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Eine neue Generation
Es mag grotesk klingen, aber hier, auf diesem Meteoriten, diesem Giganten aus Stein, ist mir das erste mal bewußt worden, welche Pracht und Schönheit das Universum hat. Seit sieben Jahren fliege ich Einsätze gegen annähernde Meteoriten, Asteroiden, aber niemals war mir bewußt geworden, welche Schönheit mich umgibt. Ich sitze hier ganz ruhig auf einer kleinen Bank, auf der sich wahrscheinlich zu Erdzeiten Liebende getroffen und geküßt haben. Daneben eine Ruine einer kleinen Kirche. Mein Blick richtet sich gegen meinen Heimatplaneten Mars. Ich halte mich an der Bank fest und fliege mit diesem Fragment erdlicher Existenz dem Ende meiner Zivilisation entgegen. "Raumstation 2 an Einsatzflug. Wenn noch einer von Euch da draußen ist, dann meldet Euch. Ist da noch wer...? Um unser aller Leben, meldet Euch doch..." Warum sollte ich? Sollte ich Euch sagen, dass nur noch ich lebe. Dass der Zünder einer der Fusionsbomben in meiner Hand liegt? Was würdet Ihr sagen? Würdet Ihr um Euer Leben winseln? Um Eure jämmerliche Existenz flehen? Wahrscheinlich... sterben werde ich wohl müssen.
Der Sauerstoff ist fast verbraucht, doch wird er noch ausreichen, um meine Reise auf den Mars zu beenden. Vorsichtig bewege ich mich auf die Kirche zu. Die Gravitation ist nahe null. Langsam schwebe ich in das Innere, das Dach der Kirche ist das Universum. An einer Wand erkenne ich das Symbol der Christen. Eine horizontale Linie gekreuzt von einer kürzeren Vertikalen. Es symbolisiert ein Kreuz, an dem der Sohn Gottes von Menschen zu Tode gebracht wurde - um für ihre Sünden zu büßen... so hat es mir meine Großmutter erklärt. Eine merkwürdiger Frieden liegt in diesen Mauern. Nach all dem, was mir meine Großmutter über die alte Welt mitgeteilt hat, ist es ein unwirkliches Gefühl dem gegenüber zu stehen. Ich habe oft daran gezweifelt, ob es richtig war, daß mich meine Großmutter in das Geheimnis der alten Welt eingeweiht hat. Ich habe meine Großmutter dafür verflucht - aber im selben Moment auch dafür geliebt. Ich sah unsere Welt mit anderen Augen, wurde kritisch. Doch dieses Wissen machte mich innerlich zu einem Außenseiter, fühlte mich Tag für Tag mehr verloren in der Großartigkeit der alten Welt.
Die Erde hatte zwanzig Jahre, um sich auf ihr definitives Ende vorzubereiten. Die Kollision mit einem Himmelskörper der gleichen Größe war unausweichlich. Die Gesellschaft der Erde änderte sich drastisch und nahm Formen an, wie sie nun auf dem Mars herrschen. Die Regierungen brachen zusammen, es herrschte Anarchie. Die Wissenschaftler übernahmen die Führung und bauten die vorhandenen Raumstationen zu gigantischen Transportern um. Sie trafen die Wahl. Sie waren die neuen Machthaber. Sie hatten das Wissen. Sie machten jetzt die Gesetze. Sie waren die Aposteln des neuen Gottes - der genetischen Code. Er stand über allem und entschied über die Zukunft der wenigen, die mit den Frachtern auf den Mars fliegen sollten, um dort das fortsetzen, was sich Menschheit nannte. Das einschneidenste Gesetz für diese neue Gesellschaft war, daß die, die alte Welt kannten, dieses Wissen für sich alleine in das Grab tragen mußten. Eine schwere Bürde. Unmittelbare Eliminierung war die Strafe für diejenigen, die dem nicht folge leisteten. Doch brachen wenige dieses Gesetz, denn die genetische Selektion der Auserwählten war zu perfekt: neben den üblich genetisch bestimmbaren Kriterien wie Intelligenz und genetisch veranlagten Krankheiten, wurde gezielt nach den gewünschten Persönlichkeitsprofile gesucht - Anpassungsfähigkeit, Disziplin, sowie geistige und körperliche Belastbarkeit. Es war die Aufgabe dieses Gesetzes, diese - nach Meinung der Wissenschaftler - aufblühende neue Generation davor zu bewahren, an den widrigen Lebensumständen durch Gedanken und Wissen an die alte Welt zu Grunde zu gehen. Es steckt eine grausige Wahrheit dahinter, denn hätte ich früher was von der Erde geahnt oder gewusst, das Leben hier auf dem Mars wäre unerträglich. Wenn man nichts anderes kennt, akzeptiert man. Wenn man unwissend ist, folgt man.
