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Eine Schüssel Blaubeeren
„Ich kann es nicht mit ansehen, dass du so traurig bist!“… Denkt er ernsthaft, dass ich es genieße?
„Du hast vieles, wofür andere Menschen dich beneiden!“… Denkt er ernsthaft, dass ich mich im Vergleich mit anderen in meiner Position wohlfühle?
Ein durchschnittlicher Mensch der Mittelschicht in der Vollbeschäftigung ist 5 Tage die Woche, 260 Tage/2080 Stunden im Jahr auf Arbeit. Abgezogen davon hat ist er ab und zu Urlaub und gönnt sich an anderen Stellen eine gesundheitsbezogene Auszeit. Der Mensch will etwas erschaffen, konstruieren, sich selbst verwirklichen, organisieren, helfen, abarbeiten,... . Dem nicht genug, verbringt der Arbeitswütige die restlichen 65 Tagen einem Großteil seiner Freizeit damit: Familie, Freunden, auch Kollegen über die Arbeit zu berichten, mit ihnen über Strategien zu diskutieren, Prozesse auszuwerten und ganz klar sich über den einen oder anderen Vorfall zu beschweren. Am schnellsten, am besten, am innovativsten. Erfinde dich selbst, nutze das Wissen aus unvorstellbar großen Wissenssammlungen für dich, entwickle einen kritischen und klaren Sinn, um bestrebt der oberen Mittelschicht oder sogar der Oberschicht anzugehören.
Ich bin ein Teil des Systems, weil es die Mittelschicht grundsätzlich erwartet. Schule, Ausbildung, Studium, Arbeitseinstieg. Ein anderer Weg hätte überhaupt keinen Sinn gemacht und etwas anderes habe ich nach bisherigen 24 Jahren Systemerfahrung auch gar nicht hinterfragt. Doch es ist die Leere an Lebensqualität, die mich mehr und mehr zum Nachdenken bringt. Wieso besteht ein Menschenleben daraus, sich für das System zu opfern, damit für die Menschheit profitiert wird. Ist es im Endeffekt nicht ein wertvolles Menschenleben, im Einzelnen betrachtet, was für die Gesamtheit missbraucht wird? Oder ist es Egoismus, sich dem System zu entfernen und sein Leben, was man nur ein einziges Mal so erleben darf, mit all den Schönheiten dieser Welt auszufüllen.
Mir laufen Tränen über die dunklen Augenringe und finden ihren Weg über die hervorstehenden Wangenknochen, bis sie sich am Hals verlaufen. Ich bin beneidenswert, sagt er. Ja klar, ich habe ihn ja auch geheiratet. Er ist die beste Wahl, die ein menschliches Wesen zum Fortbestehen seiner Gattung nur treffen kann und die beste Wahl meines Herzens. Arbeiten, heiraten, Kinder kriegen. Die Aussicht auf Nachwuchs: Für eine Frau in einem unterstützenden System die Chance, sich in circa zwei Jahre im Mutter sein und als führenden Haushaltskraft wiederzufinden. Immerhin zwei Jahre mit null Arbeitsstunden und einem mittelschichtigen Einkommen. In einer Zusammenkunft egoistischer Menschen unvorstellbar.
Doch will Ich daraufhin arbeiten, mir Dinge zu leisten, mit denen ich mich im System profilieren kann? Gekauftes Glück ist nur von Dauer. Es sei denn, man kauft sich nach dem Abklingen des Glückes gleich ein zweites tolles Ding, um sich weiterhin bestärkt in seiner Anstrengung zu fühlen und ein Weiteres und ein Weiteres, um die Wehmut nach der Ferne zu unterdrücken.
„Ok meine Süße, ich mach mich jetzt auf den Weg, wir sehen uns Sonntagabend.“ Für manche Menschen ergibt sich die Möglichkeit, in immer gleichen Abständen zwei Tage die Woche hintereinander frei zuhaben. Glücklicherweise, ist sich die Mehrzahl der Menschen im System einig, genau diese zwei immer wieder kehrenden Tage mit Freizeit zu verbringen. Ein Luxus des Systems, sich zu entspannen und stupide am dritten Tag die Arbeit wieder erholt aufzunehmen. Die nächsten 48 Stunden verbringe ich mit Nachtschichten und Tagdiensten, um mich im System einzuordnen. Meine Motivation des Tages: eine Schüssel Blaubeeren aus dem Kühlschrank im Mai.