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Eine Stunde vor dem dreißigsten Geburtstag
Ich ging wieder durch die Straßen des Landes aus dem Sigmund Freud und Franz Kafka stammten, weiter und immer weiter, bis ich mich im althistorischen Prag verlor. Es war einen Tag vor meinem dreißigsten Geburtstag, ein Alter vor dem ich mich närrischer Weise fürchtete.
An der Südseite vom Altstädter Rathaus setzte ich mich auf eine Bank und blickte weit nach oben auf dessen mächtig anmaßende Astronomische Uhr. Ich landete nicht zum ersten Mal an dieser Stelle, Anfang der Neunziger, wo ich das Gefühl hatte, keiner wusste so recht wo er hinwollte, ob nun im buchstäblichen oder übertragenen Sinne.
Das Rathaus selbst war ein sehr ansehnliches gotisches Gebäude, aber die Uhr erregte meine Aufmerksamkeit. Aus reinem Interesse hatte ich mich zuvor sogar ausführlich über sie informiert. Die Uhr besaß mehrere Zeiger: einen Sonnenzeiger, einen Mondzeiger sowie die Ekliptik für die Tierkreiszeichen. Als besonders auffallend empfand ich das den Tod symbolisierende Skelett zur rechten der Uhr – schon ein bisschen unheilverkündend.
Ich schaute auf meine Armbanduhr, um die Zeit beider Uhren miteinander zu vergleichen. In etwa musste es stimmen – auch wenn ich meine Augen noch so anstrengte, war es schwierig auf die Entfernung die römischen Ziffern zu lesen.
Obwohl es relativ spät war, waren noch viele Menschen unterwegs auf dem Platz, liefen in alle Richtungen, Paare, Familien, Einzelgänger – so wie ich. Es gab noch reichlich mehr Bänke auf dem Platz, aber es schien als wäre ich der einzige, der auf einer von ihnen Platz genommen hatte. Alle anderen waren unterwegs, bewegten sich unter der gigantisch hohen Uhr vorwärts, die ebenfalls vorwärts lief. Diese war in der Lage die Sekunden ewig in die Länge zu ziehen, konnte aber auch jahrzehntelange Ereignisse voller Schmerz und Trauer aber auch Glück und Frieden wie lediglich eine Stunde erscheinen lassen.
Ehrfurchtvoll blickte ich erneut zur schwarzen Uhr mit den goldenen Ziffern hinauf, die etwas Magisches ausstrahlte und fast wie eine Gottheit erschien. Ich steckte die Hände in die Manteltaschen und atmete tief aus. Es war kalt, die Beine zitterten. Ich wippte mit den Füßen auf und ab.
Dann schlug es neunzehn Uhr und ich beobachtete das übliche Szenario oben am Zeitobjekt: der Hahn krähte, die Apostelfiguren gingen umher, der Tod riss an seinem Seil.
Die Apostel würden noch zwei Mal an diesem Tag umhergehen. Sie taten es jeweils bis einundzwanzig Uhr, dann hatten sie frei.
Ein alter Mann in dunklem Mantel mit Schnauzbart setzte sich unvermittelt neben mich und betrachtete ebenfalls die vorbeiziehenden Menschen.
Der Mann weckte mein Interesse, ich schaute bemüht unauffällig mehrmals zu ihm hinüber. Er saß da wie angewurzelt, strahlte jedoch etwas ganz Besonderes aus, wie ein Philosoph, ein moderner Prophet, der über alles und jeden vollkommene Klarheit besaß.
Ich ärgerte mich über meine Menschenscheu, überwand mich; »Hallo«, sagte ich freundlich in klarstem Tschechisch und lächelte ihn zaghaft an.
Er drehte mir den Kopf zu, als bemerkte er mich erst jetzt. »Ahhhh, junger Mann!«, sagte er, als kenne er mich von jeher. Und schon schaute er wieder auf die Leute, die den Platz bevölkerten, als hätten sie nichts Besseres zu tun – genau wie ich nichts Besseres zu tun hatte.
