Eine Nacht im Licht
Die See lag grau und schwer wie geschmolzenes Blei. Mit einem tiefen brummenden Ton schob der 400 PS starke Motor die Draug über das spiegelglatte Wasser. Es war kein großer, aber ein fest gebauter Kutter, ausgelegt, in der Saison zwischen Mitte Januar und April die zugewiesene Fangmenge Kabeljau aus der um diese Zeit meist stürmischen See zu ziehen. In Sichtweite zogen die schwarzen Konturen kleinerer Inseln vorbei. Es war Heiligabend und von weitem meinte man, kleine Lichtpunkte, die zu einzeln stehenden Holzhäusern gehörten, wahrzunehmen. Ole Svensons starke Hände hielten das Steuerrad aus gehärteter Fichte fest, als gälte es, anstürmende Brecher zu überwinden. Irgendwann hatte er aufgegeben, die schwarzen Ränder unter seinen Fingernägeln und das Maschinenöl in der rissigen Haut entfernen zu wollen. Schon sein Vater hatte in den rauen Gewässern um die Lofoten Dorsch, wie man den Kabeljau hier nannte, gefangen. Doch die Zeit blieb nicht stehen, die großen Trawlerflotten mit ihren schwimmenden Fischfabriken leerten die Fanggründe und machten den hiesigen Kleinunternehmern arge Probleme. Viele hatten aufgegeben und verdienten ihr Geld mit den Touristen, die in den Sommermonaten von der wilden Schönheit der Inseln vor der Küste Norwegens angezogen wurden.
Es musste gegen 3 Uhr sein. Svenson heftete seinen Blick auf die Stelle, an der Himmel und Meer zu einer stetig dunkler werdenden Unendlichkeit zu verschmelzen schienen. Er hatte das Funkgerät und die Positionslampen der Draug ausgeschaltet. Er fürchtete keine Kollision, an einem solchen Datum saßen sie schon alle am warmen Ofen, die letzten Geschenke waren verpackt, das Festmahl vorbereitet und die ersten Gäste machten sich auf den Weg zu den Nachbarn. Die 100-Seelen-Gemeinde Å i Lofoten, kurz Å genannt, hatte einen kleinen gut geschützten Hafen, von dem man im Sommer schöne Bootstouren unternehmen konnte. Ein paar der einheimischen Familien vermieteten Zimmer mit Frühstück und boten Angeltouren an. Es ging ihnen besser als früher. Für Ole Svenson war das keine Alternative. Sein Vater hatte immer gesagt, die Svensons seien immer zur See gefahren, Wikingerblut in den Adern. Und er sterbe lieber auf See als im Bett. Als der Sjøtroll Daug ihn holte, war er keine 70 Jahre alt. Die alten Norweger fürchteten diesen fürchterlichen Meerestroll, der Stürme erzeugen und Boote zerschlagen konnte. Ole hatte seinen Vater immer bewundert, schon als kleiner Junge lernte er von ihm, Netze zu flicken, den Motor zu warten, die See zu lesen und Fischschwärme auszumachen. Der Tod des Vaters hatte Ole, der zudem früh die Mutter verloren hatte, sehr mitgenommen. Von dem kleinen Erbe zahlte er den Kutter ab und nannte ihn zum Trotz gegen den Sjøtroll und seine bösen Mächte Daug.
„Lotta, wir müssen uns wirklich beeilen, gleich fängt die Messe an!“ „Ja Mama, ich bin gleich soweit, ich will nur das Geschenk für den mürrischen Nachbarn noch fertig einpacken“. Das Mädchen versuchte, eine rote Schleife um das kleine Päckchen zu binden. „Ich helfe Dir, sonst kommen wir noch zu spät“. Liv Solberg drückte ihren Zeigefinger auf den sich sonst wieder öffnenden Knoten und Lotta zog zu. „Fertig!“, sagte sie zufrieden. „Vielleicht freut er sich ja!“ „Bestimmt“, antwortete die Mutter, aber dachte etwas anderes. Der knurrige Griesgram von Gegenüber sprach kaum ein Wort, lud niemanden ein und ging den Menschen aus dem Ort aus dem Weg. In einer so kleinen Gemeinde, wo jeder jeden kennt, war das nicht sonderlich klug, aber in diesem Fall hatten die Menschen ein gewisses Verständnis für ein so unfreundliches Verhalten. Lotta zog ihr Mäntelchen an. Mit ihren 5 Jahren war sie noch nicht so gut zu Fuß und so hatte der Vater entschieden, mit dem Wagen die Anhöhe zur kleinen Dorfkirche hinaufzufahren. Der alte Volvo hatte schon viele Kilometer zurückgelegt, auf dem Weg nach Narvik, wo Fredrik Solberg in einer Transportfirma als Logistikspezialist arbeitete. Wegen des Golfstroms blieb der Hafen von Narvik das ganze Jahr über eisfrei und hatte sich zu einem wichtigen Warenumschlagplatz entwickelt. Auch die norwegische Marine hatte hier einen großen Stützpunkt und musste mit Nachschub versorgt werden. Solberg war ein guter Mann, beherrschte den Job und konnte mit Menschen umgehen. Liv und er hatten überlegt, ganz nach Narvik zu ziehen, um ihm den Arbeitsweg zu ersparen. Aber die Kleine fühlte sich wohl in der schönen Umgebung von Å, wo sie ihre Freundinnen hatte, mit den anderen auf Entdeckungsreise ging und ein schönes Zimmer bewohnte, von dem man aus an guten Tagen weit aufs Meer hinaus sehen konnte. „Lass uns noch warten“, hatte Liv ihn gebeten, „die Kindheit geht so schnell vorbei.“. Wenn Lotta die Grundschule beendet haben würde, mussten sie ohnehin eine Entscheidung treffen, denn eine weiterführende Schule gab es im Ort nicht. Die Stollenreifen drehten auf dem harten Schnee etwas durch, als der Volvo anfuhr. Lotta wischte mit dem Wollhandschuh ein kleines Guckloch in die beschlagene Scheibe. Das Haus des Nachbarn war ganz dunkel.
