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Eine Straße voller Schnee

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15.02.2003
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Eine Straße voller Schnee

Je näher ich der Heimat kam, desto mehr befremdete mich das alles. Die roten Polsterbezüge der Sitze, das leise Rattern des Zuges, die am Fenster vorbeiziehende Landschaft. Um mich abzulenken, konzentrierte ich mich auf das, was die anderen Fahrgäste redeten. Alles belanglose Dinge, Dorfsachen. Mir gegenüber saß ein kleiner Junge. Im Schlaf war sein Kopf an die Schulter seiner Mutter gesunken, die daneben saß und ihm mit der Hand das Haar aus der Stirn strich. Meine Mutter war tot. Seit Dienstag. Sie hatte das Dorf bis zuletzt nicht verlassen. Sie wollte nicht, dass man sie in ein Krankenhaus bringt. Sie wollte es einfach nicht.

Die Beerdigung auf dem kleinen Friedhof war für elf Uhr angesetzt. Zwei Stunden später würde ich schon wieder im Zug sitzen. Es war alles durchgeplant. Die übrigen Dinge ließen sich auch von der Stadt aus regeln. Vater wusste es noch gar nicht. Er war nicht zu erreichen gewesen. Im Büro hatten sie gesagt, er sei verreist. Vermutlich wäre er ohnehin nicht gekommen.

Das Dorf hat einen kleinen Bahnhof. Früher konnte ich mir kein Dorf ohne Bahnhof vorstellen. Es war halb elf, als ich die Treppe vor dem Eingang hinunterstieg. Es hatte begonnen zu schneien. Die Schneeflocken landeten in Dachrinnen und auf den Hecken der Vorgärten. Sie verfingen sich in den Zweigen der Obstbäume oder schmolzen an den Fensterscheiben. Ich ging auf der Straße. Im Dorf störte es niemanden, wenn der Schnee auf dem Gehsteig liegen blieb. Ich hatte die Straße für mich allein. Um diese Zeit fuhren keine Autos. Das wusste jeder hier, besonders die Alten. Und trotzdem sah man immer wieder jemanden, der am Fenster stand und hinausschaute. Für alle Fälle.

In den Gärten standen Schneemänner, sie betrachteten mich mit Augen, die aus Kieselsteinen gemacht waren, und ich bemühte mich, ihrem Blick standzuhalten. Der Friedhof lag hinter der Kirche. Es gab zwei Kirchen im Dorf. Gäbe es nur eine, wäre das ein Skandal. Was nicht heißt, dass man regelmäßig zur Messe ging, ganz im Gegenteil. In dieser Hinsicht war das Dorf sehr fortschrittlich.

Der Friedhof ist klein und unscheinbar. Ein Fremder könnte ihn glatt übersehn. Rings um das Gelände ist eine Mauer. Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellt, kann man einen Blick auf den Friedhof dahinter werfen. War man ein Kind, ging das nicht. Früher sind wir auf die Mauer geklettert und haben versucht, uns gegenseitig runterzustoßen. Landete man auf der falschen Seite, war das Pech. Vielleicht hat sich das nicht geändert.

Den Pfarrer kannte ich nicht. Er begrüßte mich mit ein paar mitfühlenden Worten. Ich schwieg. Vermutlich taten das die meisten in dieser Situation, jedenfalls schien es ihn nicht zu überraschen. Außer mir waren noch zwei alte Damen anwesend, deren Namen ich nicht mehr wusste. Als ich mich näherte, nickten sie mir kurz zu. In meinem Rücken hörte ich sie leise miteinander flüstern, während ich zusah, wie zwei Männer den Sarg brachten. Sie trugen ihn in etwa so, wie man ein Gummiboot trägt.

Als der Pfarrer mit seiner Rede begann, blieben die beiden in der Nähe. Irgendwann hörte ich, wie einer von ihnen leise kicherte, aber gleich darauf war es wieder still. Der Pfarrer räusperte sich und ich betrachtete den Sargdeckel, auf dem sich immer mehr Schneeflocken ansammelten. Bald waren die Buchstaben des eingravierten Namens ganz mit Schnee bedeckt. Als der Pfarrer zu Ende gesprochen hatte, kamen die beiden Gehilfen mit Schaufeln und schütteten das Loch mit dem Sarg darin zu. Das war es dann also.

 

Hey Wolkenkind!

Der erste Satz schon sagt viel aus: der/die Prot kommt aus der Stadt, ist befremdet, obwohl der doch aus dem Dorf stammt, dort aufgewachsen ist... schließ sehr gut mit dem fast gleichgültig scheinenden Ende ab, dem Getuschel der Frauen, den belanglosen Gesprächen, den kurzen Kindheitserinnerungen. Alles ist fremd geworden, auch die Mutter? Alles belanglos. Der Schnee in den Straßen erscheint im Titel.

