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Eine Straße voller Schnee
Je näher ich der Heimat kam, desto mehr befremdete mich das alles. Die roten Polsterbezüge der Sitze, das leise Rattern des Zuges, die am Fenster vorbeiziehende Landschaft. Um mich abzulenken, konzentrierte ich mich auf das, was die anderen Fahrgäste redeten. Alles belanglose Dinge, Dorfsachen. Mir gegenüber saß ein kleiner Junge. Im Schlaf war sein Kopf an die Schulter seiner Mutter gesunken, die daneben saß und ihm mit der Hand das Haar aus der Stirn strich. Meine Mutter war tot. Seit Dienstag. Sie hatte das Dorf bis zuletzt nicht verlassen. Sie wollte nicht, dass man sie in ein Krankenhaus bringt. Sie wollte es einfach nicht.
Die Beerdigung auf dem kleinen Friedhof war für elf Uhr angesetzt. Zwei Stunden später würde ich schon wieder im Zug sitzen. Es war alles durchgeplant. Die übrigen Dinge ließen sich auch von der Stadt aus regeln. Vater wusste es noch gar nicht. Er war nicht zu erreichen gewesen. Im Büro hatten sie gesagt, er sei verreist. Vermutlich wäre er ohnehin nicht gekommen.
Das Dorf hat einen kleinen Bahnhof. Früher konnte ich mir kein Dorf ohne Bahnhof vorstellen. Es war halb elf, als ich die Treppe vor dem Eingang hinunterstieg. Es hatte begonnen zu schneien. Die Schneeflocken landeten in Dachrinnen und auf den Hecken der Vorgärten. Sie verfingen sich in den Zweigen der Obstbäume oder schmolzen an den Fensterscheiben. Ich ging auf der Straße. Im Dorf störte es niemanden, wenn der Schnee auf dem Gehsteig liegen blieb. Ich hatte die Straße für mich allein. Um diese Zeit fuhren keine Autos. Das wusste jeder hier, besonders die Alten. Und trotzdem sah man immer wieder jemanden, der am Fenster stand und hinausschaute. Für alle Fälle.
In den Gärten standen Schneemänner, sie betrachteten mich mit Augen, die aus Kieselsteinen gemacht waren, und ich bemühte mich, ihrem Blick standzuhalten. Der Friedhof lag hinter der Kirche. Es gab zwei Kirchen im Dorf. Gäbe es nur eine, wäre das ein Skandal. Was nicht heißt, dass man regelmäßig zur Messe ging, ganz im Gegenteil. In dieser Hinsicht war das Dorf sehr fortschrittlich.
Der Friedhof ist klein und unscheinbar. Ein Fremder könnte ihn glatt übersehn. Rings um das Gelände ist eine Mauer. Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellt, kann man einen Blick auf den Friedhof dahinter werfen. War man ein Kind, ging das nicht. Früher sind wir auf die Mauer geklettert und haben versucht, uns gegenseitig runterzustoßen. Landete man auf der falschen Seite, war das Pech. Vielleicht hat sich das nicht geändert.
Den Pfarrer kannte ich nicht. Er begrüßte mich mit ein paar mitfühlenden Worten. Ich schwieg. Vermutlich taten das die meisten in dieser Situation, jedenfalls schien es ihn nicht zu überraschen. Außer mir waren noch zwei alte Damen anwesend, deren Namen ich nicht mehr wusste. Als ich mich näherte, nickten sie mir kurz zu. In meinem Rücken hörte ich sie leise miteinander flüstern, während ich zusah, wie zwei Männer den Sarg brachten. Sie trugen ihn in etwa so, wie man ein Gummiboot trägt.
Als der Pfarrer mit seiner Rede begann, blieben die beiden in der Nähe. Irgendwann hörte ich, wie einer von ihnen leise kicherte, aber gleich darauf war es wieder still. Der Pfarrer räusperte sich und ich betrachtete den Sargdeckel, auf dem sich immer mehr Schneeflocken ansammelten. Bald waren die Buchstaben des eingravierten Namens ganz mit Schnee bedeckt. Als der Pfarrer zu Ende gesprochen hatte, kamen die beiden Gehilfen mit Schaufeln und schütteten das Loch mit dem Sarg darin zu. Das war es dann also.