Im Bereitschaftsraum des Seenotstützpunktes in Bodø lief der Fernseher. Sersjant Einar Olafson wippte mit den Füßen und ertappte sich dabei, alle 30 Sekunden das Programm zu wechseln. Er hasste diese Tage. Es war jetzt das zweite Jahr in Folge, dass er über Weihnachten Dienst schob. Seine Freundin Sarah hatte ungläubig mit den Augen gerollt, als er ihr beichtete, dass der Stützpunktchef, ein Oberst mit Wohlstandsbauch, der im Augenblick daheim in Ålesund bestimmt schon ergriffen mit der Familie um den Christbaum stand, ihn eingeteilt hatte. „Mann, Olafson, seien Sie Kamerad und denken an die Familienväter. Eines Tages profitieren Sie auch von dieser Regelung!“. „ Idiot“, hatte er gedacht und sich mit, „Na, dann schöne Weihnachten Herr Oberst und Gruß an die werte Familie!“, abgemeldet. Er würde sich nochmal um Kopf und Kragen reden mit seinem provokanten Unterton, hatte Løytnant Thomssen hinterher zu ihm gesagt. Martin war Co-Pilot und zusammen mit Kaptein Henrik Everson flogen sie jetzt schon seit 2 Jahren zusammen mit dem Sea King. Olafson legte die Fernbedienung weg und blätterte in einer alten Sportzeitschrift. „TV Norge“ brachte eine Unterhaltungsshow. Ein Fernsehballett tanzte im Reigen um ein Gespann aus Pappmacheelchen und einem mit Geschenken überladenden Schlitten. Ein als Weihnachtsmann verkleideter Schlagersänger begeisterte das Publikum mit weihnachtlichen Klängen. „Das haben die schon im Sommer aufgenommen“, grinste Martin. Der Løytnant war mit seinen 28 Jahren ein erfahrener Hubschrauberführer. Er hatte sich vor 3 Jahren zur 330. Squadron der norwegischen Luftwaffe gemeldet, einem Verband, der ,auf mehrere Stützpunkte verteilt, die Marine dabei unterstütze, ihren Auftrag der Küstenüberwachung und Seenotrettung zu erfüllen. Einar mochte ihn. Seine schlaksige Figur stand in krassem Gegensatz zu seiner eigenen hünenhaften Erscheinung, fast sah er aus wie ein Wikinger mit seinem wilden Bart und dem blonden Haarschopf, der kaum in den Helm passte. Als Kaptein Henrik Eversen ihn damals in der Kantine des Hauptstützpunktes in Sola im Süden Norwegens getroffen hatte, hatte er Einar angesehen und gesagt: „So einen Kerl wie Dich könnte ich auf meinem Hubschrauber in Bodø noch brauchen. Du siehst aus, als könntest Du was aushalten, Mann!“ Einar hatte kurz von seinem Teller aufgesehen, den Hauptmann gemustert und dann ein bärbeißiges „Check!“, von sich gegeben. Damals war er auf der Suche nach einem Posten im Norden gewesen, um näher bei Sarah sein zu können. Die hellen wachen Augen des Offiziers hatten ihm gefallen, außerdem war Eversen als Spitzenpilot bekannt in der 330. Man sagte, er sei ruhig und gelassen, aber gehe immer bis zum äußersten, wenn es um Menschen in Seenot ginge. Einar lehnte sich auf der alten Kunstledercouch zurück und schloss die Augen. Erst 17:30 Uhr.
Die Maschine der Daug geriet ins Stocken und erstarb, als der letzte Tropfen Diesel durch die Pumpe gelaufen war. Langsam verlor das Boot an Geschwindigkeit. Es war stockdunkel. Noch plätscherten die kleinen Wellen, die der Bug in der Gleitfahrt verursachte, zaghaft an ihrem Rumpf. Dann wurde es still. Ole senkte den Kopf. „Hier also...“ Er löste die verkrampften Finger vom Steuerrad und atmete tief durch. Ein guter Ort. Er verließ den Führerstand, der Kutter senkte sich leicht zur Seite, als er nach vorne zum Bug ging und sich langsam auf dem Vorderdeck zu Boden ließ. Ole zog die dicke Winterseejacke aus und schloss die Augen. „Jetzt kannst Du mich holen, alter Troll“, dachte er, und wie zur Antwort spürte er in die Windstille hinein einen Luftzug im Gesicht. Der Sjøtroll erwachte.
In der kleinen Kirche war es wie immer an Weihnachten brechend voll. Um 6 Uhr abends hatte die etwas blechern klingende kleine Glocke im hölzernen Kirchtürmchen den Julaften, den Heiligen Abend, eingeläutet. Der Gemeindepfarrer war aus Reine, dem nächst größeren Ort angereist, weil Å sich keinen eigenen Priester mehr leisten konnte. Die Kerzen brannten und verliehen der kleinen Holzkirche einen besonderen Glanz. Lotta war ein wenig schlecht vom Weihrauch geworden, aber die Mutter drückte ihr beruhigend die Hand. Der Organist spielte voller Inbrunst Deilig er Jorden, das wohl bekannteste norwegische Weihnachtslied, und die ganze Gemeinde sang mit. Nachher würden sie nach Hause kommen und gemeinsam das Weihnachtsessen genießen. Das Mädchen freute sich jedes Jahr ums Neue auf den Lutefisk, der so viel Arbeit machte, dass es ihn nur zu Weihnachten gab. Bis zu 2 Wochen wurde der Kabeljau gewässert, in Natronlauge eingeweicht und schließlich im Backofen zubereitet. Bevor es ans Auspacken der Geschenke ging, würden sie im Kreis um den Weihnachtsbaum herumgehen und Lieder singen. Lotta hatte für die Eltern extra ein Stück auf der Blockflöte einstudiert und war etwas aufgeregt bei dem Gedanken, sich dabei zu verspielen. „Gebt einander als Zeichen des Friedens die Hände“, sagte der Pfarrer und die Menschen wünschten sich „ God Jul!“, während sie sich draußen vor der Kirche herzlich umarmten, auf die Schultern klopften und die Hände schüttelten. Die Männer lachten dröhnend voller Vorfreude auf das Juløl, das traditionelle Weihnachtsbier. Hier kannte wirklich jeder jeden und so war es auch in diesem Jahr nichts Besonderes, dass nicht alle die Weihnachtsmesse besuchten. Dazu gehörte auch der einsame Fischer, der seit dem schrecklichen Unfall seiner Familie nicht mehr in die Kirche kam. Die ganze Gemeinde war damals tief betroffen und viele wollten Ole Svenson zur Seite stehen, sein Leid mit ihm teilen und ihm Kraft im Glauben spenden. Bei solch schweren Schicksalsschlägen musste man zusammenhalten. Aber der Fischer schien wie erstarrt. „Wenn Gott so etwas zulässt, dann will ich nichts mehr von ihm wissen“, hatte er damals noch gesagt und war dann nahezu verstummt. Nachbarn, die versuchten ihn aufzumuntern, wies er schroff ab und redete im Ort nur das Nötigste, wenn er Lebensmittel kaufte oder den Kutter betankte. Der alte Tankwart Sjøren Lund war schließlich der Einzige, der noch etwas von ihm wusste. Svenson machte überlange Fahrten mit der Daug und verkaufte seinen Fang nahezu wortlos an den kleinen Fischereibetrieb im Ort. Dann ging er nach Hause und saß oft regungslos an dem großen Holztisch an dem er einst mit Frau und Tochter gesessen hatte. Ging man abends an seinem Haus vorbei, beschlich einen immer ein Gefühl der Bedrückung, wenn man ihn vor sich hinstarrend durch das erleuchtete Fenster sah. Bald begannen die Leute einen Bogen um ihn zu machen, helfen konnten sie ja doch nicht, er hatte sich entschieden, so zu leben.
