Eine Serviette
Plötzlich erkannte ich, wie schön alles hätte sein können. Nach diesem Gespräch musste ich mir eingestehen, in meinem Leben einen wirklich entscheidenden Fehler gemacht zu haben. Oder war es Schicksal? Ergebnis von Erziehung und Umfeld? Je länger ich darüber nachdenke, um so besser gefällt mir die Schicksalsnummer. Aber der Reihe nach, zumal mir die Ereignisse nach wie vor in Erinnerung sind, als sei alles erst gestern geschehen.
Ich fühlte mich wie gerädert. Ohne mich wirklich in einem Spiegel gesehen zu haben, wusste ich, dass ich zum Fürchten aussah. Ich spürte meine zerwühlten Haare, jedes einzelne gegen den Strich, wodurch mein hämmernder Kopfschmerz noch verstärkt wurde.
Am Liebsten hätte ich mich irgendwo hin verkrochen, weg von dieser Welt. Inzwischen war es nach zwei am Nachmittag. Normalerweise stand ich auch an Wochenenden pünktlich um acht auf.
Ich schleppte mich in die Küche, um mir auf dem Weg dorthin zu überlegen, wie ich in diesen Zustand absoluten Elends geraten sein könnte. Während ich völlig mechanisch die Kaffeemaschine befüllte, erschien mir die Frage an sich ziemlich absurd. Ich musste mich abends zuvor ganz grässlich betrunken haben. Obwohl ich sonst allenfalls in Maßen trinke, war der Zustand mir doch durch einige, wenige Erfahrungen bekannt. Alles samt Erlebnisse meiner Jugendzeit, als ich mehr aus Versehen oder durch Überredung, als durch pure eigene Absicht volltrunken wurde, um dann morgens darauf eben jene Beschwerden zu erleben, die mich danach für lange Zeit dem Alkohol völlig entfremdeten.
Also formulierte ich die Frage neu, wobei ich erstaunt und völlig bewusst über diesen Gedankengang nachdachte, was mich wiederum sehr an einen ausgewachsenen THC-Rausch erinnerte. Genau genommen an den einzigen, den ich je erlebte. Mein damaliger Mitbewohner kredenzte auf einer seiner einschlägigen Partys entsprechend kontaminierte Kekse. Zwei Wochen darauf suchte ich mir ein neues Zimmer bei einer netten alten Dame, die zwar furchtbar viel Sherry trank, dafür jedoch nicht mit anderen Drogen experimentierte.
Ich schob den letzten Gedanken beiseite und konzentrierte mich wieder auf dieses blöde Unbehagen, dem drei Fragen folgten: Wo habe ich mich betrunken? Mit wem habe ich mich betrunken? Was habe ich angestellt, während ich betrunken war? Zwischen dieser letzten Frage und meinem Unbehagen vermutete ich einen sehr, sehr engen Zusammenhang.
Frage Nummer zwei war relativ leicht zu beantworten, da ich mich erinnerte, mit meinen Leuten aus der Verwaltung zum Essen gegangen zu sein. Schröder hatte Geburtstag und deshalb ins Tapas eingeladen. Zwar war ich der Chefbuchhalter, doch pflegten wir einen sehr freundlichen Umgang. Mehr als Freundschaft hätte ich mir damals nur von Beatrice, einem zwar nicht atemberaubend hübschen, aber doch ungemein interessanten Wesen aus der Ablage erhofft. Seitdem mich Susanne verlassen hatte, lebte ich als Single und habe auch keinen ernsthaften Versuch unternommen, daran etwas zu ändern. Erst Beatrice weckte in mir wieder Gefühle, die mich nachts nicht schlafen ließen. Ich muss zugeben, dass ich fürchterlich verliebt war. Allerdings gab sie sich mir gegenüber eher etwas unterkühlt, wobei ich mir nie sicher war, ob es einfach nur eine hierarchiebedingte Schüchternheit war.
Einzig Wernke war mir suspekt. Seine Ich-bin-ja-so-anders-Inszenierung war mir von Anfang an ein Dorn im Auge. Nicht, dass ich etwas gegen diese Leute gehabt hätte. Aber ich dachte, man muss es ja nicht jedem auf die Nase binden und außerdem wäre es bei uns auch etwas ruhiger ohne diesen Menschen mit seinen ständig anzüglichen Bemerkungen. Apropos anzügliche Bemerkungen: Ich erinnerte mich, dass Wernke versuchte, uns in eine dieser Schwulenbars zu schleppen. Also beim besten Willen! Wenn er dort hingeht, mag das ja in Ordnung sein...
