Eine Reise
Einzelne Regentropfen fallen auf das Pflaster, als ich durch die Glastür trete
und mich nach dem richtigen Bus umsehe. Nach der Enge im Flugzeug
bin ich seltsam verwundert darüber, daß nicht auf jedem Pflasterstein ein
Mensch steht. Ich hatte immer wieder an Puppen denken müssen, die
im Versandkarton stecken, möglichst platzsparend verpackt und gerade so,
daß keine die andere berührt. Ich sehe die Haltestelle mit der Aufschrift
"Richtung Innenstadt" und stelle mich daneben unter das Vordach.
Die Regentropfen lassen mich nicht los.
Von denen, die vorbeihasten, den Kopf eingezogen um dem Naß zu
entgehen, und auch von den anderen Wartenden sehe ich keine
Gesichter. Das liegt an mir, denke ich, und denke dabei gar nicht
wirklich an den Grund dafür.
Die dunklen Wasserflecken auf dem Pflaster haben viel Ähnlich-
keit mit Deinen Sommersprossen, sie sind genauso zufällig
verteilt, ohne dabei eine Stelle auszulassen. Du warst deswegen
immer unsicher und ich habe nie verstanden warum. Warum Du
mir nicht glaubtest, wenn ich Dir sagte, daß Du wunderschön bist.
Das bist Du wirklich.
Du hast dann gelacht, gesagt "Du bist bekifft" und mir vielleicht
noch die Haare zerzaust. Und ich glaube, ich habe dann immer
gesagt Du hast warscheinlich recht. Und dann muß ich an die
anderen Flecken denken, auch denen sind die Wassertropfen
nicht unähnlich.
Der Bus trudelt ein, ich bemerke die Kälte draussen erst richtig
als sie nicht mehr da ist, und löse im Warmen eine Tageskarte.
Ich setze mich auf den Platz über dem Radkasten, damit ich
nicht versehentlich einschlafe, denn ich bin jetzt schon seit
15 Stunden auf den Beinen. Der Bus fährt los, weg vom Flughafen
und dann am alten Kasernengelände vorbei. So steht es zumindest
auf dem Schild. Was ich sehe ist ein endloser Holzzaun, nur ab und
an von einem kleinem Guckloch durchbrochen. Ich bin zu schnell
und zu weit weg, als daß ich viel erkennen könnte.
Wie von Deinem Leben, denke ich. Kurze, unscharfe Ausschnitte
habe ich die letzten Jahre davon gesehen. Durch meinen eigenen
Zaun hindurch. Wenn ich etwas langsamer wurde und näher hin
ging. Ich erinnere mich an das Gedicht, das ich Dir geschrieben
hatte, ein paar Wochen, bevor ich weg ging. Von dem Tanz
auf der Mauer zwischen den Wirklichkeiten. Damals wußte ich
noch nicht, daß ich so schnell auf eine Seite davon fallen würde.
Und daß ich selbst die Mauer, den Zaun bauen würde.
Durch Zufall haben wir uns vor einem halben Jahr getroffen, Du
warst fast verrückt vor Freude und bist mir um den Hals gefallen.
Ich wäre gerne genauso glücklich gewesen deswegen, das spüre
ich jetzt, aber ich habe nur gefragt, was Du so machst. Du hast
dann von Dir erzählt, hast mir die Hochs und Tiefs im Schnell-
durchlauf geschildert, und Deine Augen waren immer noch so
groß wie früher. Du hast gesagt "Ich habe Deine Gedichte alle
aufgehoben. Weißt Du noch? Besonders das eine, von dem, der
zwischen den Wirklichkeiten tanzt?"
Das freut mich, habe ich gesagt, ja, ich erinnere mich. Das war
eine schöne Zeit. Aber ich muß weiter, meine Freunde warten
schon. Und daß wir uns mit Sicherheit bald wieder über den
Weg laufen würden.
Der Bus ist an der Endstation, die Fahrt hat länger gedauert,
als ich angenommen hatte. Es wird langsam dunkel, als ich
die Straße zur S-Bahn überquere. "Fährt die Richtung Prenz-
lauer Berg?" Die Frau - das Mädchen - dürfte ungefähr in Deinem
Alter sein, sie ist etwas größer als Du, aber sie hat die selben
widerspenstigen Locken wie Du. "Ja, an der dritten Haltestelle
müssen Sie aussteigen." Ich merke, wie sie mich unruhig ansieht,
sie kneifft die Augen zusammen. Ich sollte sie nicht so anstarren,
darum murmle ich Vielen Dank, Danke und stelle mich ein paar
Meter weiter weg an den Bordstein.
Ich muß nicht lange auf die Bahn warten. Hinsetzen lohnt nicht,
bei dem ganzen Gepäck. Aussen an den Scheiben sind einige
Regentropfen, die das Licht glitzernd zurück in den Wagen werfen,
ansonsten ist dort nur Schwärze. Dunkelheit.
Damals haben wir sie geteilt, die Schwärze. Und die Licht-
blitze, auch wenn diese immer selterner wurden. Damals hast
Du mir nicht nur einmal geholfen, das Funkeln wieder zu finden,
wenn ich in der Dunkelheit untergegangen war. Und mir schließ-
lich auch den Mut zum Aufhören gegeben, obwohl Du ihn selbst
nicht gefunden hast.
Ich steige aus, den restlichen Weg gehe ich zu Fuß. Ein halber
Kilometer, vielleicht etwas mehr. Die Straßenlaternen leuchten
gelb und orange und machen das Licht warm und weich, doch
selbst sie zittern ein wenig im kalten Wind.
Auch hier sehe ich Tropfen, kleine dunkle Flecken auf dem Boden.
Ich habe mit einer gemeinsamen Bekannten über dich geredet,
nachdem ich es erfahren habe. Sie sagte, sie hätte Dich kurz
vorher getroffen. Deine Arme wären noch immer voller Nadel-
stiche gewesen, Deine Pupillen viel zu klein für das Dämmerlicht.
Ich weiß nicht, ob ich Ihr glaube. Und ich weiß nicht, ob es
wichtig ist, ob ich es glaube.
Ich bin angekommen, die Wohnung ist leer. Ich mache mir
eine Tasse Instantkaffee. Drehe die Heizung auf. Räume meine
Sachen ins Zimmer. Setze mich an den Tisch und zünde mir
eine Zigarrette an. Man hat Dich jetzt wohl schon zum Fried-
hof geleitet, versucht mit Weihwasser die bösen Geister zu
verschrecken, die Du im Leben nicht los geworden bist.
Ich sollte wohl dort sein. Nicht hier, über tausend Kilometer
entfernt. Ich glaube nicht, daß ich den Termin morgen früh
hätte verschieben können.
Niemand hat damit gerechnet, das sagen sie alle. Nicht mit
einem Autounfall. Manche denken, wer weiß, was an dem Unfall
schuld war, aber niemand sagt es. Man kann die Zukunft nicht
ändern, habe ich einmal gehört. Sondern ihr nur eine andere
Maske geben. Damals klang das tröstlich. Fatalistisch, aber
damit irgendwie tröstlich.
Soll ich meine Maske abnehmen, frage ich mich, und habe Angst
davor. Was geschieht, wenn ich den Zaun jetzt einreisse? Ich
drücke die Zigarrette aus und schalte den Laptop an, nur kurz
ins Mailpostfach sehen, ob für den Termin morgen noch Änderungen
gekommen sind.