Zu den größten Irrtümern gehört die Ansicht, dass Alkohol bei Kälte aufwärmen würde. Im Gegenteil kommt es durch die Weitstellung von Gefäßen zu einem massiven Wärmeverlust über die Haut. So mancher Obdachloser hatte diesen Effekt schon mit dem Leben bezahlt, war nachts erfroren. Ole Svenson wusste, was er tat, als er die Rumflasche ansetzte. Er hatte lange darüber nachgedacht, wie er es tun könnte. Er sehnte sich nach Frieden, ohne diese quälenden Erinnerungen, die ihn jeden Tag befielen, wenn er nach getaner Arbeit allein in dem Haus saß, dass ihm einst ein Heim war, an Weihnachten jedoch wurde es unerträglich. Er hatte Mathilda kurz nach dem Tod seines Vaters in Trondheim kennen gelernt, als er auf der Suche nach einem Boot war. Ihre erste Begegnung war alles andere als romantisch. Er war mit seinem rostigen Renault-Transporter, der einen gewissen Fischgeruch angenommen hatte, geradeauf dem Weg zu einem Kerl namens Johanssen, der ihm einen gebrauchten Kutter zu einem guten Preis versprochen hatte, als ihm ein bunt bemalter alter VW-Käfer glatt die Vorfahrt nahm . Es war nicht die Beule in seinem linken Kotflügel, die ihn wortlos neben seinem Wagen stehen ließ. Es war die Unverfrorenheit der Fahrerin, die schimpfend aus dem Wagen gesprungen war und ihm Rücksichtslosigkeit, fehlende Übersicht und Rowdytum vorwarf. Er hatte sie nur angesehen, wie sie mit ihren grün funkelnden Augen vor ihm stand, ein kleines Energiebündel mit wildem rötlich schimmerndem Haar und zu vielen Sommersprossen, zierlich, fast drahtig wirkend. Sie hatte die kleinen Fäuste geballt und in die Hüften gestemmt, als er ihren Redeschwall einfach mit seiner dunklen Stimme unterbrach und besorgt fragte: „Hast Du Dir weh getan, kleine Wikingerfrau?“. Viel später hatte sie ihm erzählt, dass es dieser Satz war, mit dem er ihr unruhiges Herz berührt hatte. „Nein“, hatte sie noch sagen können, dann verstummte sie und sah ihn an. Das Meer blickte aus seinem Gesicht, die Haut schon damals von Wind und Wetter gezeichnet. Sie sah in klare Augen, die sie aufmerksam anblickten, sie fühlte seine starke Hand, die er sanft auf ihren Oberarm gelegt hatte, als wolle er sicher gehen, dass sie sich nichts gebrochen habe. Dann sagte sie leise: „Ich habe nicht aufgepasst, es tut mir leid. Ich werde für Ihren Schaden aufkommen, bitte geben sie mir ihre Telefonnummer“. Sie tauschten Adressen aus, aber Ole steckte ihren Zettel ohne ihn zu lesen nur in die Seitentasche seines tiefblauen Mantels und sagte, sie solle sich keine Sorgen um seine alte Fischerkiste machen, sondern in Zukunft besser aufpassen. Dann stieg er ein und machte sich auf den Weg zu diesem Johanssen. „Mein Name ist übrigens Mathilda!“, rief sie noch hinter ihm her, aber das hörte er schon nicht mehr.
Als die aktuellen 18:00 Uhr Wetterdaten auf dem Computermonitor angezeigt wurden, sah der Løytnant kurz auf und lächelte. Endlich kam etwas Wind auf, in 1 bis 2 Stunden würde die graue Wolkendecke aufreißen und vielleicht sogar den Blick auf den Vollmond freigeben. Der Rettungshubschrauber vom Typ Sikorsky Westland Sea King war zwar mit Radar und starken Suchscheinwerfern ausgerüstet, aber Mondlicht half ungemein bei der Suche nach Schiffbrüchigen. Thomssen wandte sich dem PC erneut zu und rief die Übersicht über die Schiffsbewegungen für den Sektor, der der Luftrettung in Bodø zugewiesen war, auf. Die Daten wurden von der Zentrale in Sola bereitgestellt und ständig aktualisiert. Es war wenig los da draußen. „Ich geh mal Kristian wecken“, brummte Erikson, wenig bemüht, seine schlechte Laune zu verbergen. „Wir sollten was essen“. Korporal Kristian Hansen war noch recht neu in der Crew, wenn Erikson hinunter musste, war es sein Job, die Winch zu bedienen und die Geborgenen an Bord zu versorgen. Er war 25 und seit 3 Jahren bei der 330. Squadron. Das Abenteuer und die gute Ausbildung hatten ihn gelockt, als er damals den Hof des Vaters verließ und sich bei der Luftwaffe bewarb. Die theoretischen Tests hatte er gerade so bestanden, aber was ihm lag, war alles, was mit körperlicher Anstrengung verbunden war. Täglich trainierte er an Gewichten, was Erikson, der von Natur aus überaus muskulös war, nur zu einem müden Lächeln hinriss. „ Steh auf Kleiner“, sagte er unsanft, „wir machen gleich die Tiefkühlpizza klar“. Der Gedanke daran, dass jetzt alle anderen den Weihnachtsschmaus mit Juløl hinunterspülten verbesserte nicht eben seine Laune. „Komm ja schon“ murmelte Hansen und drehte sich nochmal auf die Seite.