Mit der Kaffeetasse in der Hand trat ich ans Fenster. Der Parkplatz, auf dem sonst mein Auto stand, war leer. Wie also war ich nach Hause gekommen? Bus und Bahn konnte ich ausschließen, da ich öffentliche Verkehrsmittel aus unerfindlichen Gründen zutiefst verabscheue. Gelaufen? Mit dem Taxi gefahren? Ich stellte die Kaffeetasse auf den Tisch und bückte mich unter Schmerzen nach meinem Jackett, das mit meinen restlichen Kleidungsstücken auf dem Boden lag. Für den Fall, dass ich ein Taxi genommen hatte, würde ich eine Quittung finden, da ich mir gewohnheitsmäßig und aus Gründen der Steuerersparnis jede Fahrt bescheinigen lasse. Daran würde vermutlich auch ein Vollrausch nichts ändern, es sei denn, mein Sprachvermögen wäre soweit eingeschränkt gewesen, dass ich diesen Wunsch nicht mehr hätte formulieren können, was allerdings unwahrscheinlich erschien, da ich für den Fall einer Taxifahrt dem Chauffeur auch meine Adresse hätte genannt haben müssen.
Über diesen neuerlich krausen Gedankengang grübelnd, durchsuchte ich die Taschen meines Jacketts. Die linke Innentasche war leer, in der rechten fand ich mein Portmonee mit meinen Papieren, ein bisschen Kleingeld und fünfzig Euro in kleinen Scheinen. Sonst nichts.
Nach dieser mageren Ausbeute inspizierte ich nun meine Hosentaschen. Dort fand ich, wonach ich suchte und noch mehr. Zu meinem Erstaunen hielt ich neben der Taxiquittung ein Stück Zellstoff oder besser gesagt eine Serviette mit einer Telefonnummer in der Hand. Eine Handynummer, die ich nicht zuordnen konnte. Ich betrachtete interessiert die Serviette als solche und las zu meinem größten Erstaunen „Orlean“. Das war der Laden, in den uns Wernke schleppen wollte. Und nun fragte ich mich, wie ich verflucht zu dieser Serviette gekommen sein konnte, ohne dort gewesen zu sein. Nein, ich konnte nicht in diesen Laden gegangen sein.
Ich stellte die Kaffeetasse auf dem Tisch ab und ließ mich aufs Sofa fallen. In einem Anflug schwacher Genugtuung registrierte ich, dass zumindest mein körperliches Unbehagen langsam nachließ. Der Kopfschmerz war auf dem Rückzug und auch meine Bewegungen wurden zusehends sicherer. Dieses Gefühl der Zufriedenheit war jedoch von kurzer Dauer. Ich klaubte die Taxiquittung vom Tisch. Die Summe, die ich dort las, war alles andere als unbeträchtlich, um nicht zu sagen, ärgerlich hoch. Zwar verdiente ich ganz gut, doch liegt mir nichts ferner, als kapriziöse Taxifahrten für mehr als fünfzig Euro.
Der hohe Preis war die eine Sache. Eine andere war die mögliche Fahrtstrecke. Aus dem Stadtzentrum zu meiner Wohnung zahle ich in der Regel knapp die Hälfte. Also musste ich vom Stadtrand nach Hause gefahren sein. Das „Orlean“ liegt am Stadtrand!
Ich beschloss zu duschen. Danach würde ich frischer sein und den letzten Katerrest vertrieben haben. Im Bad angekommen musterte ich mich im Spiegel. Meine Vermutungen hinsichtlich meines Aussehens bestätigten sich.
Unter den Bartstoppeln am Hals machte ich eine dunkle Stelle aus. Nach einer gründlichen Rasur erwies sich die Verfärbung als Bluterguss, der verflucht an einen Knutschfleck erinnerte. Ich werde doch nicht... Die Serviette mit Telefonnummer, ein Knutschfleck am Hals... Es gibt ja nun definitiv nicht viele Möglichkeiten, zu einem Knutschfleck zu kommen. Entweder bewusst beigebrachtes Zeichen früh pubertärer Sexualität oder später dann, wenn man etwas älter ist, das Mal einer wirklich stürmischen Leidenschaft, wobei letztere eher zu kleinen Bisswunden führt.
