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Eine Landschaft in Moll
Eine Landschaft in Moll
Ich erwachte. Es war dunkel um mich herum. Es herrschte Stille. Ich öffnete die Augen, wo war ich, wie bin ich hierher gekommen? Hier, an diesen Ort, ohne jegliche Sonne, ohne jegliches Lachen, ohne jegliche Freude.
Nach einer halben Stunde vor mich hinsinieren hatte ich sie dann gesammelt, in den letzten Winkeln meines Körpers hatte ich sie gesucht, die Kraft mich aus dem Bett zu ziehen und den Tag zu beginnen. Was nun? Keine Lust zu nichts stand ich völlig ziellos in meinem Zimmer, immer wieder abschweifend, unfähig mich für zwei Sekunden auf meinen nächsten Schritt zu konzentrieren. In so einer Verfassung gibt es keine Zeit. Wie lange stand ich schon da? Fünf, zehn, fünfzehn Minuten? Ich weiß es nicht. Jede Art von Verbindung mit der Außenwelt war abgeschnitten. Wie in einem Strudel wurde ich immer wieder herabgezogen, in die dunkelsten Ecken meiner Seele.
Langsam dämmerte es mir, wie ich hierher kam, an diesen so vertrauten und entsetzlich gefürchteten Ort. Was am Freitag mittag gekauftes und eigentlich ziemlich reines Kokain sein sollte, stellte sich als eine Mischung aus ein bisschen Koke und überwiegend Speed und Crystal Meth heraus. Dank dieses geheimen Rezeptes spielten die Neurotransmitter am Ende meiner Synopsen 72 Stunden später immer noch verrückt. Und so hatte ich mich gestern abend auch gefühlt, völlig wahnsinnig und fremdgesteuert. Musik und vor allem der damit verbundene Beat hatten während meines Trips eine magische Anziehung auf mich. Was sich anfangs noch gut anfühlte wurde wenig später zum Zwang. Ich merkte, dass der Beat nicht mehr aus der Anlage meines Ford Aspire’s kam, sondern sich wie eine Zecke in meinem Gehirn festgesaugt hatte. Und so verbrachte ich die letzten drei Tage, auf alles trommelnd was mir in die Finger kam, kopfnickend und fußzuckend. Langsam wurde das Bewusstsein der beste Trommler aller Zeiten zu sein vom Bewusstsein wie krank das ganze war abgelöst. Mein Highsein wurde zu einem Downsein. Während meines langersehnten Schlafes verblasste mein High vollends und machte den weg frei für eine mächtige und trauerbringende Wolke. Dass diese Wolke und das damit verbundene Gewitter, Klarheit, Heilung und schlussendlich auch wieder Sonnenschein bringt konnte ich jetzt, wo ich so verloren in meinem Zimmer stand nicht sehen. Noch war die Decke zu mächtig um die zarten Strahlen der Hoffnung durchzulassen. Doch es sollte noch schlimmer kommen.
Wie ein unmündiges Kleinkind musste ich mir jede Handlung bewusst ins Gedächtnis rufen. Dinge, die jeder von uns täglich völlig automatisch und ohne auch nur eine Sekunde daran zu verschwenden erledigt, wurden für mich zu schier unlösbaren Aufgabe. Zynisch gratulierte ich mir selbst, ich hatte mich angezogen und das noch recht schnell, nur zehn Minuten hatte ich gebraucht um herauszufinden welche Klamotten an diesem Tag angebracht waren. Was nun? Was kommt jetzt? Waschen, Zähne putzen oder Frühstück machen? Wie machte ich das sonst immer? Allein der Gedanke mich vom Fleck zu bewegen entzog mir die Hälfte meines Energiehaushaltes. Mein Gott wie soll ich diesen Tag überstehen? „ Irgendwie geht es immer!“, hörte ich eine Stimme in mir sagen. Welch ein Wunder, der erste halbwegs klare Gedanke. Wie in Trance und mir heute immer noch schleierhaft, gelang es mir dann mein tägliches Badritual zu vollziehen, mir ein paar lieblos geschmierte Brote reinzuwürgen und mich auf den Weg zur Schule zu machen.