Das Haus des Nachbarn war immer noch stockdunkel, als die Solbergs daran vorbei fuhren. Lotta hatte das kleine Päckchen nicht vergessen. Sie hatte ein Bild von einem Tannenbaum gemalt und God Jul darauf gekritzelt. Sie war ganz stolz, schon ein paar Buchstaben zu können, die ihr die Mutter gezeigt hatte. Von ihrem Ersparten hatte sie eine kleine Dose im Laden an der Ecke im Dorf gekauft und ein paar selbst gebackene Plätzchen hinein gelegt. Auf der Dose waren braune Elche und grüne Tannen zu sehen. „Schön hast du das gemacht“, hatte die Mutter gesagt. „Er freut sich bestimmt, auch wenn er es nicht so zeigen kann“. Bei dem Gedanken selbst einmal in die Situation zu gelangen, die eigene Tochter zu verlieren, krampfte ihr Herz, sie konnte den Fischer gut verstehen. „Wir müssen anhalten, damit ich das Geschenk abgeben kann!“, erinnerte Lotta den Vater laut. „ Mach aber schnell Lotta“, sagte er und setzte zurück. Die Kleine stiefelte durch den am Vormittag gefallenen Schnee, kein anderer Fußabdruck war zu sehen. Sie blieb an der Haustür stehen und klingelte, während die Eltern im Auto warteten, aber niemand öffnete. „Komm Lotta, wir wollen nach Hause!“, rief die Mutter durch die geöffnete Autotür. Das Mädchen seufzte. Schade, wie gerne hätte sie das Gesicht des Fischers gesehen, wenn er die Tür geöffnet hätte und das Päckchen gesehen hätte. Sie hatte sich gerade umgedreht, als sie die kleine braune Katze bemerkte, die sich zitternd um ihre Knie wand und kläglich miaute. Sie gehörte Ole Svenson.
Der Wind hatte aufgefrischt, die Nacht wurde kalt. Wolkenfetzen lösten sich aus der grauen Decke und ließen ein paar Sterne funkeln. Die Daug war ein wenig ins Schaukeln geraten. Ole hatte seinen Mantel ausgezogen, die Flasche Rum war halb leer. Die Kälte kroch in ihm hoch und er begann zu zittern. Gegen seinen Willen schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit zurück, er vergrub die Hände in seinem Haar. Warum konnte er nicht endlich aufhören zu denken? Eine Woche später hatte sie an seiner Haustüre in Å i Lofoten geklingelt. „Hier also wohnen sie!“, hatte sie lächelnd gesagt, aber es klang schon wieder wie ein Vorwurf. Immerhin hatte sie den ganzen kurvigen Weg von Trondheim mit dem alten Käfer zurückgelegt. „Ich bin ihnen doch noch das Geld für die Reparatur schuldig“, meinte sie mit einem spitzbübischen Augenaufschlag. Nun, Ole Svenson war kein Mann mit viel Erfahrung was Frauen anging, da war mal ein Mädchen auf der Schule gewesen, die er hatte küssen wollen, aber sie knallte ihm eine und fuhr dann mit dem Rad einfach weg. Da ließ man lieber die Finger davon. Im Augenblick stand er in der Türe und schaute sie verunsichert an, bis sie sich erkundigte, wo denn seine Manieren geblieben wären, und ob er sie denn nicht endlich hineinbitten wolle. Matthilda Strøm studierte in Trondheim Biologie, was sie schon als kleines Mädchen wollte und es gegen den Willen der Eltern durchgesetzt hatte. Diese hatten sich eine Banklehre für Ihre Tochter vorgestellt. Also verdiente sie sich das Studium mit Aushilfsjobs als Kellnerin bis spät in die Nacht in einem Szenecafe am Hafen und saß morgens übermüdet in den Vorlesungen. Sie bewohnte nur ein kleines Zimmer nicht unweit von der Universität, für das sie viel zu viel Miete zahlte. Matthilda wusste, was sie wollte und was nicht. Und sie wollte diesen Fischer von den wilden Inseln unbedingt wiedersehen.
Lotta stieg ins Auto, die Katze auf dem Arm. „Warum lässt dieser Kerl das Kätzchen einfach im Schnee zurück und macht nicht auf?“, dachte sie. Fredrik Solberg startete den Volvo und verließ den Hof des Nachbarn. „Wir nehmen das arme kleine Kätzchen mit“, hatte Liv entschieden und heftiges Nicken bei Lotta geerntet. Als sie daheim im Flur schweigend die Mäntel auszogen und die Katze schnell zum Ofen lief, um sich dort zu wärmen, war allen dreien komisch zu Mute. Liv brach das Schweigen. „Denkt ihr auch, dass irgendwas nicht stimmt da drüben, fragte sie?“ Fredrick nickte langsam und mit düsterem Blick. „Wenn du mich fragst, dann stimmt da drüben ganz gewaltig etwas nicht,“ murmelte er. Nach dem Verkehrsunfall hatte sich Svenson sehr zurückgezogen, das war klar. Auch dass er an Heiligabend besonders litt, wusste man, war es doch der Tag des Unfalls gewesen. Aber um seine Katzen hatte sich der verbitterte Mann immer besonders gekümmert. An diesem Heiligabend aber muss die Kleine über Stunden zitternd im Schnee gesessen haben und niemand regte sich. „Es gibt da noch etwas“, sagte er mit leiser Stimme. „Sein uralter Renault ist weg und seit dem Morgen gab es keine Abdrücke im Schnee“. Es schien, als sei Ole Svenson von der Bildfläche verschwunden.
Als sie sich das erste Mal küssten, glaubte der Fischer, sein Herz bleibe stehen, so zart war die Berührung ihrer Lippen. So unterschiedlich sie waren, Matthilda und Ole liebten sich von diesem Moment an, und das blieb so bis zu jenem Tag, der alles zerstörte. Zwar hatte Matthilda noch ihr Studium in Trondheim beendet, aber ihre wahre Liebe zur Natur entdeckte sie, als danach in das blaue Holzhaus zu ihrem großen Fischer zog. In der kleinen Kirche auf der Anhöhe gaben sie sich das Jawort, und es schien ihnen kaum möglich, größeres Glück zu empfinden, bis zu dem Augenblick, als Ole in seinen groben Händen das Baby hielt, dass ihm seine Frau unter großen Schmerzen schenkte. Es war schlimm, als sie hörten, dass Matthilda danach keine Kinder mehr bekommen solle, zu groß wäre das Risiko. Aber die kleine Ida wuchs und gedieh und nahm ohnehin ihrer beider Aufmerksamkeit voll in Anspruch. Ole hatte den Halsabschneider in Trondheim kräftig bearbeitet, bis dieser mit dem Preis herunter ging und den Kutter an ihn verkaufte. Ole Svenson war nicht nur ein guter Fischer, sondern auch ein guter Mechaniker und Bootskenner. Er überholte den in die Jahre gekommenen Kutter von Grund auf, wusste er doch, dass die Bauweise des Bootes und sein Holz von hoher Qualität waren. Sein Vater wäre stolz auf ihn gewesen, wenngleich der starke Schiffsmotor der Daug immer wieder etwas Öl verlor. Der Fischer schaute in den Himmel. Der Wind hatte die Wolkendecke vollends zerrissen.