Mir kamen orgiastische Bilder in den Sinn. Ich sah Männer, die sich küssen und eng umschlungen tanzen, die halb nackt in Ecken stehen. Mir wurde übel. Ich musste mich übergeben. Ich putzte mir ein weiteres Mal die Zähne.
Mein Atem war wieder halbwegs frisch. Was blieb, war ein Unwohlsein. Wie auch immer das vor sich gegangen sein mochte, wenn es herauskäme, würde ich vom Chef zum Gespött der Friedhofsverwaltung werden. Meine Eltern, die mir in ihrem Bekanntenkreis nach wie vor eine leitende Position beim Grünflächenamt der Stadt nachsagten, was ja genau genommen auch zutraf, würden vor Scham vergehen.
Welche Optionen hatte ich also? Ich konnte die Nummer auf der Serviette wählen. Dies würde mir wahrscheinlich Gewissheit über die Vorkommnisse des letzten Abends geben. Bei diesem Gedanken jedoch, überkam mich neuerlich die Übelkeit.
Eine andere Variante wäre, einfach alles zu vergessen und so zu tun, als sei nichts geschehen. In diesem Fall würde ich höchstwahrscheinlich ins offene Messer des Spottes und der Demütigung laufen. Ich fragte mich, ob ich das ertragen würde. Neben der Achtung meiner Umwelt, die ich wohl inzwischen schon verloren hatte, würde ich auch die Achtung vor mir selbst verlieren.
Als letzte Möglichkeit blieb, sich zu verkriechen. Erst einmal Urlaub im Süden und danach etwas ganz Anderes anfangen. Weg von hier, weg aus dieser Stadt. Meine Sparsamkeit der letzten Jahre würde mir erlauben, an einem anderen Ort vollkommen neu anzufangen. Vielleicht in einer Großstadt, deren Anonymität mir den nötigen Schutz geben würde.
Zwei Stunden Bedenkzeit sollten mir genügen. Aus langjähriger Erfahrung wusste ich, dass es wichtig ist, Fristen zu setzen. Die erste Stunde meiner Bedenkzeit verbrachte ich mit der Überprüfung meiner finanziellen Situation. Wie lange würde ich wohl ohne ein geregeltes Einkommen überleben können? Ich errechnete ein knappes Jahr. Das sollte mir genügend Zeit geben, mich einzurichten und einen neuen Job zu finden.
Ich nahm wieder das Stück Zellstoff vom Tisch und musterte die Schrift. Irgendwie kam sie mir bekannt vor, aber dann auch wieder nicht. Eigentlich schienen mir nur die zwei Vieren in der Rufnummer vertraut. Ich drehte die Serviette noch einen Moment zwischen meinen Fingern. Die Telefonnummer begann zu verwischen.
Ich legte die Serviette auf den Tisch zurück und nahm den Telefonhörer in die Hand. Für den Nachmittag war ich bei meinen Eltern zum Kaffee eingeladen. Ich wollte zumindest absagen. Ich legte wieder auf. Was sollte ich ihnen sagen? Dass ich krank bin? Vielleicht wussten sie ja auch schon alles. Wir leben in einer Kleinstadt, in der sich üble Nachrichten schneller verbreiten, als ein Floh springen kann.
Noch eine viertel Stunde bis zu meiner Entscheidung. Ich ging zur Anrichte und goss mir einen großen Sherry ein. Ein Gefühl angenehmer Wärme ergriff meinen Körper. Mein neues Leben war greifbar nah. Ein echtes Abenteuer.
Nachdem meine Entscheidung fest stand, griff ich mir das Telefonbuch. Natürlich rief ich nicht das Reisebüro an, in dem ich meine jährlichen Urlaubsreisen buchte. Nach kurzem Hin und Her buchte ich einen Flug, der schon am nächsten Morgen nach Spanien ging.
Eilig packte ich das Nötigste zusammen und verbrachte die Nacht grübelnd in meinem Sessel. Mir wurde immer klarer, dass ich noch nie eine Entscheidung dieser Tragweite getroffen hatte. Es war ein Entschluss, der kein Zurück erlaubte. Mein Nichterscheinen im Büro würde nach einer kurzen Toleranzfrist zur Kündigung führen. Die vollkommen abschiedlose Trennung von meinen Eltern würde ihnen das Herz brechen. Mein plötzliches Verschwinden, das im kleinstädtischen Umfeld schnell zum Mysterium avanciert, würde jedoch die andere Schande überblenden und ihnen auf diese Weise vielleicht eine Hilfe sein. Man würde darüber sprechen, dass ich plötzlich weg war und nicht darüber, was in der Nacht vor meinem Verschwinden passierte.
