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Eine Lebensentscheidung
„ Und dann, was ist dann passiert?“, fragte Felix und rutschte noch ein Stück nach vorn, auf seinem plauschigen, weichen Sessel. Seine Augen schauten mir erwartungsvoll ins Gesicht und das ärgerte mich.
„ Das ist kein Krimi, was ich dir hier erzähle. Das war mein Leben.“, wies ich ihn zu Recht. Felix verdrehte die Augen.
„ Schon klar, erzähl trotzdem weiter.“ Ich lehnte mich entspannt zurück und genoss den Augenblick der stummen Spannung. Dann begann ich zu erzählen.
Ich war wie immer im Wald gejoggt. Ich hatte am Anfang den Vogelgesang und die leichte Brise, die über meine Wangen strich, genossen. Hatte wie immer gedacht, ja das ist es, was ich will. Doch die Minuten vergingen. Mein Atem wurde schwerer, der Schweiß sammelte sich immer mehr auf meinem Körper an. Bald spürte ich überall Schmerzen, im Nacken, in den Schultern und natürlich in den Seiten. Keuchend drückte ich meine Hand gegen eine Seite um die Schmerzen zu unterdrücken. Ich wusste, ich musste weiter rennen, kämpfen, für was auch immer. Vermutlich für den Traum meiner Mutter. Aber das hatte ich bis zu jenem Tag noch nicht begriffen.
Als ich zu Hause die Küche betrat, lächelte mich meine Mutter wie immer fröhlich an.
„ Hallo meine Maus, wie war dein Fitnessprogramm?“ Ich antwortete ihr nicht, aber ich glaube, dass hatte sie auch gar nicht erwartet. Denn so gleich verließ sie die Küche. Ich schnappte mir eine Flasche Wasser und trank sie in einem Zug aus.
„ Ach ja, und Mausi, vergiss nicht, morgen ist zwei Stunden Fitnessstudio angesagt. Ich hab deinem Trainer fest versprochen. Und danach hast du Balletttraining, du erinnerst dich?“
Wieder wurde von mir keine Antwort erwartet. Ich hörte wie sich die Badtür öffnete und wieder schloss. Immer noch mit der Flasche in der Hand folgte ich meiner Mutter in unser wirklich gigantisches, mit Mamor ausgelegte Badezimmer. Als ich reinkam, empfing mich wieder einmal der Anblick wie meine Mutter, dessen Name übrigens Ilse lautete, kritisch und angeekelt ihre Narbe betrachtete. Die Narbe, die sich über ihre gesamte linke Wange zog und die sie seit einem Unfall vor zehn Jahren nicht mehr los bekam. Der Unfall, der ihre bis dahin erfolgreiche Modellkarriere beendete, für immer. Damals war ich 7 Jahre alt.
Mein Herz klopfte wild und mein schlechtes Gewissen nagte an mir.
„ Mama, ich muss dir was sagen...“, begann ich vorsichtig. Ilse schenkte mir nicht wirklich Aufmerksamkeit. Sie war damit beschäftigt sich kräftig Puder auf ihre Wangen zu streichen. Ich atmete tief ein und sagte die Worte, die mir auf der Seele brannten.
„ Mama, ich kann morgen nicht ins Fitnessstudio gehen, und auch nicht zum Ballett. Morgen ist Samstag, ich bin auf eine Gartenparty eingeladen.“ Meine Mutter wirbelte herum und blickte mich an. Diesen Blick kannte und verabscheute ich. Es war ein strafender Blick, aber gleichzeitig drückte er Enttäuschung und Demütigung aus. Kurz, ein Blick, der jedes Gewissen in den Wahnsinn trieb. Ich setzte zu einer weiteren Erklärung an.
„ Mama, ich bin 17. Ich geh ja sonst nie weg, aber morgen muss es mal sein. Simon wird auch da sein und naja..., du weißt schon.“ Meine Mutter wurde wütend.