„Lasst mich kurz zum Hafen fahren“, schlug Fredrik Solberg vor und wartete die Antwort nicht ab, sondern sprang auf und zog den dicken Mantel an. Unruhe hatte ihn überkommen, er wollte wissen, was los war. Als er den Hafen erreichte, brannte noch Licht im Wärterhäuschen neben der Zapfsäule für den Schiffsdiesel. Sjøren Lund war zwar schon 76 und etwas langsam geworden, aber die Bootsbesitzer hatten keine Eile und das Alter des Tankwarts sorgte dafür, dass er die besten Geschichten kannte. „Sjøren, du alter Fischkopf, was machst Du denn hier am Heiligen Abend?“, fragte Fredrik überrascht. Der Alte sah mit seinen Glupschaugen und den eingefallenen Wangen wirklich ein wenig aus wie ein getrockneter Kabeljau, ganz so als hätten die vielen gefangenen Fische seine Erscheinung beeinflusst. „Kleiner, das müsste ich dich eher fragen!“ krächzte er und wühlte weiter unbeirrt in einem Karton voller Tank-Quittungen. Er kannte Fredrik schon von Kindesbeinen an, so wie er nahezu alle im Ort von Kindesbeinen an kannte. „Mach, dass Du zu Frau und Kind kommst in die warme Stube und lass mich in Ruhe, ich hab zu tun und bei mir wartet keiner“. Er ignorierte, dass sein Besucher stattdessen hereinkam und ihn fragte, wonach er eigentlich suche. „Ich hab ihn!“, sagte er plötzlich und zog einen Beleg aus der Masse hervor. Er hob ihn im Schein der trüben Schirmlampe hoch und betrachtete den Zettel eingehend. „Hier steht`s“, quetschte er hervor. „Der Kerl hat vor 4 Tagen das letzte Mal getankt und ist danach noch 2mal für ein paar Stunden auf See gewesen. So steht`s nämlich im Hafenbuch, in das sich jeder eintragen muss, wenn er rausfährt und wieder reinkommt“. „Und…?“, fragte Fredrik, der bereits ahnte, was der alte Mann ihm sagen wollte. „Nun“, antwortete er. „Ich frage mich gerade, warum einer nochmal rausfährt obwohl er kaum noch Treibstoff hat und sich im Hafenbuch nicht mal austrägt!“
Ole Svenson hatte aufgehört zu frieren. Fast schien es, als würden Arme und Beine ihm nicht mehr gehören. Unter dem klaren Himmel hatte das Meer seine schützende Decke verloren und strahlte das bisschen Wärme, was die wolkenverhangene Sonne der letzten Tage ausgestrahlt hatte, in den Weltraum ab. Binnen kurzem war so die Temperatur um mehr als 10 Grad gesunken. Der Kutter lag jetzt wieder still. „Hol mich endlich“, presste der Fischer zwischen den erstarrten Lippen hervor, aber stattdessen drängten sich noch einmal die schlimmsten Erinnerungen in seine bewusste Wahrnehmung. An jenem Heiligabend vor 12 Jahren hatte der Motor der Daug gestreikt. Bereits am frühen Morgen war dem Fischer klar, dass ein Simmerring defekt war. „Liebling, ich muss nach Reine, ein Ersatzteil holen, ich bin in ungefähr 3 Stunden zurück“. „Nichts da!“, erwiderte Matthilda, „Das mache ich, dann kannst du den Baum aufstellen“. Ole zögerte. Als hätte sie seine Gedanken erraten, fügte sie hinzu, er solle ihr das Ersatzteil einfach auf einen Zettel schreiben. „ Ich nehme die Kleine mit, dann kannst Du hier alles ungestört vorbereiten“. Ole küsste die beiden zart zum Abschied, nicht ahnend, dass es der letzte Kuss im Leben von Matthilda und Ida Svenson war.
Sie standen vor dem Liegeplatz der Daug. Kein Zweifel, das Boot war nicht da, aber dafür der alte Renault-Transporter. „ Warum fährt einer ohne Sprit raus und verheimlicht es noch?“, wiederholte Fredrik die Frage des Alten. „Kapierst du`s nicht?“ Die Glupschaugen des Tankwartes, wurden erstaunlich schmal. „Da will einer aufhören zu denken“. Und Fredrik Solberg wusste, was der Alte damit meinte.
Das rote Notfalltelefon verband die zentrale Alarmierungsstelle in Sole mit dem Stützpunkt in Bodø. Um 19:53 unterbrach sein durchdringendes Klingeln das einfallslose Weihnachtsessen der Crew, die ihrem Hubschrauber irgendwann vor einem Jahr in einer Männerschweiß geschwängerten Kneipenatmosphäre den Spitzennamen „Thor“ gegeben hatte. Kaptein Henrik Eversen hob den Hörer ab, klemmte ihn zwischen Wangenknochen und Schulter und begann mitzuschreiben. Die anderen hatten aufgehört zu kauen und begannen die Reißverschlüsse ihrer orange-roten Overalls leise hochzuziehen. „Jawohl“, „Okay!“, „Wie soll ich das verstehen?“ und „Sind sie sicher?“ hörten sie ihren Piloten sagen. Sie ahnten nichts Gutes, als dieser mit den Worten „Wir geben unser Bestes!“, den Hörer auflegte. Eversen wandte sich um. „Das wird eine lange Nacht Männer, eine Suche ohne jede Aussicht auf Erfolg“. „Egal, Kaptein, die Pizza ist jetzt eh kalt…“ Einar Olafson zog seinen Overall endgültig zu und griff nach seinem Survivalsuit.
Fredrik Solberg hatte den Alten kurzerhand in den Wagen verfrachtet und war mit ihm nach Hause gefahren. Sie saßen am großen Esstisch, aber statt den Lutefisk zu genießen, debattierten sie, was zu tun sei, um den Fischer zu finden. Lotta malte derweil mit ihren Buntstiften nahezu im Akkord Sonnenblumenbilder, die sie dem Fischer schenken wolle, falls er wiederkäme. Plötzlich starrte ihr Vater sie an. „Mal den Kreis nochmal, Lotta!“ Die kleine tat wie ihr geheißen, als sich Fredrik mir der flachen Hand gegen die Stirn schlug. „Ich weiß jetzt, welche Information wir den Piloten geben müssen“.
