- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Eine Steppe voller Nägel
Eine Steppe voller Nägel
„Irgendwo muss es doch sein“, schrie sie verzweifelt und fiel auf die Knie. Schon zu lange musste sie hier herumlaufen, schon zu lange hatte sie zu warten, schon zu oft dachte sie nur mehr ans Aufgeben.
Sie sah sich um, doch der Wind wehte ihr die langen, schwarzen Haare ins blasse Gesicht. „Wo ist es denn nur“, dachte sie und während sie sich über das Gesicht strich, schlichen sich all ihre Erinnerungen durch ihren Kopf. All ihre Erinnerungen an ein Zuhause, die sie in einen tiefen Schlaf fallen ließen.
Das Wehen wurde stärker. Sie lag regungslos am Boden, ihr Atem war ruhig. Manchmal schien es, als wolle der Wind sie nach Hause tragen. Doch auch er hatte wohl vergessen, wo es war.
„Komm, Kleine, wir fahren heute zu Oma und Opa. Geh’ dich noch schnell waschen.“ Marie sah ihre Mutter trotzig an. Sie verschränkte die für ihr Alter viel zu langen Arme vor der Brust. „Ach komm schon. Was ist denn los? Du bist doch sonst so gerne bei ihnen! Karl! Karl! So rede du doch mit ihr.“ Er betrat das Wohnzimmer und musterte seine vierjährige Tochter. „Weißt du was, Marie? Ich werde dich jetzt schnell baden. Wenn du möchtest, nehmen wir unseren Wasserball mit, dann kannst du mich auch anspritzen. Und ich verspreche, dass dieses Mal das Badewasser nicht so heiß sein wird wie das letzte Mal.“ Er nahm die kleine Hand Maries und ging mit ihr ins Bad. „Ich danke dir, Karl!“ rief die Mutter hinterher.
Ihr Atem wurde schneller. Als könnte sie nicht genug Sauerstoff in ihren Körper aufnehmen. Der Himmel dämmerte, und schon leuchteten vereinzelt Sterne hell auf.
„So, da wären wir. Lauf schnell ins Haus und begrüße deine Großeltern.“ Marie öffnete die Autotür. Währenddessen kam auch schon die Großmutter aus dem Haus gelaufen. „Hallo, meine Lieben, da seid ihr ja endlich. Ich dachte schon, es wäre euch etwas passiert.“ Sie umarmte Karin. „Ja, tut uns leid. Marie weigerte sich eine zeitlang, mitzukommen. Anscheinend ist sie gerade in dem Alter, in dem man etwas menschenscheu wird.“ Die Großmutter führte Karl, Karin und Marie ins Haus.
Ihre schlanken Finger gruben sich in den Sand als müssten sie sich festhalten. Lass los, der Wind trägt dich zu den Sternen!
„Dieser Nachmittag ist aber schnell vergangen. Meine Mutter macht einfach den besten Kuchen, findest du nicht, Karl?“ „Ja ja“, antwortete er, er war in seine Zeitung vertieft. Das Telefon klingelte. „Ich geh’ schon“, sagte Karin, „lass dich nur nicht stören. Hallo? Hallo Monika! Heute Abend? Welchen Film denn? Aber der soll doch brutal sein! Ach so? Na gut. Dann können wir nachher auch noch etwas plaudern. Tschüs!“
Karin setzte sich zu ihrem Mann an den Tisch. „Es war Monika. Wir gehen heute Abend ins Kino und dann Kakaotrinken. Du bringst doch Marie um sieben ins Bett?“ Er nickte. „Aber lass sie ja nicht länger aufbleiben! Sonst ist sie morgen wieder so müde. Du lässt dich einfach zu leicht von ihr um den Finger wickeln. Karl?“ „Ja, ich hab’ dir doch zugehört. Um sieben, nicht länger. Mach dir einen gemütlichen Abend.“ Karl starrte noch immer auf die Zeitung. Seine Frau nahm seine Hand, neigte sich zu seinem Mund und flüsterte: „Wenn du noch wach bist, wenn ich nach Hause komme, dann könnten wir ja mal wieder…“ Endlich sah er sie an. „Mal sehen. Aber nicht böse sein, wenn ich bereits schlafe. Ich muss morgen früh auf.“ Karin senkte enttäuscht ihren Blick, und als sie wieder aufsah, war er bereits wieder in seine Zeitung vertieft. Marie saß auf der Treppe.
Sie hatte Gänsehaut. Vielleicht war ihr kalt. Das Sternenlicht konnte sie nicht mehr wärmen. Das Sternenlicht konnte sie nicht mehr sehen.
Karin gab Marie einen Kuss und verließ das Haus. Karl saß vor dem Fernseher. „Komm her, Marie. Da läuft noch ein Zeichentrickfilm.“ Marie setzte sich zu ihm auf die Couch. „Hat’s dir bei Oma und Opa gefallen? Ja? Der Kuchen war ausgezeichnet. Wir sollten Mami mal das Backen beibringen, was hältst du davon? Letztes Jahr zu Weihnachten haben wir ja so gute Kekse gebacken, kannst du dich noch erinnern?“
Auf ihrer Stirn standen Schweißperlen, in denen sich die Sterne spiegelten. Wie weit sie doch entfernt waren! Es hatte Momente gegeben, in denen sie von Stern zu Stern gesprungen war. Und irgendwann war sie hinuntergefallen.
„Es ist schon spät. Du musst ins Bett.“ Zärtlich strich Karl ihr die dunklen Haare aus dem Gesicht. Wie schön sie bereits war, dachte er sich. Er schaltete den Fernseher aus, nahm Marie in seine Arme und trug sie in ihr Zimmer. „Welches Nachthemd möchtest du anziehen? Marie?“
Ihr langes Kleid ließ sich vom Wind schaukeln. Ihre Lippen waren von Sand benetzt. Plötzlich begannen ihre Lider zu zucken. „Es muss doch hier irgendwo sein!“ schrie sie den Sternen entgegen.
„Putz dir doch die Zähne! Du willst dich doch sauber fühlen, wenn du ins Bett gehst. Ich werde dir auch deine Haare zurückhalten, wenn du die Zahnpasta ausspuckst. Welches Nachthemd willst du denn jetzt anziehen? Sieh her, ich zieh mir auch etwas anderes an.“ Er zog seine Kleider aus. Marie ging ins Bad und putzte sich die Zähne. Karl vergaß, ihr die Haare zurückzuhalten, da er sich für keinen Pyjama entscheiden konnte. Nachdem sich das Mädchen die Zähne geputzt hatte, ging es wieder in ihr Zimmer. Um ein Nachthemd anzuziehen.
Tränen liefen ihre ausgezehrten Wangen hinunter. Ihre Augen waren noch immer geschlossen. Sie legte ihren Kopf auf ihre Arme und kauerte sich zusammen. Sie spürte Schmerzen überall an ihrem Körper. „Hier irgendwo“, flüsterte sie schwach in die Nacht hinaus. Der Wind fegte um sie herum, und die Sterne ließen ihr Licht in ihren Tränen schimmern.
There are too many stars and not enough sky...