Bis zu dem Gespräch mit meiner Großmutter hatte ich keine Vorstellung von dem, was meine Großmutter Geschichte oder Vergangenheit nannte. Ich, meine Kollegen, die Generation, die auf dem Mars geboren wurde, kannten die Wörter "damals", "früher", "gestern" nicht. Es gab für mich, für uns, keine Vergangenheit - keine Frage danach, woher wir kamen. Wir wurden dazu trainiert, um uns, die Menschheit, am Leben zu halten. Wir kommunizierten untereinander, aber wir kannten nicht das, was meine Großmutter später als Gespräch bezeichnete. Wir wurden ernährt, hatten feste Schlafzyklen, feste Einsatzstunden im jeweils zugeteilten Aufgabenbereich. Nachdem wir unseren Dienst geleistet hatten, ging es zurück in die Zellen, wo wir gebildet, ernährt, erzogen wurden. Dort fanden wir unseren kontrollierten Schlaf. Es gab keine Träume. Der meisten Neutralkomplexe wurde bis zur vitalen Ebenen abgeschaltet, manipuliert - angepasst für den Dienst am nächsten Tag. Die Wissenschaftler behandelten unsere Gehirn nicht besser als wie programmierbare Einheiten. Ich weiß das alles, weil es mir meine Großmutter erzählt hat. Ich erinnere mich jetzt noch ganz klar an den Abend, an dem diese alte Frau, meine Großmutter, mir das Geheimnis mitteilte. Sie fing mich vor meiner Zelle ab und führte mich an einen Ort, von dem ich nicht wußte, daß es ihn gab. Es war eine alte Schleuse, die damals von den Landungsfähren genutzt wurden. Ich konnte mir damals nicht erklären, warum diese Frau so eine magische Wirkung auf mich hatte. Sie erinnerte mich an jemanden und ich folgte ihr.
Sie versicherte mir, daß dieser Ort sicher wäre vor Überwachung. Überwachung von was? Ich war verunsichert, da ich meine Bildung in meiner Zelle antreten sollte. Doch Sie stellte mir eine Frage, die ich anfangs nicht verstand, doch später alles andere vergessen lies und meine Welt völlig veränderte. "Woher kommst du?" Ich konnte ihr nicht folgen. Verstand nicht diese und auch nicht kommenden Fragen. Verstand nicht die Wörter, die sie verwendete. Dann sagte sie: "Ich bin deine Großmutter. Die Mutter deiner Mutter." Sie erklärte mir, wie der Mensch in anderen Zeiten gezeugt wurde. Erzählte mir von einem zerstörten Nachbarplaneten, genannte Erde - der Ursprung allen menschlichen Lebens. Ich zwang sie, daß sie aufhören sollte, diese Lügen zu erzählen und rannte davon. An diesem Abend ging ich durch die Zellblöcke. Und ich bemerkte eine Veränderung. Ich begann über die Worte der alten Frau nachzudenken. Das erste mal in meinem Leben dachte ich über die Bedeutung des Lebens nach. Über meine Vergangenheit. Dachte über die Veränderungen an meinen Körper nach. Ich sah meine Hände an und erinnerte mich, daß diese früher feiner strukturiert waren. Jetzt waren sie grob, hatten die Feinfühligkeit verloren. Ich war älter geworden. Langsam begann ich, den Nebel von meinen Gedanken abzuschütteln. Ich schaute mir die Gesichter der anderen an. Sie wirkten starr, hatten was, was ich an Maschinen wieder fand - starr, kalt, berechnend. Ich erkannte allmählich den Unterschied zu den wenigen Alten, die noch lebten. Sah die Geschichte in ihren Gesichtern nieder geschrieben. Sah ihren Schmerz, den sie mit ihrem Wissen in sich trugen. Ich fing an zu glauben. Ich hatte etwas Größeres entdeckt. Die Sicherheit hielt mich auf.
