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Eine Minute Schicksal
Andreas starrte gelangweilt auf seine altmodische Digitaluhr. 11:43 , noch fünf Stunden, bis seine Schicht zu Ende war. Er hasste diesen Job, wohlwissend, dass er ihn bis an das Ende seines Lebens behalten würde. Niemals wäre ihm vor sechs Jahren, als er diesen angenommen hatte, in den Sinn gekommen, dass die Erforschung des Weltraums so abgrundtief langweilig sein würde, wie eben jener Alltag, den er nun sein Leben nannte.
„Und, schon was gefunden!?” lästerten Michael und Dirk, die gerade Pause hatten und sich einige Meter neben ihm einen Kaffee gönnten. Schadenfrohes Grinsen war genau das, was ihm jetzt noch gefehlt hatte. Andreas verzichtete auf eine Antwort, es war klar, dass er nichts gefunden hatte, so wie niemand in den letzten 20 Jahren etwas gefunden hatte, über 23 Millionen erfolgloser Versuche ein brauchbares Portal zu finden standen einem einzigen -sehr zweifelhaften- erfolgreichen gegenüber. Knapp einhunderttausend der erfolglosen gingen auf seine Kappe.
Andreas tippte etwas auf der breiten Konsole vor ihm herum, und schob ganz langsam einen Hebel nach oben. Jahrelange Routine. Ein Summen begann den Raum zu erfüllen, das sich immer schneller zu einer nervösen Frequenzschwankung entwickelte und schließlich gänzlich unhörbar wurde. Durch das Sichtfenster der schwarz abgeschirmten Portalkammer vor ihm sah er in gewohnter Weise ein violettes Schimmern in der Mitte eines massiven Metallringes entstehen, jene Leuchteffekte, die das drohende Bersten des Raumgefüges verkündeten. Er warf noch schnell einen Kontrollblick auf die Druckanzeige - nach wie vor herrschte absolutes Vakuum in der Kammer, die auf knappe 3 Grad Kelvin gekühlt war. Immer weiter schob er den Hebel und immer größer wurde die Spannung auf die 3 Dimensionen, mit einer einfachen Bewegung seines Armes bog er den Raum nach seinem Willen. Der Boden begann zu vibrieren, ein schweres metallisches Brummen machte sich an, die Arbeitsstätte zu erfüllen, Michael und Dirk bekleckerten sich dabei etwas mit Kaffee. „He pass auf!” schimpften sie, während sie sinnloserweise versuchten, die braunen Flecken auf ihren weißen Labormänteln mit hektischen Handbewegungen weg zu wischen.
„Passt ihr doch auf.” konterte er trocken, es geschah ihnen recht, es konnte schon mal aus Versehen passieren, dass man den Hebel etwas zu schnell bewegte. Mit einem letzten kurzen Ruck schob er ihn ganz nach oben. Ein violetter Lichtblitz aus der Kammer zwang ihn, seinen Blick kurz ab zu wenden.
Er sah auf die Anzeige. Wieder nichts. Das Vakuum war aufrecht, das andere Ende des Portals musste sich wie immer irgendwo mitten in diesem gottverdammt leeren All aufgetan haben. Wie nun sein vorgeschriebener Arbeitsablauf vorsah, nahm ein Roboter in der Kammer einige Messungen vor, bevor das Portal wieder verschlossen wurde und ein neuer Anlauf gestartet werden konnte. Während der Roboter seinen Messarm durch das Loch im Raum streckte, beobachtete Andreas eben jenes. Vor ihm, inmitten des massiven Metallringes, klaffte ein Loch im Gefüge unserer Welt, kreisrund und umspielt von dem violetten Schimmern, das durch jene gewaltigen Felder entsteht, die den Raum zerreißen. Durch das Loch sah man weit entfernt die Konturen einer Galaxie, eine ellipitsche, wenn Andreas’ Augen ihn nicht trogen. Welche, wusste man in 90 Prozent der Fälle nicht. Eine direkte Verbindung zu einem unbekannten Punkt im All lag vor ihm. Man könnte sich einen Raumanzug anlegen und durch dieses Loch klettern, mehrere Milliarden Lichtjahre entfernt von der Erde im All auftauchen, einen Schritt zurück tun und wieder zuhause sein. Allerdings ohne jeglichen Nutzen für die Raumfahrt. So sah die Erforschung des Weltraumes also aus, ganz anders, als Andreas sie sich als kleiner Junge immer vorgestellt hatte. Alle technologischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte haben nur eine wirkliche Erkenntnis gebracht, eben jene, dass die konventionelle Besiedelung des Alls durch Raumreisen ein Ding der Unmöglichkeit war. Die farbenprächtige Illusion von großen Schiffen war zerplatzt wie eine Seifenblase und lange Zeit schien es so, als ob der Mensch sich mit seinem kleinen Sonnensystem zufrieden geben müsste. Die Ausreifung der Hyperstringtheorie allerdings hat es vor 23 Jahren ermöglicht, unter Aufwendung enormer Energien einen sogenannten ‘Riemannschen Schnitt’ im Raum zu erzeugen. Die Euphorie -endlich das Tor zu den Sternen aufgestoßen zu haben- verflog allerdings sehr schnell, denn diese Technologie hatte einen riesigen Hacken: Man wusste nie, WO dieser Schnitt sich auftat. Und da das All nun mal eigentlich ein riesiges Nichts mit etwas Dreck drin war, verbrachte man nun schon 2 Jahrzehnte damit, per Zufall Löcher in den Raum zu reißen und zu hoffen, es möge sich doch bitte in der Nähe dieses wenigen Drecks auftun. Die Wahrscheinlichkeit dafür dazu war allerdings keine Wahrscheinlichkeit, sondern schon eher eine Unmöglichkeit. Die Statistik sprach eine klare Sprache: es war bedeutend leichter, von einem Hagelkorn erschlagen zu werden, als ein Tor in der Nähe eines anderen Sternes auf zu stoßen. Dass es seid 14 Jahren keinen Hagel mehr auf der Erde gab, war in diese Berechung bereits eingeflossen.
