Eine Tochter aus gutem Hause.
Die Geschichte stammt von meiner Mutter, die nach vielen Jahren endlich den Mut gefunden hat, ihrer Tochter von der Vergangenheit zu erzählen. Man denkt immer, die eigenen Eltern sind die Menschen, die man am allerbesten kennt. Umso berührender war es für mich zu sehen, dass auch sie ein Leben "vor uns" hatten.
„Eine Tochter aus gutem Hause“, einziges Kind, vielgeliebt, glücklich, aufgeweckte Schülerin, aber ohne Talent zum Klavierspielen. 9 vergeudete Jahre Klavierunterricht, Abiturientin in den 70ern, Studium. Beruf, Familie. Soweit zur Herkunft.
Zwei Männer prägen auf ganz unterschiedliche Weise ihre Jugend. Ein junger Mann, Schüler und ein mittelalter, Latein- und Griechischlehrer. Das Gymnasium in einer Stadt, die mit einem Sankt anfängt, wie es in dieser frommen Gegend öfter vorkommt.
Der Junge, B., 3 Jahre älter als sie, scheu, geheimnisvoll, gutaussehend.
Der Alte, F., übergewichtig , schwitzend, aufdringlich, grenzverletzend und unglücklich verheiratet.
Hinzu kommen die Ratschläge der Mutter:
1) Man zeigt Jungen nicht, dass man sie mag!
2) Ein anständiges Mädchen hält sich zurück und „vergibt sich“ nichts!
3) Man ist höflich zu älteren Menschen!
4) Man achtet seine Lehrer!
5) Man sorgt für gute (Latein)-Noten!
B., aus der Ferne verliebt, bevorzugt als Annäherungsmöglichkeit das Telefonieren – damals noch eine teure Angelegenheit, wenn es kein Ortsgespräch war. Regelmäßig gemeinsames Schweigen am Telefon und ab und zu seine Nachfrage, ob sie noch dran sei. Die Mutter, die interessiert in der Nähe des Wandtelefons die Hausarbeit verrichtet.
B. ist ein Fotonarr. Er bringt es tatsächlich fertig, die Angebetete unbemerkt zu knipsen, um ihr dann zu gegebener Zeit eine Mappe mit selbstentwickelten Fotos zu überreichen. Man beachte, vor dem Gesetzgeber gilt die 13Jährige damals wie heute noch als Kind. Aber es geschieht ja nichts Verbotenes. Annäherung selten, wenn doch, dann schön distanziert. Es knistert zwar, aber das ist schließlich auch erlaubt.
Ganz anders F. Die Kontaktmöglichkeiten sind natürlich zahlreicher. 5 Latein-stunden in der Woche, Pausenaufsichten, Klassenausflüge, kleinere private Termine nach Schulschluss. Immer wieder Gelegenheit zu Körperkontakt. Am Arm greifen, wenn er mit ihr sprechen will, bei Klassenarbeiten sich von hinten über ihre Schulter an sie lehnen, um zu schauen, ob alles gut läuft. Ab und zu im Auto mitnehmen, weil die Heimfahrt per Bus zu umständlich für sie gewesen wäre.
Die Zeit vergeht, die beiden Jugendlichen werden älter, aber nicht kühner.
Dann und wann ein Treffen im Schwimmbad, stundenlange Gespräche „in allen Ehren“, Liebesbriefe, die er schreibt und die sie vor lauter Verlegenheit versteckt oder mit kleinen Gemälden verunziert. Liebesbriefe, die sie schreibt und nie abschickt. Und – unvermeidlich- die Trennung durch seinen Schulwechsel, sie inzwischen 15, er knapp 18 Jahre alt. Sie verdrückt einige Tränen, spürt ein wenig ihr gebrochenes Herz, die Mutter jedoch zufrieden mit dieser Fügung: „Der wäre doch kein Mann für dich gewesen“.
F. hingegen blüht auf, wird mutiger, wird ihr Griechischlehrer mit noch mehr Unterrichtsstunden und Möglichkeiten zu Übergriffen. Sie, immer öfter auf der Flucht vor ihm, vor seinem roten Auto, wenn er wieder mal in der Stadt auf der Pirsch ist. Sie ist wohl nicht das einzige Opfer, unklar die Sache bis zum heutigen Tag.
Die Mutter, glücklich über die guten Latein- und Griechischnoten, der Vater eher misstrauisch, aber nicht mutig genug, die Angelegenheit anzusprechen und seine Bedenken zu äußern.