Das wusste jeder hier, besonders die Alten. Und trotzdem sah man immer wieder jemanden, der am Fenster stand und hinausschaute. Für alle Fälle.
- trocken geschrieben, wie der restliche Text, aber an der Stelle muste ich einfach lachen. Herrlich treffen...
Was nicht heißt, dass man regelmäßig zur Messe ging, ganz im Gegenteil. In dieser Hinsicht war das Dorf sehr fortschrittlich.
noch so eine trockene Stelle.
Hat mir gut gefallen der Text, kontinuierlich troken und distanziert betrachtet, der/die Prot grenzt sich ab, obwohl es um doch etwas eigentlich sehr persönliches geht... da kommen dann schon auch Fragen auf bei mir: wieso hat sich der Prot so gänzlich aus dem Leben seiner Kindheit entfernt? Kann man ein eigens Leben auch aufbauen, ohne sich so gänzlich zurückzuziehen? Wie weit kann, soll, muss Abgrenzung gehen?

schöne Grüße
Anne

 

Hallo Wolkenkind,
deine Geschichte hat mir gut gefallen, vor allem weil man beim Lesen nicht durch Wortwiederholungen oder holprige Formulierungen ins Stocken gerät. Ist der sachliche Stil, der sich durch deine gesamte Geschichte zieht gewollt? Warum steht deine Prot dem Tod der Mutter so gleichgültig gegenüber?
Liebe Grüsse
Blanca

 

Hallo Blanca, hallo Maus

Danke fürs Lesen und die positiven Kritiken.
Ja, der sachliche Stil ist gewollt. Das ist meine persönliche Therapie gegen die Traum-Eskapaden, die ich hier sonst veröffentliche :D

Sicher erfährt man viel zu wenig über die Beweggründe des Prots oder sein Verhältnis zur Mutter.
Das liegt daran, dass das der Anfang zu einer längeren Erzählung ist, in deren Verlauf sich das hoffentlich aufklärt.

Ich denke, der Text sagt auch so schon einiges aus. Habe mir viel Mühe mit den einzelnen Sätzen gegeben.

Ich wollte erstmal die Reaktionen abwarten. Hiermit nochmal danke.
Ich fürchte, die gesamte Erzählung kommt nich mehr am Türsteher für Kurzgeschichten vorbei, und wenn, dann will sie sowieso keiner lesen :)

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hi wolkenkind!

Auch mir gefällt deine Geschichte sehr gut :)! Mir gefällt auch der sachliche Stil und die Ruhe, die irgendwie durch die ganze Geschichte hindurchgewoben ist.
Besonders gut haben mir diese zwei Stellen gefallen:

In den Gärten standen Schneemänner, sie betrachteten mich mit Augen, die aus Kieselsteinen gemacht waren, und ich bemühte mich, ihrem Blick standzuhalten.

Ich kann mir die Person in dieser Situation gut vorstellen :)! Auch finde ich die Idee, dass jemand den Blicken von Schneemännern standzuhalten versucht, super!

...während ich zusah, wie zwei Männer den Sarg brachten. Sie trugen ihn in etwa so, wie man ein Gummiboot trägt.

Der Vergleich des Sarges mit einem Gummiboot gefällt mir irgendwie.

Habe noch zwei kleine Rechtschreibefehler gefunden:

Der Friedhof ist klein und unscheinbar. Ein Fremder könnte ihn glatt übersehn.

übersehen.

Als der Pfarrer zuende gesprochen hatte, kamen die beiden Gehilfen mit Schaufeln und schütteten das Loch mit dem Sarg darin zu.

zu Ende.

Eine schöne Geschichte :)!

Liebe Grüsse
Lune

 

Servus Wolkenkind!

Eine sehr gute Erzählung. Die Distanziertheit, das fast gewollte "Nichts fühlen" findet sein sachliches Finale in den Worten "das war es dann also." Ein Beziehungszustand hat sich erledigt, wird abgehakt. Was zu der Entfremdung führte geht aus der Geschichte nicht hervor, gerade das macht die bewusst unterkühlte Stimmung sehr deutlich.

Wenn, wenn da nicht im Zug der kleine Junge wäre, der sich an die Mutter lehnt - da ist die ganze Sehnsucht versteckt von der die restliche Szenerie abzulenken sucht.

So empfand ich es und fand es sehr gelungen.

Lieben Gruß an dich - Eva

 

hallo Wolkenkind,

ich gebe zu, ich hatte zu Beginn Schwierigkeiten mit dieser sachlichen Schilderung von Heimkehr und Abschied.
Der Tod der Mutter passt irgendwie nicht in den Zeitplan, und die Blicke der Schneemänner allein zeugen von dem schlechten Gewissen der Protagonistin ob ihrer Kaltherzigkeit.
Doch mit der Zeit, und mit mehr Auseinandersetzung sehe ich, dass es dir gut gelungen ist, den Mechanismus der Verdrängung greifbar zu machen, der deine Figur umtreibt und zur Sachlichkeit zwingt.
Es ist nicht der Zeitplan, den der Tod stört, es ist die Verdrängung, die der Tod stört, in dem er zur Auseinandersetzung zwingt.
Insofern hast du den Ton der Icherzählerin gut getroffen (ich ünernehme mal die Annahme, dass es sich um eine Erzählerin handelt, die Erzählung ließe beide Annahmen zu).