Im Sicherheitszentrum wurde ich über mein Abwesenheit befragt und belehrt. Alles begann mir wie eine große Lügen zu erscheinen. Jedes gesprochene Wort war Lüge. Ich wurde in meine Zelle zurück gebracht. Ich legte mich auf mein Bett und die Sicherheit überwachte, daß der Schlafzyklus ordnungsgemäß initialisiert wurde. Am nächsten Tag wachte ich auf, wurde ernährt, ging zu meinen Raumgleiter, verrichtete den Dienst, begab mich zurück in meine Zelle, empfing Erziehung, schlief. Kein Gedanke mehr an die alte Frau, die meine Großmutter war.
Eines Tages stand sie wieder vor meiner Zelle und brachte mich an die Schleuse. Wieder folgte ich ihr. Ich fing an, mich an sie zu erinnern und sie erklärte mir die regulierende manipulative Wirkung unseres Schalfzyklussees. Sie erzählte mir mehr und ich fing an Fragen zu stellen. Ich konnte ihr nicht glauben und so brachte sie mich in ihre Zelle. Sie gab mir zwei Schriften, die sie als Bücher bezeichnete. Das eine Buch wurde Bibel genannt, das andere Steppenwolf. Sie schenkte mir die Bücher und versicherte, daß ich mich mit diesem Büchern immer wieder an sie erinnern werden würde. Sie zeigte mir, wie ich die Bücher verstecken konnte - denn dieser Fund wäre mein sicherer Tod. Sie gab mir zum Abschied ihre Hand und schnitt mich in meinen Finger. Der Schmerz wird dich morgen an alles erinnern. Ich ging schnell zurück in meine Zelle und ich begann Tag für Tag mich mehr und mehr zu erinnern.
Ich stellte meiner Großmutter viele Fragen. Über den Verbleib meiner Mutter, über Gott und Harry Haller, den Steppenwolf. Sie erklärte mir alles über Liebe, Sexualität, Philosophie, Glauben und ihrer Auslöschung dieser durch die Wissenschaftler. Sie beschrieb die Eingriffe, Anpassungen und Veränderungen an meinem Körper, um auf ein Leben für auf den Mars angepasst zu sein.. Tag für Tag fühlte ich beengter, war unkonzentriert, fühlte Schmerz, Haß. Es gab Tage, an dem ich wünschte, wieder unwissend zu sein und haßte meine Großmutter dafür, daß sie mir das angetan hatte. An anderen Tagen liebte ich sie dafür. Sie erzählte mir vom Ende des wundersamen Planeten Erde und wie sie die genetische Selektion umgangen hat. Wäre sie nicht die Frau meines Großvaters gewesen, einer der führenden Wissenschaftler, sie wäre mit den Milliarden anderer Menschen auf der Erde gestorben. So wurde auch Menschlichkeit mit auf den Mars gebracht.