Fast zeitgleich mit der Besatzung hatte die zentrale Leitstelle das diensthabende Bodenpersonal des Stützpunktes alarmiert. Im gleißenden Licht der Deckenscheinwerfer war der Sea King bereits aus der beheizten Halle gezogen worden. Die großen Rotorblätter wurden entfaltet, während Pilot und Co-Pilot den äußeren Sicherheitscheck durchführten. Derweil bestiegen Olafson und Hansen die Maschine und überprüften nochmals die Einsatzbereitschaft der Winch und des medizinischen Gerätes. Der Sea King war ausgelegt, bis zu 19 Personen an Bord zu versorgen. Die Männer agierten jetzt schweigend und nach einer inneren Checkliste, nichts durfte dem Zufall überlassen werden. Die beiden Offiziere begannen den Cockpit Check und meldeten sich kurz darauf bei der Leitstelle und beim Tower in Bodø über Funk an. „ SAR 520 ready for take off“. „SAR 520, wir haben neue Suchkriterien für sie, der Kutter hatte nicht genügend Treibstoff an Bord, er ist heute Nachmittag irgendwann von Å i Lofoten aus in See gestochen. Maximale Reichweite 20 SM vor der Küste, vermuteter Kurs nach Süden, Viel Glück!“ Kaptein Erikson wusste, was zu tun war, während er die beiden 1600 PS starken Rolls Royce-Turbinen anließ. „Männer wir fliegen zunächst nordwestlich auf die Südspitze der Lofoten zu, 25 SM davor fliegen wir einen Zirkel mäanderförmig ab und verringern dabei den Radius. Martin, Du zeichnest mir ein Suchmuster auf die Karte und gibst mir die Anweisungen für die Wendemanöver. Wir suchen mit System. Nach spätestens 5 Stunden müssen wir zurück zum Tanken. Fragen?“ Es gab keine.
Fredrik Solberg und der alte Lund hatten wie wild gerechnet. Der Tankwart wusste aufgrund seiner jahrelangen Tätigkeit, die Tankgrößen der Fischkutter jedes einzelnen Fischers auswendig, hatte eine Idee von deren Verbrauch pro Stunde und kannte die Fanggründe der Fischer aus ihren Berichten. Im Falle Svensons gab es viele Unbekannte. Wie viele Stunden war der Fischer an den Tagen zuvor tatsächlich gefahren? Da er aber einen Fang mitgebracht hatte und auf die Frage des Tankwarts, wo er gefischt habe, nur ein kurzes „Wie immer“ übrig hatte, konnten sie eine Schätzung durchführen. Alles in allem kamen sie zu dem Schluss, dass Svenson Treibstoff für maximal 20SM haben musste. Die Leitstelle in Sola war dankbar für diesen Hinweis, zumal an diesem Heiligabend keine Schiffe in der Region unterwegs waren, die bei der Suche unterstützen konnten. „Werden sie ihn finden?“ fragte Lotta traurig. „Bestimmt“, sagte der Vater und glaubte nicht, was er sagte.
Niemand hatte mit dem Eisregen gerechnet. Auch nicht der Fahrer des Tankwagens, der sich beeilte, aus Reine noch rechtzeitig vor dem Heiligen Abend die Tankstelle in Å zu beliefern. Die späteren Ermittlungen ergaben, dass er etwas zu schnell in die enge Rechtskurve gegangen war, als der Laster ausbrach. Der in diesem Augenblick entgegenkommende Fiat Panda hatte keine Chance. Der frontale Aufprall war so schwer und die Gewichte der beiden Fahrzeuge so verschieden, dass der Kleinwagen fast völlig zerquetscht wurde. Die beiden Insassen, eine junge Frau und ein Kleinkind, mussten sofort tot gewesen sein. Man konnte sie aber anhand der gefunden Papiere identifizieren. Als der Polizeiwagen Stunden später vor dem blauen Holzhaus stand, hörten die Nachbarn einen langen, tiefen quälenden Schrei. Es war der Tag an dem Ole Svenson begann, langsam zu sterben.
Der Thor jagte mit mehr als 200 km/h in nur 100 m Höhe über die glatte See, die rot bemalte Nase nach Nordwesten gerichtet, die Suchscheinwerfer in einem Winkel von 90 Grad ausgerichtet. Routiniert suchten die Augen der beiden Luftretter die Wasseroberfläche ab. Sie wussten, dass es sich um jemanden handelte, der möglicherweise nicht gefunden werden wollte, also keine Hoffnung auf Radarerfassung, Leuchtraketen oder Positionslampen. „Reisende sollte man nicht aufhalten“, dachte Einar kurz, und schämte sich sofort für diesen Gedanken. Wer wusste schon, was den Mann dazu getrieben haben mochte, zu verschwinden? Als hätte sie seine Gedanken erraten, meldete sich die Leitstelle wieder. „Zentrale an SAR 520, wir haben Informationen über die gesuchte Person. Name: Ole Svenson, 42 Jahre alt, alleinstehend. Hat vor 12 Jahren an Heiligabend Frau und Kind bei einem Verkehrsunfall verloren. Seitdem depressiv. Das Nachbarsmädchen hat entdeckt, dass er weg ist und die Familie hat uns alarmiert, von ihr auch die Suchinformationen. Seht zu, dass ihr den Mann findet, es ist Heiligabend. Wäre das schönste Geschenk für die Menschen in dem Kaff“. Erikson und die anderen nickten sich zu. Sie wussten, worauf es ankam.
Liv Solberg hatte einige Nachbarn angerufen in der Hoffnung, dass sie Svenson gesehen hatten. So sprach sich in Windeseile herum, was geschehen war. Und bald beschloss man, sich in der Kirche zu treffen, um für die Rettung des Fischers ein Gebet zu sprechen. Man klingelte an den Türen und alle Familien unterbrachen das Essen oder das Geschenke auspacken. Svenson mochte gewesen sein wie er wollte, er blieb einer von ihnen und ein Fischer, der nicht mehr wiederkam, traf alle ins Herz. Bald war die kleine Kirche so voll wie zur Christmette und selbst der Pfarrer aus Reine kam zurück, um mit dem Menschen zu beten. Man diskutierte, was geschehen sein möge, jemand hatte noch gesehen, wie Ole mit dem rostigen Renault am Nachmittag zum Hafen gefahren war, aber sich nichts dabei gedacht. Sie sprachen über den Unfall und wie lange der Fischer damals gebraucht hatte, um überhaupt wieder auf See zu gehen. Einige machten sich Vorwürfe, fragten sich, ob sie genug getan hätten, um ihn wieder in die Gemeinschaft zu führen, andere waren ärgerlich, dass Svenson jede Hilfe abgelehnt hatte. Aber alle wollten, dass er bald gefunden werde und schmiedeten Pläne, wie sie ihm gemeinsam helfen könnten, sein Leid zu bewältigen. Die kleine Lotta saß inmitten der Erwachsenen und drehte das kleine Paket in den Händen. „Papa, wo werden die Piloten ihn hinfliegen, wenn sie ihn finden?“ „Vermutlich ins Nordland Krankenhaus nach Bodø“, sagte der Vater. „Können wir hinfahren? Bitte! Ich will ihm doch das Geschenk geben!“. Fredrik nahm Lotta auf den Schoß. „Wenn sie ihn finden, machen wir das, meine Kleine. Das wird ihm helfen“.