Ein Fehler in der Grammatik ist mir aufgefallen, den ich nicht mit dichterischer Freiheit entschuldigen möchte.

Um mich abzulenken, hörte ich den Gesprächen der anderen Fahrgäste zu. Alles belanglose Dinge, Dorfsachen.
Da der zweite Satz nicht vollständig ist, bezieht er den Fall aus dem ersten. Das "alles" möchte sich also auf die Gespräche beziehen, was natürlich noch offensichtliccher falsch klingen würde.
Mein Vorschlag wäre hier, die Passage etwas umzustellen, in etwa so:
Um mich abzulenken, hörte ich den Gesprächen der anderen Fahrgäste zu, deren Belanglosigkeiten und Dorfgeschichten.
"Dorfsachen" hatte ich ohnehin als die Sachlichkeit störend empfunden, da es sich eher um ein Slangwort handelt.

So, jetzt höre ich auch auf mit meiner Besserwisserei. Die Geschichte hat mir schließlich gefallen, da sollte der Platz für die Kritik nicht größer ausfallen als das Lob.

Lieben Gruß, sim

 

hei wolkenkind, auch mir hat dieser tatsachenbericht gefallen. du schriebst selber, dass es ein sachlicher stil sei, der beabsichtigt ist, genau deswegen kommt sie bei mir auch an. Keine Tränenarien, keine Darstellungsregeln. Sehr gut. "Ein Reisebericht" hätte ich noch als Ersatzüberschrift anzubieten.

Liebe Grüsse

Archetyp

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo und erstmal danke für die vielen Antworten.

Besonders freut mich, dass der Stil gut ankommt, vielleicht ist das Experimentiern bald endlich vorbei :)

@lune
Ich hab gedacht, man könnte auch "sehn" schreiben, passt halt in den Rhythmus. Kann mir nicht vorstellen, dass man das nur im Dialekt sagt.

Natürlich ist es schwer, in einer so kurzen Geschichte plausibel zu erklären, warum jemand so kühl von seiner Mutter spricht.
In der Wiederholung von "Sie wollte es einfach nicht"
sollte ein bisschen Verzweiflung stecken, vielleicht hilft das.

@sim
die Dorfsachen gefallen mir, aber hab die Grammatik schon verbessert.

@Archetyp
Wenn die Geschichte "Reisebericht" hieße, würde sie niemand lesen. Obwohl natürlich der jetzige Titel auch nich viel spannender klingt ;)

Liebe Grüße an alle
wolkenkind

 

Hallo Wolkenkind,

Deine Geschichte gefällt mir wegen ihrer Ernsthaftigkeit, ihrer pragmatischen Klarheit. Nähere Hintergründe über das Seelenleben des Prot. Vermisse ich nicht, diese Distanziertheit schlägt einen Bogen vom geschilderten Spezialfall zur allgemeinen Darstellung des Themas Tod, Abschied und vorallem Vergänglichkeit. Das Bild vom Schnee auf dem Sarg ist sehr stark, bevor der Sarg unter der Erde ist, hat das Vergessen schon begonnen.

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Hi wolkenkind!

Du hast recht, man könnte auch "sehn" schreiben. Für mich war es einfach ein bisschen fehl am Platz, weil der Text ja recht sachlich geschrieben ist. Aber ich denke auch, dass man beides nehmen könnte.

Liebe Grüsse
Lune

 

tja, das warws also *smile*.
hi wolkenkind,
du scheinst einen trieb zu dorfgeschichten zu haben *hehe*.
es geht in deiner geschichte um das malen des dorfes und der vergänglichkeit der person. für eine frau, die ihr leben lang in einem und dem selben dorf verbracht hat, ist es schon sehr trostlos, wenn nur drei menschen zur trauergemeinde gehören.
schön, wie du es ausgedrückt hast - wie du das dorf gemalt hast - und wie ernüchternd die beerdigung dagegen ist.
guter und angemessener schreibstil - solide und kurzunterhaltene geschichte.
:)
barde

 

Hi wolto, lune, barde

Schön, dass euch die Geschichte gefällt, auch wenn nichts darin passiert. Kaum ist der letzte Krieg vorbei, quillen hier schon wieder die Gewalt-stories aus allen Ecken :hmm:
Wenn Dorf und Winter zusammenkommen, steht alles still, mit den Autos fängt es an ;)

Liebe Grüße
wolkenkind

 

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