Am nächsten Morgen stieg ich nach einer nervenaufreibenden Busfahrt ins Flugzeug nach Gran Canaria.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Nach zwei Wochen auf Gran Canaria buchte ich meinen Rückflug um. Neues Ziel war Berlin. Dort angekommen lebte ich zunächst für drei Wochen in einer Pension. Danach hatte ich dank beharrlicher Suche eine halbwegs erträgliche Wohnung in Steglitz gefunden. Es folgte ein ebenso halbwegs erträglicher Job ein viertel Jahr später.
Danach lebte ich sechs Jahre unauffällig vor mich hin. Einziger Unterschied zu meiner alten Heimat war vielleicht, dass ich über einen Vorfall, wie jenen, der mich damals zur Flucht gezwungen hatte, in dieser Stadt eher schmunzeln würde. Es war ein anderer Ort und eine andere Zeit.
Ich abonnierte die Zeitung meiner Heimatstadt, die stets mit einem Tag Verspätung bei mir eintraf. Und so erfuhr ich auch vom Tod meines Vaters, drei Jahre, nachdem ich verschwunden war. Im ersten Moment meinte ich, es sei eine gute Gelegenheit, wieder aufzutauchen. Schmerz empfand ich nicht. Es war inzwischen eine vollkommen andere Welt für mich. Etwas, das ich von außen oder von oben, je nachdem, betrachtete. Den Plan, zurück zu kehren verwarf ich sehr schnell.
Dann hörte und sah ich lange Zeit nichts mehr aus der Stadt meiner Kindheit. Weitere drei Jahre vergingen, bis ich vor zwei Stunden wie vom Donner gerührt auf der Straße stehen blieb. Ich blickte in das Gesicht, das mich all die Jahre nie losgelassen hatte und mir noch immer so vertraut erschien. Es war älter geworden und hatte erste Falten bekommen, darüber seinen Reiz jedoch nicht verloren.
Sie kam aus dem KDW und erkannte mich auf Anhieb. Fluchtgedanken waren sinnlos. Sie sah mich an und sagte: „Ach.“ So, wie man „ach“ sagt, wenn man jemanden zufällig im Kino oder Theater trifft, der krank geschrieben ist. Ich war so verwirrt vom plötzlichen Auftauchen meiner alten Welt, dass ich nicht mehr herausbrachte als: „Hallo Beatrice. Was machst du denn hier?!“ Ganz so, wie jemand antwortet, der krank geschrieben ist und im Kino erwischt wird.
Es folgte betretenes Schweigen. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass ihr die Begegnung peinlicher war, als mir. Allerdings war es für ein „Schön, dich mal wieder gesehen zu haben.“ inzwischen zu spät. Also fragte ich, um Fassung ringend: „Kaffee?“
Wir ließen uns in einem Straßenkaffee nieder und bestellten tatsächlich nur Kaffee, obwohl mir der Sinn eher nach einem Sherry stand. „Wo bist du die ganzen Jahre gewesen?“ Ich antwortete schlicht und wahrheitsgemäß: „Hier.“ Es folgte wieder ein längeres Schweigen, wobei sie mit niedergeschlagenen Augen an der Tischdecke nestelte und einen imaginären Soßenfleck zu entfernen versuchte.
Irgendwann kam dann das Gespräch mit dem Austausch kleinstädtischer Alltäglichkeiten halbwegs in Gang. Eigentlich interessierte mich all das sehr wenig. Es war einfach zu weit weg. Einzig die Tatsache, dass sie inzwischen verheiratet war, versetzte mir einen kleinen Stich.
Sie sagte: „Ich habe damals auf deinen Anruf gewartet.“ Ich sah sie fragend an, sie schwieg verlegen. Also setzte ich nach: „Wann hätte ich dich anrufen sollen?“ „Du weißt es nicht mehr, oder?“ „Was?“ „Am Abend vor deinem... Verschwinden.“ Mir fiel die Serviette ein. Ich hatte sie damals auf dem Tisch zurück gelassen. Ich sagte unbestimmt: „Das ist lange her.“