Still und nur ein wenig schaukelnd lag die Daug, kleine Wellen klatschten leise an die Bordwand. Der Vollmond schien auf die reglose Gestalt am Bug des Kutters. Der Rum zeigte Wirkung, die Körpertemperatur des Fischers sank stetig, die Herzfrequenz nahm ab, der Kreislauf zentralisierte. Die Blutgefäße an Armen und Beinen hatten sich längst maximal zusammengezogen, um das Blut in die lebenswichtigen Organe zu bringen und Wärme zu sparen. Svensons Hände waren wachsweiß, seine Atmung wurde flacher. Wie im Nebel nahm er die Umgebung war, längst kein Kältegefühl mehr empfindend. „Wie schön es ist, nicht mehr erinnert zu werden“, dachte er noch, dann verlor er vollends das Bewusstsein.
Nach 30 Flugminuten hatte der stählerne Thor den Scheitelpunkt des Suchzirkels erreicht und flog in einer großen Linkskurve nach Süden. Die beiden Luftretter im Heck späten mit ihren Ferngläsern nach Westen und Osten, während die Piloten den Sektor vor sich absuchten. Da sie nicht mit Lichtern rechnen konnten, blieben sie in geringer Höhe über dem Meer. Das Mondlicht warf goldene Schatten über die leicht gekräuselte See, eigentlich optimale Lichtverhältnisse für eine Nachtsuche. Das Problem lag in der Größe des Gebietes und den unsicheren Angaben. Was, wenn die Daug nach Norden gefahren war? Der Sea King war für eine Reichweite von 1200 km ausgelegt, den Treibstoffverbrauch für Rettungsmanöver nicht inbegriffen. Vielleicht war der Fischer ins kalte Wasser gesprungen, dann war er bereits tot und unauffindbar. Es war jetzt fast 21:00 Uhr, der Løytnant berechnete ständig den Kurs, den der bogenförmige Suchmodus verlangte. Jetzt umflogen sie bereits die Südspitze der Lofoten, nach Westen aufs freie Meer hinaus, sich dann wieder nach Norden richtend. Nach 1 Stunde war der 25SM Radius abgeflogen, ohne eine einzige Spur. Eversen entschied den nächsten Radius wegen der klaren Sicht auf 20sm zu reduzieren. Er rechnete nicht damit, Erfolg zu haben. Er verdrängte den Gedanken, jemanden suchen zu müssen, der womöglich gar nicht gefunden werden wollte.
„Wir melden uns, wenn wir mehr wissen“, sagte der diensthabende Offizier der Leitstelle. Fredrik Solberg hatte jetzt schon zwei Mal angerufen, um zu erfahren, ob der Fischer gefunden wurde. Immerhin hatte er herausbekommen, dass die Crew den Gesuchten auf jeden Fall zurück nach Bodø fliegen würde. Nachbar Gustavson hatte sich schon bereit erklärt, sein Touristenboot zur Verfügung zu stellen, um eine Abordnung ins Krankenhaus zu fahren, der Landweg wäre zu lang gewesen. Ein Cousin von ihm hatte auf dem Festland ein kleines Busunternehmen, mit dem sie die Fremden auf die Lofoten brachten. Damit war bereits für den Weitertransport der Gruppe ins Nordlandkrankenhaus gesorgt. Aber der Fischer war noch immer nicht gefunden. In der Kirche wurde es langsam stiller, ein paar gingen nach Hause, die übrigen verharrten und dösten vor sich hin. Lotta war auf dem Schoß des Vaters eingeschlafen, aber als Liv sie heimbringen wollte, weigerte sie sich strikt. Es wurde spät und mit jeder Minute sank die Hoffnung.
Korporal Hansen ertappte sich dabei, wie seine Lider langsam schwer wurden, das ständige angestrengte Starren auf die glitzerende Wasserfläche zollte Tribut. „Gib mal Kaffee“, sagte er knapp zu Einar, der ihm die Thermoskanne wortlos hinüberreichte. Sie waren jetzt fast 4 Stunden in der Luft, immer enger werdende Zirkel fliegend. Aber es war keine Spur von dem Kutter zu entdecken.“Nachher hat er den Kahn versenkt“, durchfuhr ihn ein Verdacht. Wie mochte es sein, am Heiligabend Frau und Kind zu verlieren? Er kannte den Mann nicht, aber er empfand in dieser besonderen Nacht plötzlich eine tiefe Verbundenheit zu dem Unbekannten, der immerhin 12 Jahre so gelitten haben musste, dass er es nicht mehr aushielt. Es knackte im Headset des Helmes. „Das war`s Männer, wir drehen um, der Sprit wird knapp. Und wir wollen keine nassen Füße bekommen“.
Es war genau 01:15, erster Weihnachtsfeiertag, als Thor Kurs auf den Stützpunkt nahm. Sie hatten das möglichste getan und die eigene Sicherheit ging vor. Sie würden auftanken und eine andere Crew würde die Suche fortsetzen. Einar rieb sich die Augen und lehnte sich in seinem Spezialsitz zurück. Verdammt, alles umsonst. Es war wohl mehr der Zufall, dass er sich vorbeugte, um noch einmal den Sternenhimmel zu betrachten, als suche er Trost in dieser unendlichen Weite. Zunächst erschien es ihm wie ein Schimmern am Himmel, genug um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Aber dann wurde es ihm schlagartig klar. Nordlicht! „Kaptein!“, rief er ins Helmmikro. „Gleich wird es Licht in der Nacht! Nordlicht! Wir haben noch 30 Minuten Reserve, bitte lassen sie uns noch einen kleinen Kreisel fliegen. „Sersjant, ich verstehe sie, aber ich bin für unsere Sicherheit verantwortlich, wir fliegen heim“. Eversen sah nach rechts. Wenigsten 15 Minuten, bedeutete ihm da der Løytnant in Zeichensprache. „Okay Leute, noch 15 Minuten, aber keine Minute länger, sonst müssen wir schwimmen“. Er wusste, dass der Sea King fähig war, notzuwassern, aber das durfte er nicht riskieren.