B. triftet ein wenig ab. Das weiß sie von Freunden. Er hat angeblich eine Freundin. Nimmt angeblich Drogen. Dann und wann begegnet er ihr zufällig in der Stadt und ist kaum wiederzuerkennen.
Dunkler Bart, dunkle Kleidung, nicht mehr der Brave von früher. Dafür ist er irgendwie interessanter und ähnelt Cat Stevens, bevor dieser zum Islam konvertiert.
Klassenfahrt mit zwei Klassen nach Frankreich. F. als Betreuungslehrer dabei. Sie ist inzwischen sechzehneinhalb Jahre alt. Als sie mit ihrem Gepäck zum Bus geht, steht B. da, verneigt sich höflich, sagt kein Wort. Er fährt doch tatsächlich mit seiner Ente hinter dem Bus her und beabsichtigt, im Zelt seines Freundes, der Schüler der anderen Klasse ist, zu übernachten. Das erfährt sie erst im Bus von seinem Freund.
Spontan erzählt sie F. von dem Jungen, der sozusagen ohne Genehmigung an der Klassenfahrt teilnimmt und F. bietet ihr an: „Wenn er dich stört, schmeiße ich ihn raus“. Sie verneint erschrocken, im Gegenteil, sie freut sich und hofft auf ein Gespräch mit ihm. Doch daraus wird nichts. Er und sie sind scheu und gehemmt wie eh und je.
Sie nicken sich von Vorzelt zu Vorzelt zu, er spielt am Abend leise Gitarre, sie tut so, als ob es sie nicht interessiere.
F. hat andere Pläne. Der gute Burgunderwein tut seine Wirkung, man wird lockerer und F. geht zum Generalangriff über. In einem lauschigen Zelteingang packt er sie und küsst sie lange, intensiv und eklig. Sie flüchtet in ihr Zelt. Einfach so, ohne zu protestieren, ohne ihn zu warnen, sowas nicht nochmal zu tun.
Sie verflucht sich, ihre Eltern, ihn, einfach alle, die sie in solch eine Situation gebracht haben.
Am nächsten Morgen zaghafter Blick zum Nachbarzelt. B. ist weg. Er wurde am Vorabend von F. verjagt, angeblich habe er zu laut Gitarre gespielt – so ein Quatsch. Nach dem Überfall auf sie hatte F. also noch den Wunsch, einen vermeintlichen Widersacher aus dem Weg zu schaffen.
Nur sechs Wochen später, an einem trüben Novembertag, erfährt sie morgens an der Tür zum Klassenzimmer von einem Mitschüler, dass B. tot ist. Sie weiß, dass beide aus demselben Ort stammen. Kurz, knapp, knallhart berichtet ihr Max, was passiert ist. B. ist 20 Jahre alt geworden. Selbstmord. An einer Überdosis Rauschgift verstorben. Er hatte angeblich tagelang bis zu seinem Suizid seine Gedanken auf Kassette aufgenommen. Sie ist sprachlos und hat das Gefühl, alles Leben weicht aus ihr. Sie ist nicht in der Lage, dem Unterricht zu folgen. Den Tag verbringt sie wie in Trance.
Auf dem Heimweg von der Schule hält F. mit dem Auto neben ihr. Ganz spontan geht sie zu ihm an die geöffnete Fensterscheibe und berichtet ihm vom Tod des Jungen. Warum tut sie das? Erhofft sie sich Trost vom Alten? „Der vom Campingplatz? Um den ist es nicht schade!“
Die Worte schlagen auf sie ein wie Hämmer. Hat er das wirklich gesagt?
Angewidert wendet sie sich ab und eilt ihren Freundinnen hinterher, die bereits in Richtung Bahnhof weiter gegangen sind.
B. ist tot. Und nirgendwo richtiger Trost. Nirgendwo die Möglichkeit, mit jemandem zu sprechen. Über ihn, sein Leben, seine Probleme, seine letzten Tage und Wochen.
Zur Beerdigung darf sie nicht. Die Eltern wollen an diesem Tag Freunde auswärts besuchen und nehmen sie lieber mit, als sie allein zur Beerdigung gehen zu lassen. Diese verflixte Lethargie! Wie betäubt sitzt sie im Auto. Sie fahren durch den Nachbarort, auf dessen Friedhof er beerdigt werden soll. Zufällig kurz vor der Beerdigung. Vor dem Eingangstor des Friedhofs haben sich einige Freunde von ihm versammelt. Gleich wird die Trauerfeier beginnen. Durch das Autofenster erkennt sie ein paar bekannte Gesichter. Sie schaut noch durch das Rückfenster und durch einen Tränenschleier sieht sie die Jugendlichen immer kleiner werden.
