- Beitritt
- 23.08.2001
- Beiträge
- 2.936
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Eine Nacht
Das Haus war riesig. Anna staunte: hier würden sie also das Wochenende verbringen? Doch blieb keine Zeit zum Schauen, alle rannten hinein, suchten die schönsten Räume mit den größten Betten und beschlagnahmten sie. Anna lief hinterher, nahm ein Zimmer mit Michael.
Die Nacht brach herein und noch immer schien keiner müde zu werden. Überall sah man kleine und größere Gesprächsinseln, lachende, diskutierende, gelöste Menschen. Anna ging mit Michael ins Zimmer, sie wollten schlafen. Eine Weile ging das auch gut, das Haus kam zur Ruhe, die letzten Nachzügler nahmen ihre Sachen und verschwanden in den Zimmern.
Dann ein langgezogener Klageschrei im Treppenhaus: Anna saß senkrecht im Bett.
"Das wird Helene sein, die hat letztes Mal auch so geschrieen", murmelte Michael, ging dann aber doch mit Anna zusammen vor die Zimmertür, um zu schauen, was war. Es war fünf Uhr morgens, Helene schrie und das Haus war wieder auf den Beinen. Schlafen konnte man schließlich auch später. Vor dem Fenster wurde es bereits hell.
Michael ging noch kurz ins Zimmer zurück, kam jedoch nicht wieder. Als Anna nach ihm sah, hatte er eine Katze im Schoß, zeigte auf den Sessel neben sich und sagte:
"Da, nimm Dir auch eine." Anna setzte sich, nahm das widerstrebende Tier auf den Schoß und kraulte das weiche Fell. Tatsächlich, das tat gut, aber die Katze wollte weg und Anna ließ sie.
Sie ging zu Gerôme, einem guten Freund und musste feststellen, dass er eine Frau war. Sie saßen lange in seinem Zimmer, bis er damit herauskam, dass er eigentlich Helga hieß und es bisher nur noch keinem aufgefallen war. Sie überlegte kurz, es seiner Freundin zu sagen, ließ es dann aber doch. Sie würde es schon noch merken. Die Illusion war allerdings perfekt: Sogar einen Bartschatten hatte er, und wäre Anna ihm damals nähergekommen, wüsste sie auch, ob das in seiner Hose doch nur ein aufpumpbarer Ballon war – aber es hatte verdammt echt ausgesehen, wie seine Hose zu spannen anfing. Allerdings recht klein, aber das konnte auch an der Enge der Jeans gelegen haben.
Als Annas Lieblingsserie begann, verließ sie Helga-Gerôme und setzte sich vor den Fernseher. In der Werbepause lief ein Textbanner über den Bildschirm:
"Anna, sprich mit niemandem über das, was wir vorhin besprochen haben."
Das konnte nur von Chris stammen. Als sie die dritte Werbepause mit Spruchband überstanden hatte und ihre Serie vorbei war, ging sie hinaus, ihn zu suchen. Es war noch immer mitten in der Nacht, die Helligkeit von vorhin war wieder der Dämmerung gewichen. Sie merkte, dass sie nur Socken anhatte und zog diese aus. Das Gefühl der warmen Wolle auf ihrem glatten, nackten Fuß machte sie glücklich, und sie lief barfuß durch den Lehm auf der Suche nach Chris.
"Er ist irgendwo dahinten mit seinem Laptop", sagten die anderen, und so ging sie zu dem hohen Holzsessel, der an der Feuerstelle stand, auf den sie gewiesen hatten. Da saß er, seinen Laptop umgeschnallt um den Bauch, und tippte wie wild.
"Ich würde nie etwas verraten, für wen hältst Du mich?" sagte Anna zu ihm. Er sah auf und lächelte. "Natürlich nicht, aber so habe ich Dich in meiner Nähe." Während sie sich neben ihn stellte, dachte sie noch einmal darüber nach, dass Gerôme in Wirklichkeit Helga war und ob sie mit Chris darüber sprechen sollte, aber die Feuerwehrsirenen brachten sie so aus dem Konzept, dass sie beschloss, sich doch besser einen neuen Traum zu suchen.
________________
07. November 2002