hochzeit festhielten.
Die Frau öffnete die Dose fast schon feierlich. Dann nahm sie das erste Bild heraus. Es war ein Portrait, das sie als Kind mit einer Schultüte bewaffnet zeigte. Sie hatte zwei geflochtene Zöpfe und eine Zahnlücke, dort wo der Schneidezahn später nachwuchs. Sie lachte auf dem Bild. Sie hatte eigentlich immer gelacht. Sie nahm die nächsten Bilder nacheinander heraus und sah die noch jungen Gesichter ihrer Eltern und ihre beiden Großmütter. Sie fand ein paar Familienfeiern und Bilder vom Weihnachtsfest daheim. Sie fand ein Bild vom Urlaub beim Familienspaziergang durch den Wald; da war noch Tingo dabei, ihr dunkler Schäferhund. Aber er war schon lange tot.
Und da war ein Foto von Tante Martina, die Schwester ihrer Mutter, die irgendwie immer das Flair von Nina Hagen gehabt hatte. Ein Grinsen huschte ihr durch das Gesicht, als sie sich ihre Mutter neben Tante Martina vorstellte. Damals war ihr das gar nicht bewusst gewesen, wie verschieden sie gewesen waren für Schwestern und was das für ihre Mutter für eine Bedeutung hatte. Früher hatte ihre Mutter sehr oft über Tante Martina geschimpft.
"Wer ist das?" - unterbrach die kleine Kim die Stille, als ihre Mutter ein altes, schwarzweißes Bild herausfischte.
"Das, Maus", erklärte sie, "ist dein Ururgroßvater!"
"Was ist ein Uhruhrgroßvater?", fragte Kim und schaute auf die runde Kupferuhr an der Wand.
"Das ist der Vater des Vaters des Vaters von mir", klärte ihre Mutter sie auf. Kim fand das lustig, aber sie verhielt sich schnell wieder ganz leise, denn sie war auf die nächsten Fotos sehr gespannt. Die Frau zog ein Foto heraus, auf dem viele festlich gekleidete Mädchen und Jungen auf einer Tanzfläche tanzten. Das war der Abschlussball des Tanzkurses in der Schule. Sie war damals sechzehn gewesen und mit Stefan, dem Jungen, der der Mädchenschwarm überhaupt war, dort erschienen. Sie waren das Traumpaar des Abends gewesen. Denn sie war das begehrteste Mädchen der Schule. Die Frau hielt ein weiteres Bild jenen Tanzabends in ihren Händen. Auf diesem Bild war sie in ihrem Abendkleid allein zu sehen. Sie lachte auf dem Bild und war wirklich hübsch. Das Kleid war schwarz und glitzerte im Scheinwerferlicht. Die Frau seufzte innerlich und legte das Bild zur Seite.
Sie zog ein weiteres Bild aus der Kiste. Es war ein Klassenfoto, das etwa ein Jahr später aufgenommen wurde. Sie war in der Mitte des Bildes, und sie sah sich wieder lachen. Ja, sie hatte immer viel gelacht. Sie war immer fröhlich und aufgeschlossen gewesen. Sie hatte für jeden ein warmes Lächeln gehabt, und darauf war sie immer stolz gewesen.
Die kleine Kim sah, wie ihre Mutter auf einmal anfing, mit ihrem Zeigefinger gegen das Foto zu klopfen und dabei leise sagte:
"der, der und der, der und der, ah ja und auch der!"
"Was ist mit denen?", wollte Kim wissen. Ihre Mutter lächelte leicht und antwortete:
"Das waren die Jungs aus meiner Klasse, die mit mir gehen wollten." Die Frau versuchte gar nicht erst, ihrer Tochter das zu erklären und ergriff gleich das nächste Bild.
"Und das ist Richard", sagte sie dann etwas lauter und nüchterner.
"Den legen wir erst einmal zur Seite." Womit sie das Bild mit dem Jungen auf die freie Ecke des Tisches legte. Die Frau holte noch viele Schulfotos aus der Blechkiste, und sie erinnerte sich, wie sehr begehrt sie von allen Jungs gewesen war. Vielen gutaussehenden Jungs hatte sie einen Korb gegeben; den zwar lieb, aber bestimmt! Das war vielleicht ganz unbewusst geschehen, und sie hatte es sich damals auch nicht erklären können. Vielleicht hatte sie damals dieses Gefühl, begehrt zu werden, nicht verlieren wollen, oder sie hatte etwas bestimmtes in den Jungs gesucht und hatte es nicht finden können. Die Frau legte die Fotos von drei Jungs nebeneinander.
"Georg, Ingolf und Jochen", sagte sie zu sich. Das waren ihre einzigen Beziehungen gewesen.
"Ach ja", sagte sie und nahm das Foto, das sie zur Seite gelegt hatte und legte es dazu.
"Und Richard natürlich!" Dabei schaute sie ernst. Sie erinnerte sich, die ganze Gegend war erstaunt gewesen, dass sie sich mit Richard angefreundet hatte. Richard war eine Klasse über ihr gewesen. Er hatte nicht das tolle Aussehen gehabt, und er war eher ein Außenseiter gewesen. Sie hatte viel Unverständnis von ihrer Umgebung damals geerntet, besonders als die Leute gesehen hatten, dass es wohl mehr war, als die drei vorangegangenen Freundschaften. Oft genug hatte sie die jungen Männer fragen hören, was Richard hätte, was sie selbst nicht hätten. Richard war keine Sportskanone wie Manni gewesen, kein Genie wie Lutz und er hatte auch nicht so wahnsinnig toll ausgesehen wie Jochen. Trotzdem hatte sie Richard gewählt und seufzte nun der Zeit nach, in der die tollsten Jungen und Männer hinter ihr her gewesen waren.
Die Frau legte die Bilder zurück in die Kiste und die Kiste zurück in den Schrank. Sie ließ die Kleine mit ihren Puppen "Vater, Mutter, Kind" spielen und bereitete das Mittagessen vor. Das Essen war fast fertig, als die Wohnungstür geöffnet wurde und ein Mann mit einer roten Rose und einem Lachen in der Tür stand. "Richard", rief sie aus, lief schnell zu ihm und umarmte ihn ganz fest. Richard hielt sie ebenfalls fest in seinen Armen und sah so die Träne nicht, die auf der Wange seiner Frau herunter lief.