Dann ist die Kindheit endgültig zu Ende. Nach einem Weihnachtsurlaub bei ihrer Brieffreundin in der Bretagne und einer längeren Infektionskrankheit mit mehreren schulfreien Wochen beginnt die Oberstufe und sie nutzt die Möglichkeit, alle Fächer abzuwählen, die F. unterrichten könnte. Sie gewöhnt sich an, auf Schulwegen immer wachsam zu sein und auf rote Autos zu achten und, wenn sie eines sieht, vorsorglich in Hauseingänge zu springen und sich zu verstecken.
F. beklagt sich bei ihrer Mutter, die er noch aus seiner eigenen Jugendzeit kennt, sie sei „wie ein scheues Reh“. Das bringt ihr eine Rüge der Mutter ein. Sie solle gefälligst nett zu dem Mann sein. Begreift diese denn gar nichts?
Noch einmal erwischt er sie, morgens um halb neun. Sie hat die erste Stunde frei und deshalb einen Zug später genommen. Woher weiß er das? Sie steigt in sein Auto. Als sie statt an der Schule zu parken, weiter Richtung Stadtausgang fahren, weiß sie, dass sie einen Fehler gemacht hat. Er hält auf einem Feldweg neben der Landstraße an. Warum wehrt sie sich auch diesmal nicht? Aber schlimmer als damals im Zelt ist es auch nicht. Ist sie bereits so sehr abgehärtet?
Das ist ihr letzter Fehler gewesen, schwört sie sich. Und so ist es auch. In der Oberstufe wird das alte Klassensystem aufgelöst, neue Kurse werden gebildet mit neuen Mitschülern und neuen Lehrern. Das stärkt sie. Unter ihnen fühlt sie sich sicherer. Sie verschwindet mehr und mehr aus F‘s Einflussbereich. Sie wird selbstbewusster und stärker. Kann sich verlieben, Freunde finden und optimistisch in die Zukunft schauen. Die letzten zwei Schuljahre werden die glücklichsten ihrer Schulzeit.
Das Studium führt sie in eine andere Stadt und beschert ihr einen Freund.
F. schickt gelegentlich Postkarten oder Bücher, meistens von ihm signiert „Für Bigi. F.“ Einmal lädt er sie per Brief in ein Bahnhofslokal in die Hauptstadt ein. Ganz harmlos, wie er schreibt. Sich treffen, was zusammen trinken, wieder nach Hause gehen. Sie ignoriert den Brief.
Viele Jahre nach B.s Tod lernen ihre Eltern auf einer Reise B.s Mutter kennen. Als
sie ihren Namen nennen, erschrickt diese. Und fragt, ob ihre Tochter das Mädchen sei, das ihr Sohn so oft in seinem Tagebuch erwähnt habe. Er habe nie von ihr gesprochen, aber im Tagebuch viel über sie geschrieben.
Nach Jahrzehnten ohne Kontakt beginnt F. wieder, sie ab und zu zuhause anzurufen. Wenn sie dran ist, klagt er über seinen schlechten Gesundheitszustand, seine Einsamkeit und seine Frau, die an der Seniorenuni erfolgreich ein Studium absolviert und sich emotional immer weiter von ihm entfernt. Meistens jedoch ist eine ihrer Töchter am Apparat. Er richtet Grüße an sie aus. Bittet um Rückruf. Sie ignoriert ihn einfach. Das ist ihre Rache.
Auch sein Tod lässt sie kalt. Er durfte 60 Jahre länger leben als B. Glücklich war er wahrscheinlich nie.
Vergessen kann sie beide nicht. Verpasste Gelegenheiten in beiden Fällen.
Sie war nie mutig, bekennend, hat nichts gewagt, wollte nicht auffallen, wollte Mainstream bleiben. Wollte brave Tochter sein, brave Schülerin, Lieblingskind.
Aber sie hat daraus gelernt. Nun kann sie laut werden, wenn es sein muss. Sich wehren. Notfalls andere warnen, wenn sie (endlich mal) ein „Neingefühl“ hat. Anstiften zu Widerstand. Aber auch Gefühle zeigen. Gelegenheiten nutzen.
So irrwitzig es auch klingen mag: Danke B. Danke F.