An unserem letzten Treffen hatte sie ein seltsames, über alles stehendes Lächeln auf dem Gesicht. Sie schien sich in einem völligen Zustand der Glückseligkeit zu befinden. Sie erzählte mir an diesem Abend viele triviale Dinge aus ihrer Jugendzeit. Ich hörte ihr zu und sah mich selber auf der Erde schreiten. Sie erzählte mir von ihrem ersten Kuss, ihrer ersten großen Liebe, ihren Lieblingsblumen, von dem Heiratsantrag meines Großvaters und noch von vielen kleinen, anderen Erlebnissen aus ihrem langen Leben. Ich hatte noch nie einen Menschen so glücklich gesehen. Am nächsten Tag fand ich sie tot in ihrer Zelle. Sie lächelte immer noch. Sie ist in Frieden gestorben. Ich fühlte einen seltsamen Schmerz in meiner Brust durch diesen Verlust. Als ob mein Herz zu Stein geworden wäre. Ich hatte zuvor noch nie so gefühlt hatte.
Das Einsatzgeschwader wurde gerufen. Ein Meteorit war auf direkten Kollisionskurs mit dem Mars. Der Koloss aus dem All änderte durch eine nicht berechnete Kollision mit einem anderem Meteoriten den Kurs. Es blieb wenig Zeit, um ihn zu zerstören. Alle verfügbaren Raumgleiter wurden bewaffnet und gestartet. Meine Gedanken waren bei meiner Großmutter. Langsam näherten wir uns diesem verloren geratenen Giganten aus dem All. Die Anzeigen auf meinen Bildschirm wurden genauer - Größe, Zusammensetzung, Geschwindigkeit, Rotation. Dann kam er in Sichtweite und ich empfand ein Gefühl der Einzigartigkeit für diesen riesigen Klumpen Materie. Er war schön. Ein Einzelgänger, verloren in der Unendlichkeit des Weltalls und wiedergefunden auf seinen letzten Weg zum Planeten Mars. Ich scherte aus der Formation aus und überflog seine Oberfläche. Er sah so anders aus, als all die anderen Meteoriten, die gesprengt wurden. Ich konnte es damals nicht beschreiben, aber ich hatte das Gefühl, dass er am Leben war. Es war Zeit, sich wieder in das Geschwader einzugliedern. "Alpha Eins an Geschwaderführer. Die Oberfläche zeigt eine starke Topographie. Sende Koordinaten für die Platzierung der..." Ein Meteoritenfeld kreuzte unseren momentane Position. Die Kontrolle über meinen Gleiter war dem Zufall überlassen.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich auf der Oberfläche des Giganten. Kein Kontakt zum Rest des Geschwaders. Instinktiv baute ich die Zündervorrichtung für die Bombe aus. Ich befreite mich aus dem zerstörten Cockpit. In einiger Entfernung sah ich eine Struktur, die ich nicht zuordnen konnte. Vorsichtig näherte ich mich, immer in der Gefahr den Halt zu verlieren und in den Weltraum zu driften. Ich erreichte diese Bank, sah dieses Gebäude. Es erinnerte mich an das, was meine Großmutter als Kirche bezeichnet hatte. Ein Gotteshaus. Ich war verwirrt. Ich befand mich auf einen Stück meiner Geschichte, der Geschichte der Menschheit, der Erde. Ich lies mich auf der Bank nieder, sah meinen Heimatplaneten entgegen. Dieser Lüge...
Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Meine Zeit ist gekommen. Ich stehe in diesem Tempel, stehe im Angesicht des Symbols der Christen. Mitleid, Mitgefühl - Dinge, die meine Großmutter diesen Menschen zuordnete und ich auch in diesem Buch, das sie mir zu lesen gab, wiederfand. Mitleid. Was bedeutet Mitleid? Sollte ich die Millionen Menschen auf dem Mars weiter in ihrer Lüge leben lassen? War das nicht Unrecht? Es war aber auch Unrecht zu töten.
Langsam verlasse ich dieses Gebäude und setzte mich wieder auf die Bank. Der Planet Mars ist schon zum greifen nah. Zum ersten Mal sehe ich seine Schönheit. Und trotzdem verkörpert er jetzt alles, was ich hasse. Ich verweile noch einen Augenblick hier und schwelge mich in der Einzigartigkeit der alten Welt.