»Merkwürdig diese Menschen, hm?«, ließ er verlauten. Er hob den Kopf zur Rathausuhr. »Und diese Uhr erst!«
Ich runzelte die Stirn, schaute erst ihn an, dann gerade aus zum Getümmel und schließlich wieder herauf zum allgewaltigen Zeitmesser.
»Darf ich fragen, wie lange Sie schon in Prag leben?«, sagte ich.
»Sie dürfen.«
Mehrere endlos erscheinende Augenblicke verstrichen.
Ich räusperte mich. »Ähm, und wie lange leben Sie schon in Prag?«
Er blickte mich mit einem merkwürdig intensiven, kritischen Ausdruck an, dann sah er wieder geradeaus »Ach, weißt du mein Junge, ich lebe schon so lange in der Stadt, dass ich zu vergessen scheine wie lange. Manchmal kommt es mir vor wie eine Ewigkeit, als habe ich selbst das alles erlebt, das Altern, das Verrosten, den Erhalt, von Zerfall bis Wiederaufbau alles durch. Es ist, als sei ich Prag.«
Er lächelte, wobei noch mehr seiner vielen Falten sichtbar wurden und seine Augen sich zu Schlitzen verengten. Ehrlichgesagt sah der Mann aus wie über hundert. Dafür gestikulierte er flott und saß aufrecht, strotzte vor Energie und Vitalität.
Minuten verharrten wir so schweigend in angenehmer Stille.
Als sei seine Zeit hier abgelaufen, stand er plötzlich auf und sagte »Mach´s gut, mein Junge!«, wieder als kannte er mich schon sein Leben lang.
Instinktiv sagte ich: »Warten Sie!«
Er beugte sich zu mir herab, um mir die Hand zu geben und mir einen letzten eindringlich-warmherzigen Blick zu schenken.
Letztlich ging er ein paar Schritte, ein bisschen wie ein Pinguin, torkelte, drehte sich noch einmal um und winkte mir für zwei Sekunden zu. Er wurde immer kleiner, während er zwischen all den Menschen geradeaus davonging und verschwand.
Es wurde zwanzig Uhr, wieder der Hahn, wieder die Apostel, wieder der Tod. Der Abend der Kuriositäten am Platze der Zauberuhr war jedoch noch nicht vorbei, hatte ich das Gefühl. Und wie hieß es doch in der Bibel: nach dem dritten Krähen des Hahns würde Petrus Jesus verraten, und das war erst das zweite Krähen.
Ich atmete kleine, in der Kälte kondensierte Luftwölkchen aus. Der Platz lichtete sich nun etwas, da es begann dunkel zu werden.
Als ich so dasaß, tauchte ein Mädchen vor meinen Augen auf und positionierte sich aufrecht wie eine Soldatin vor mir. Sie begann mitten auf dem Platz zu tanzen.
Das junge Mädchen um die acht Jahre bewegte sich in sehr unbeholfener Art und Weise, die jedoch zugleich wunderschön war; sie tat es mit so viel Leidenschaft und Freude, ohne sich annähernd um ihre Umgebung zu scheren. Sie tanzte zu einer imaginären Musik, doch ich hörte sie, es war als zaubere sie die Melodie durch ihren Tanz in meine Ohren. Kurz erschien mir der riesige Platz wie eine große Ballhalle, in der alle Menschen, in Kleider und Anzüge gehüllt, im Paartanz einen Wiener Walzer tanzten. Nur das Mädchen, das tanzte alleine. Sie war die Hauptattraktion des Abends; diejenige die im strahlenden Licht erschien.
Für einen Augenblick schloss ich die Augen und lauschte der Musik, mit der plötzlichen Eingebung, dass ich ihr Tanzpartner sein musste.
Ich öffnete die Augen, richtete mich von der Bank auf und starrte nach vorne … doch das wunderbare Irrlicht am Prager Abend war verschwunden.
Oft sollte ich mich ernsthaft fragen, ob dieses Traumwesen wahr war oder nur meiner Einbildung entsprang. Ich wusste es nicht.