Olaf Svenson verspürte plötzlich tiefe Glückseligkeit, gleißendes Licht umfing ihn und er hatte das Gefühl, zu schweben. So war es also zu sterben, gar nicht dunkel, sondern leicht und hell. Er versuchte die Augen zu öffnen, eine entfernte Stimme rief seinen Namen. „Ole Svenson, können sie mich verstehen?“. Der Fischer erkannte schemenhaft eine Gestalt über sich und fühlte auf einmal, wie er in die Höhe gezogen wurde. Sein Blick wurde klarer und er erkannte einen roten Helm auf dem in großen weißen Buchstaben SAR stand. „Darf ich mich vorstellen, Sersjant Einar Erikson, 330. Squadron, norwegische Luftwaffe. Wir holen sie jetzt an Bord und fliegen sie ins Krankenhaus!“, war das letzte, was er hörte, dann verlor er wieder das Bewusstsein.
Das Polarlicht hatte das Meer mit einem grünlichen Schimmer überzogen. Erikson hatte nochmal alle seine Sinne geschärft, er wusste, es war die letzte Chance, den Mann zu retten. Und dann schien es ihm, als hätten die wechselnden Lichtspiele für eine Sekunde einen Bootsrumpf angeleuchtet. „Vermutlicher Sichtkontakt auf 9 Uhr, geschätzte Entfernung etwa eine halbe SM!“. Im gleichen Augenblick zog der Kaptein den riesigen Rettungshubschrauber nach links, die Suchscheinwerfer strahlten das Meer fast taghell an. „SAR 520 an Leitstelle! Sichtkontakt auf gesuchten Kutter. Leblose Person an Bord sichtbar, leiten jetzt Bergung ein!“.
Fredrik Solberg war selbst eingeschlafen, als das Handy anging. „Ich habe eine gute Nachricht zu Weihnachten für sie. Wir haben ihren Mann gefunden, er lebt und befindet sich auf dem Weg ins Nordlandkrankenhaus. Frohe Weihnachten!“ „Ja, frohe Weihnachten auch für Sie und ihre Leute, von ganzem Herzen!“ „Sie haben ihn, lebend!“, rief er in die Kirche und der Jubel der Wachgebliebenen weckte all die anderen, die ausgeharrt hatten. Der Pfarrer rannte in die Sakristei und die blechern klingende Glocke bimmelte die frohe Botschaft von der kleinen Anhöhe über den ganzen Ort. Überall gingen die Lichter in den Häusern an, die Menschen lachten, klopften sich auf die Schultern und Nachbar Gustavson knurrte erleichtert: „Lasst uns losfahren und den Mistkerl besuchen. Er hat mich um mein Juløl gebracht, das wird er mir büßen“. Und er wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.
Ole Svenson wurde noch von der Notaufnahme direkt auf die Intensivstation des Nordlandkrankenhauses verlegt. Seine Körpertemperatur betrug 28 Grad, seine Vitalfunktionen waren nahezu zum Erliegen gekommen. Bereits im Hubschrauber war er durch eine Spezialdecke vorsichtig angewärmt worden, was ihm vermutlich das Leben rettete. Bereits 7 Stunden später kam er zu Bewusstsein. Als er die Augen aufschlug fragte er: „Welcher verdammte Idiot hat mich gerettet?“
Es war still im Krankenzimmer. Die Abordnung aus Bodø blickte verlegen zu Boden. Ole Svenson starrte an die Decke. „Ich hab euch nicht gebeten, herzukommen“, knurrte er kalt. „Ich hab auch keinen gebeten, mich zu retten. „Ich wollte nur meine Ruhe, endlich Ruhe.“ Niemand wusste darauf zu antworten. Lotta hatte Tränen in den Augen. Wie konnte jemand so etwas sagen? Auf einmal spürte sie Wut in sich hochsteigen, die Tränen liefen ihre Wangen hinunter und sie stampfte mit dem Fuß auf. „Du böser Mann!“, rief sie. „Du hast einfach deine Katze im Schnee zurückgelassen, das macht man nicht. Wenn ich sie nicht gefunden hätte, dann wäre sie auch erfroren, aber du hast sie ja gar nicht gefragt, ob sie das auch will. Du hast es einfach entschieden. Immer entscheidest Du! Nur weil du traurig bist, hast Du nicht das Recht, so gemein zu uns zu sein. Alle haben sich Sorgen gemacht und haben in der Kirche sogar für dich gebetet, die Piloten haben die ganze Nacht nach dir gesucht und das war sogar gefährlich, du hast allen den Weihnachtsabend verdorben und trotzdem haben sie sich so gefreut, dass sie dich gerettet haben. Du bist einfach gemein und denkst nur an dich!“ Sie stampfte noch fester mit dem Fuß auf und mit einem „Hier hast Du mein Geschenk!“, warf sie ihm zornig das Päckchen aufs Bett. Dann drehte sie sich weg und rannte aus dem Zimmer. „Na, dann gute Besserung, du Mistkerl!“, krächzte der alte Tankwart. „Kannst demnächst woanders tanken, um dich umzubringen.“ Svenson starrte immer noch an die Decke, als die Leute das Zimmer verließen. Als er allein war, berührte seine Hand auf einmal das Päckchen, dass Lotta auf das Bett geworfen hatte. Er umschloss es ganz fest und Tränen liefen ihm über die Wangen. „Wie meine kleine Ida“, durchfuhr es ihn.
3 Wochen später klingelte es an der Haustür. Liv Solberg öffnete. Der große Fischer stand in seinem blauen Mantel mit gesenktem Kopf vor der Tür. Er nestelte in seiner Tasche und holte ein kleines Geschenk heraus. „Das ist für die kleine Lotta. Weil sie mich gerettet hat und meine Katze auch. Darf ich sie bitte wiederhaben, ich habe was gut zu machen an dem Tierchen. Und an Euch allen.“
2 Tage später lud der Fischer den ganzen Ort ins Gasthaus von Å i Lofoten ein. Es gab Juløl, Kakao und Lutefisk. Und alle kamen. „Ich wollte mich entschuldigen, dafür dass ich gemein zu euch war. Und danke sagen. Dass ihr auf mich gewartet habt und für mich gebetet. Es ist noch etwas ungewohnt für mich, aber ich glaube verstanden zu haben, dass man sich noch unglücklicher macht, wenn man die Trauer siegen lässt und alle wegstößt. Ich will versuchen, es besser zu machen, vielleicht könnt ihr mir ja ein wenig dabei helfen. „Ja“, knurrte der alte Lund. „Kannst wieder tanken kommen bei mir“.
Das Weihnachtsfest in Å i Lofoten war anders verlaufen als sonst. Aber keiner wollte tauschen. Lotta Solberg besuchte den Fischer oft mit den anderen Kindern. Und als sie viele Jahre später erfuhr, dass der alte Svenson gestorben war, machte sie sich keine Sorgen. Er war bestimmt nicht allein.