„ Nina, du sollst dich nicht mit irgendwelchen Jungs abgeben. Du sollst für deine Zukunft arbeiten, hart arbeiten. Du willst doch mal ein berühmtes Modell werden, oder? Dann tu auch was dafür. Du wirst morgen wie immer dein Fitnessprogramm machen. Die Fete wird auch ohne dich auskommen.“ Ilses Stimme war ganz ruhig, wie immer, aber dafür eiskalt. Sie wandte sich wieder ihrem Spiegelbild zu. Ich wollte aus dem Bad gehen, mich ihrem Befehl beugen, wie sonst auch, aber an diesem Tag geschah etwas in mir. Etwas, dass ich nicht erklären kann. Ich sah auf einmal meine Freundinnen wild und ausgelassen tanzen und Spaß haben. Und dann mich, wie ich im Takt der Musik Ballett tanzte. Und ich hasste mein Leben, und meine Mutter. Eine Welle aus Emotionen überkam mich. Ich fühlte Trauer, Wut, heruntergedrückte Aggressionen und Hass. Ich zwang meine Stimme ruhig zu bleiben, während alles in mir brodelte und drohte über zukochen.
„ Nein Mama, ich werde da hin gehen und wenn du dich auf den Kopf stellst.“ Meine Mutter drehte sich zu mir um und sah mir einige Augenblicke tief in die Augen. Ich sah, wie sich die Anspannung auf ihr Gesicht legte.
„ Nein, Nina, jetzt wirst du mich dafür nicht mögen, aber später wirst du mir dankbar sein. Spaß ist doch nicht alles im Leben.“ Ich konnte nicht mehr anders. Ich explodierte. Alles, was sich in so vielen Jahren in mir angestaut hatte brach aus mir heraus. Alles, was ich so qualvoll wie bittere Medizin heruntergeschluckt hatte kam nun wieder hoch. Ich schrie wie ich nie zuvor geschrien hatte und schleuderte alles in das Gesicht meiner strengen Mutter.
„ Mama, du hat mich immer nur ausgenutzt. Nur weil dein Traum zerplatzt ist muss ich ihn für dich erfüllen. Aber ich will kein perfektes Modell sein. Ich hab auch nichts gegen ein paar Speckröllchen, von mir aus! Ich habs satt, dass alle Spaß haben, während ich im Wald vor Schmerzen keuche und nach Luft ringe. Oder im Ballettsaal innerlich diesen Sport verabscheue. Ich würde viel lieber Fußball spielen, mich im Dreck wälzen. Du hast mir dieses Leben aufgedrängt, aber ich will es nicht. Ich will es nicht!!“
Ilse zeigte keine Reaktionen. Nicht vor meinem Ausbruch, nicht dabei und auch nicht danach. Sie stand nur da und sah mich mit einer Mischung aus Spott und Verachtung an.
„ Nina, beruhig dich, ich weiss was für dich gut ist.“ Mir schossen die Tränen in die Augen. Jemand zog den Boden unter meinen Füßen weg und ich stürzte in die Tiefe. Vor mir war alles schwarz. Hoffnungslos schwarz.
„ Hast du mir überhaupt zugehört, Ilse?“, fragte ich mit schwacher Stimme. Meine Mutter nahm ihre Handtasche von der Ablage und ging an mir vorbei. Ich hörte wie sich die Haustür öffnete. Kurz darauf rief meine Mutter:
„ Ich geh jetzt zu Konstanse. Es wird spät, wir sehen uns nicht vor morgen Abend. Tschüss Mausi und vergiss nicht morgen den Termin im Fitnessstudio.“
In dem Moment fasste ich eine Entscheidung, die ich niemal bereute.
„ Und dann bist du weg gerannt, Mama, und hast Papa kennen gelernt?“, fragte Felix wissbegierig. Ich schmunzelte.
„ Ja, so ungefähr, Felix, aber jetzt wird es Zeit zum Schlafen. Na komm.“ Mein kleiner Sohn maulte zwar noch kurz, nahm dann aber meine Hand. Als ich Felix in seinem Bettchen liegen sah, die Augen geschlossen und die Mundwinkel leicht zum Lächeln geformt, wusste ich, dass ich niemal so weit gekommen wäre. Ich wäre niemals so glücklich geworden. Mit einem wunderbaren Mann, meinem tollen Job als Grafikerin und meinem süßen Sohn. Ich hätte niemals dieses Glück gespürt, wenn ich mich an diesem Tag nicht von meiner besitzergreifenden Mutter gelöst hätte.