Ich sollte dieses Mädchen später noch mehrere Male auf den Straßen Prags sehen, was einem Wunder für mich glich, und jedes Mal tauchte sie so wie ein Geist aus dem Nichts auf und verschwand kurz darauf genauso unvermittelt wieder. Und meine Jahre in Prag vergingen, aber immer trug das Mädchen die gleiche Kleidung und wurde kein bisschen älter.
Einundzwanzig Uhr. Letzter Auftritt: Hahn, die Apostel, Tod. Erst morgen früh würden sie wiederkommen und sich erneut an die Arbeit machen.
Eine junge Frau in langem Parka, blassen Jeans und Turnschuhen kam mit erhobenem Plakat daher und rief die Parole, die darauf stand: »Deutsche raus! Franzosen raus! Italiener raus! Russen raus! Alle raus! Samtene Revolution reicht nicht! Gebt uns unser Tschechien zurück! Ein für alle Mal!«
Ein Mann mittleren Alters, offensichtlich ein Tscheche, kam auf sie zu, griff nach dem Plakat und wollte es ihr entreißen. »Du weißt doch nicht was du tust, du Närrin! Solche Sprüche machen uns doch auch nicht besser als die!«
»Lass mich, du Vollidiot!«
Sie zerrten beide an dem Stück Papier. Ich schaute dem Treiben zu, wusste nicht, ob ich mich einmischen sollte. Das Plakat zerriss in der Mitte.
Die junge Frau fing an, jämmerlich zu weinen. Der Mann versuchte sie zu trösten. Sie haute ihm eine ins Gesicht herunter.
»Blöde Schnepfe!«, rief er und ging wütend vom Platz davon.
Das Mädchen ließ sich zu Boden fallen. Sie heulte immer noch unaufhörlich.
Ich lief auf sie zu.
Noch bevor ich fünf Meter an sie herantreten konnte, rief sie wehleidig und mit versagender Stimme: »Verschwinde!«
Ich tat, was sie sagte und schlenderte zurück zur Bank.
Als ich die Bank erreichte, mich umdrehte und setzte, war auch sie verschwunden. Ich fragte mich, ob ich verrückt zu werden begann und mir all die Personen und Geschehnisse nur einbildete, aber etwas tief in mir sagte mir, dass das nicht der Fall war.
Der Astronom zeigte zweiundzwanzig. Und was kam nun? Nichts mehr! Die Apostel, der Hahn und selbst der Tod hatten sich ins Frei verabschiedet. Mir wurde melancholisch zumute. Ich schaute auf den grauen Asphalt.
Doch ich würde die Bank bis zum Mitternachtsschlag nicht verlassen.
Jetzt war ich ganz allein auf dem Platz. Kaum ein Geräusch unterbrach die Stille; hin und wieder spielte der Wind mit ein paar Dosen und Plastikflaschen.
Ich ertappte mich dabei, dass ich doch noch auf eine spannende Begebenheit wartete.
Ich schaute mich um. Niemand kam. Jedes Detail um mich herum, versuchte ich mir in einsamem Spiel zu merken.
Zu meinem Bedauern verging die Zeit meinem Gefühl nach doppelt so langsam. Ganz eindeutig spielte mir die Astronomische Uhr einen Streich.
Dreiundzwanzig Uhr – eine Stunde vor dem dreißigsten Geburtstag.
Nichts geschah mehr. Lediglich mein Nacken wurde steif vom permanenten und erstarrten Hinaufschauen zum Freund oder Feind dort oben.
Die faulen Zeiger – konnten sie sich denn nicht schneller bewegen?
Ich seufzte und bemitleidete mich, Michal Jeschek, in Gedanken selbst.
Als es dann schließlich kurz vor Zwölf wurde, überkam mich bloße Furcht. Tiefste Schwärze hatte den Sieg über das Licht der Lampen rundherum sowie in meinem Innern errungen.
Trotzdem wünschte ich mir, es würde endlich Zwölf werden, nur weil das Warten eine größere Qual darstellte als jedes mögliche Ergebnis.
Tick, Tack.
Tick, Tack.
Tick, Tack.
Ganz langsam, endlich und leider, wurde es Zwölf.