Andreas sah sich die Daten an, freudig erkannte er, dass man diese Galaxie, die er durch das Portal sah, auch auf der Erde kannte, sie lag nur knapp 290 Millionen Lichtjahre entfernt, solch einen Glückstreffer hatte er schon ein Jahr lang nicht mehr. Dass das Portal widerum 73 Millionen Lichtjahre von dieser Galaxie entfernt war, störte ihm im Moment wenig, da man bei den meisten Toren nicht mal wusste, ob sie sich überhaupt in unserem Universum befanden. Vor ihm lag also ein echter Hauptgewinn. Aber egal, er widmete ihm noch einen kurzen Blick und zwei Minuten später waren die Messungen abgeschlossen und Andreas verschloss das Portal wieder. Der nächste Versuch wartete auf ihn. Er erinnerte sich gerade an jene anderen ‘Erfolge’, denen der seinige nahe kam. Einer seiner amerikanischen Kollegen hatte vor vier Jahren einmal in nur sechs Lichtjahren Entfernung zu einem Stern ein Tor auf getan. Natürlich konnte man auch dieses nicht verwenden, sechs Lichtjahre waren noch immer mehr als die vier, die der nächste Stern von der Erde entfernt war. Und das Beste- er musste schmunzeln- war ohnehin jenes Ereignis vor 19 Jahren. Damals hatte ein russischer Forscher ein Tor aufgebrochen, das im Inneren eines Sternes lag. Leider hatte dieser ‘Volltreffer’ einen 10 Kilometer breiten Krater in der Nähe von Novosibirsk zur Folge. Seitdem wurde die Aufgabe der Portalöffnung nur noch unbedarften Studenten oder ähnlich unwichtigen Personen zugewiesen, die zudem noch Gefahrenzuschlag auf ihren Lohn bekamen- für eine Wahrscheinlichkeit von 0,00000000000000000002%. Dieser Umstand sorgte immer wieder für Erheiterung bei ihm und seinen Kollegen.
Aber egal, er hatte seinen Dienstplan einzuhalten, 26 Öffnungen musste er noch bis zum Ende seiner Schicht schaffen, wenn er sich keine Rüge einholen wollte. Er wartete, bis wieder alles genug abgekühlt war - schließlich verbrutzelte er mit seiner Kammer allein die Energie von 3 Fusionskraftwerken - und überprüfte wieder schnell das Vakuum; es war alles in Ordnung, keine 3 Atome pro Kubikzentimeter. Seine Kollegen hatten inzwischen ihre Pause beendet und er war wieder für sich, das ließ ihm seinen Alltag etwas besser ertragen, außerdem konnte es das kleine Glücksgefühl von vorher so etwas länger auskosten. Wieder begann Andreas langsam den Hebel zu bewegen, wieder das hohe, schließlich verstummende Summen, gefolgt von jenen auf irgendeine Weise niemals langweilig werden violetten Lichteffekten und dem tiefen, durch Mark und Bein gehenden Vibrieren. Aber das war diemal das Einzige, das gleich wie immer ablief.
Als der Kritische Punkt, der erste Punkt des Riemannschen Schnittes sich auftat, brach Panik in Andreas aus: Das Vakuum fiel rapide ab, und je geringer der Druck im Inneren der Kammer wurde, desto lauter wurde ein kreischendes Zischen, gleich dem einer Düse. Auf der anderen Seite des Portals war Gas!!!! Er konnte es nicht fassen, ER hatte womöglich auf einem fremden Planten oder in einem Nebel ein Tor aufgestoßen! Voller Ungeduld und Hektik schob er den Hebel ganz nach oben um endlich einen Blick durch das Tor werfen zu können. Aber was war das?! Er traute seinen Augen kaum, etwas weißes, ein Stofffetzen wirbelte von der anderen Seite herein und als das Portal seine maximale Größe erreicht hatte, sah er das unbegreifliche: ein Mann in einem weißen Laborkittel stand vor einer Konsole und sah scheinbar bedrückt zu Boden, seine Schultern hingen kraftlos hinab. Neben ihm auf der Konsole stand eine alte Digitaluhr, die die Zeit 11:56 anzeigte.
Das......das konnte nicht wahr sein. Das da war ER! Seine Konsole, seine Portalkammer und sein Kittel der in die Portalkammer geweht war!! Seine Uhr.....Andreas warf einen schnellen Blick darauf: 11:53. Ihm wurde schwindelig....das war er in der Zukunft! Genau 3 Minuten lagen zwischen ihm hier und ihm dort! Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf, hatte er nicht irgendwo einmal gehört, dass die Möglichkeit leichter Zeitschwankungen bei einem Riemannschen Schnitt bestünde?! Was hatte das alles zu bedeuten.....?! Und warum in Gottes Namen drehte sein zukünftiges Ich sich nicht zu ihm um? Er musste doch mitbekommen haben, dass sich hinter ihm ein Portal geöffnet hatte! Was würde geschehen, wenn er sich selbst in die Augen sehen würde?? Was würde sein, wenn er nun durch das Portal zu sich selbst in die Zukunft ‘treten’ würde? Versagten hier nicht alle Theorien, die ihm bisher eingetrichtert worden waren?! Er knickte ein, sein Geist versagte, zu groß war die Fülle an Fragen.
Plötzlich bemerkte er, dass sein Gegenüber sich daran machte, das Portal in der Zukunft zu verschließen.....jetzt sah er es erst: das Portal seines zukünftigen Ichs war offen und zeigte etwas.....lag da nicht etwas Weißes am Boden? Bevor er die dunkle Vorahnung, die ihn überkam, bestätigt sehen konnte, war das Portal bereits verschlossen und langsam, mit kraftlosen Bewegungen schickte ER- also sein ER in der Zukunft- sich an sich umzudrehen.
Eine namenlose Angst und Panik ergriff Andreas, doch war er unfähig, den Blick abzuwenden, die Zeit schien still zu stehen, und dennoch - immer näher kam der Zeitpunkt, an dem er sich selbst in die Augen sehen würde.....Andreas hielt den Atem an, gleich würde es soweit sein. Dann, in just jenem Moment, in dem sich ihre Blicke treffen hätten sollen- oder hatten sie sich schon getroffen? - gefror ihm das Blut in den Adern: Er - sein zukünftiges er- sackte wie vom Blitz getroffen in sich zusammen, ohne einen Funken an körperlichen Widerstand fiel er zu Boden, in einem zeitlosen Moment offensichtlich jeglichen Lebens beraubt. Er war tot.
Andreas fühlte, wie seine Kraft ihn verließ, in - er sah auf die Uhr- in einer Minute würde er sterben. Warum?! Oder gab es einen Ausweg....? In diesem Moment wünschte er sich nichts mehr als die Vorlesung über Zeitparadoxa doch öfter besucht zu haben, aber es half alles nichts mehr. Um nicht umzufallen stütze er sich mit beiden Armen auf die Konsole. Hatte er noch eine Chance, konnte er einfach nicht anders handeln, als er es gesehen hatte? Was wäre, wenn er sich einfach nicht umdrehen würde? Aber konnte er das- durfte er das, Er, der sowenig Ahnung über das Wesen der Zeit hatte? Würde nicht alles, was ist, in seinen Grundfesten erschüttert, wenn er sich weigerte, diese Zeitlinie zu erfüllen? Konnte er es überhaupt, selbst wenn er wollte?! Er gegen die Zeit? Plötzlich - plötzlich, obwohl es ihm bewusst war - begann es hinter ihm fürchterlich zu Zischen, sein Schatten auf der Konsole zeichnete sich vor einen violetten Licht ab. Aus dem Zischen wurde ein riesiger Luftsog, das seinen nicht zugebundenen Mantel von ihm zu ziehen versuchte, und mit einem Mal verstummte alles. Er wusste, hinter ihm stand sein ungläubiges vergangenes Ich, das ihm über die Schulter sah, und seinen zukünftigen Leichnam hinter dem Portal nicht richtig erkennen konnte. Es gab nur einen Weg. Er war zu klein um sich gegen die Zeit aufzulehnen. Er hätte es auch nicht vermocht; er durfte es auch nicht, wenn er sich nicht im Klaren über die Konsequenzen war. Mit einer stummen Bewegung schob er den Hebel nach hinten und verschloss das Portal und ihm wurde erst jetzt bewusst, mit welchen Dingen die Menschheit die letzten Jahre gespielt hatte, ohne sich über die Gefahren bewusst zu sein. Welche Ironie, so hatte sich wenigstens der Lohnzuschlag bezahlt gemacht. Ein letztes Schmunzeln huschte über sein Gesicht. Er sah kurz auf die Uhr- noch wenige Sekunden. Mit der letzten Erkenntnis, den Leichtsinn der Menschen begreifend, richtete er sich langsam auf und begann sich umzudrehen.
Er hatte endlich ein Schicksal.