Im immer überfüllten Parkplatz meiner Uni kam ich dann zum stehen, ohne irgendeine Erinnerung meiner 20-Minütigen Autofahrt. Nichts hatte ich wahrgenommen und es war wie ein Wunder dass ich im Auto und nicht im Krankenhaus zu Bewusstsein kam. Hoffentlich sehe ich niemanden, hoffentlich begegnet mir kein bekanntes Gesicht, das mich anspricht und in ein Gespräch verwickeln will. Etwas, was auf unserem kleinen Campus fast unvermeidlich ist geschah dann leider allzu häufig und ich befand mich den ganzen Tag nur auf der Flucht. „ Hey, how’re ya doing?“ “Good” –Liar- “Late for class, gotta go. See ya.” Ich lief davon und spührte im wahrsten Sinne des Wortes wie sich zwei verwunderte Augen in meinen Rücken bohrten. Nur weg von hier, nur weit weg. Ich mußte einen Ort finden, wo ich das Gewitter ausharren konnte, einen Ort, der wie ich, abgeschnitten war von der Umwelt, wo mich keiner störte und wo ich vor allem keinen sehen mußte. Im letzten Winkel der „Craven Hall“ fand ich ihn dann auch, die spanische Bibliothek. Nur selten verirrte sich jemand dorthin. Hier fühlte ich mich sicher, für eine Zeit wenigstens. Ich ließ mich in die weiche gefederte Couch fallen und versank sogleich. Ich ließ meinen Gedanken freien Lauf, und sie stürzten wie ein Tornado sogleich auf mich herab. Ich war ihnen völlig ausgeliefert, ohne Schutz im Freien. Ich musste es geschehen lassen, ich konnte nicht anders. Ein paar Mal machte ich den Versuch sie zu verdrängen, sie wegzudrücken, in eine Dose zu sperren und den Deckel zu verschließen. Keine Dose war stark genug, keine hielt dem Druck stand, jede explodierte in tausend Stücke, die sich wie Granatsplitter in meine Seele bohrten. Geschehe was wolle, denke nicht, und vor allem mache keinen Druck, harre es aus, ÜBERLEBE ES. Der zweite klare Gedanke an diesem Tag. So verbrachte ich drei Stunden, versunken in der Couch. In so einem Zustand ist das gar kein Problem. „ES“ ist zu stark, zu mächtig, zu intensiv um auch nur für einen Augenblick das Gefühl von Langeweile zuzulassen. Zeit spielt keine Rolle, Zeit existiert nicht. Leicht könnte ich hier noch weitere 10 Stunden sitzen bleiben, wenn da nicht, da war doch was....? Fuck me, Ich habe noch Physik Lab. Und wie durch ein Katapult schleuderte es mich zurück in die Realität. Der Aufprall war hart.
Zweieinhalb Stunden Physik Lab, das heißt Gruppenarbeit, fokussiert sein, kommunizieren, lachen, Witze machen. Zu nichts hatte ich weniger Lust, zu nichts war ich in diesem Augenblick unfähiger. Aus unerfindlichem Grund funktionierte ich dann trotzdem. Dann allerdings wendeten sich das Blatt und die Dinge nahmen unaufhaltsam ihren Lauf; ich hörte auf zu funktionieren.
Für einen Außenstehenden in halbwegs normalem Zustand nicht nachvollziehbar, so wie die Paranoia eines Crack-Süchtigen nicht nachvollziehbar ist, wenn man ihm das Wort Polizei in die Ohren haucht. Für eine Person in meiner Verfassung ist das anders. Ich war nicht in einer halbwegs schlechten Verfassung, ich war sogar jetzt schon jenseits von Gut und Böse, völlig labil und autistisch in mich gekehrt. Kein Wort kam auf normalem Wege in mein Gehirn, es wurde gedreht, gebogen und schlussendlich gefiltert bis es meinem eigenen Bild von mir entsprach.
Es war am Ende der Stunde. Es kam zwischen mir und Jessica, einem meiner Labpartner, zu einem Wortgefecht, in dem ich natürlich hoffnungslos unterlegen war. Dann sprach sie es aus, das Wort welches das Fass zum überlaufen brachte, das Wort welches alles in mir zusammenbrechen ließ. FREAK! FREAK! FREAK! FREAK!, hallte es in mir nach. Ich erinnere mich noch wie ich in meinem Wahnsinn dachte, woher weiß sie das, sieht sie mir das an? Der einzige Grund warum geschah was dann geschah war, dass ich mich selber für einen Freak hielt.
Ich verlor den Faden, ich schwebte davon, ich verlor im wahrsten Sinne des Wortes die Verbindung zu dieser Welt. Die Stimmen von Jessica und den anderen in meiner Klasse wurden leiser, schienen sich immer weiter wegzubewegen, bis ich sie gar nicht mehr hörte. Es war, als ob ich auf einem Pilztrip wäre und es war exakt so, zumindest Teile davon. Mein Gehirn wurde mit unendlich vielen Gedanken und Gefühlen bombardiert welchen ich nicht ausweichen konnte. Ständige Impulse schlugen auf mich ein und zwar mit einer solchen Intensität die mich völlig wegtreten lies. Ich stürzte ab, wie ein Computer, war unfähig zu funktionieren. Nichts ging mehr, aus, Ende und vorbei. Ich musste weg von hier, ich wollte nur noch rennen, wollte nur noch flüchten. Ich stürzte aus der Klasse, aus dem Gebäude, der Science Hall, quer über den Campus, bis ich den Rand des Unigeländes erreichte. Ich stürmte einen Berg hoch, rannte durch unbändiges Gestrüpp voll von Dornen, wurde unzählige male gestochen, meine Muskeln verkrampften, ich rannte weiter, meine Lunge schien zu zerbersten, ich rannte schneller. Ich spürte nichts, ich fühlte nichts. Mein ganzer Fokus wurde auf einen einzigen Punkt in meinem Gehirn gelenkt. Dieser Schmerz dort war so groß, dass er alles andere in den Schatten stellte, er war so intensiv dass ich nichts anderes spüren konnte, selbst wenn ich wollte. Der Tod wäre eine Gnade gewesen. Alles andere als das, als dieser unglaubliche Schmerz, wäre eine Gnade gewesen. Ich ergab mich, ich fiel auf die Knie und in diesem Augenblick war ich zu allem bereit. Ich war an einem Punkt angelangt an dem mir alles egal war, alles, geschehe mit mir was wolle, es ist mir egal.
So fühlte es sich also an, am Boden zu sein und ich meine ganz am Boden, wie es weiter nicht mehr geht. In meinem Kopf war es inzwischen still. Meine Tränen waren versickert und ich war erschöpft, körperlich und vor allem mental. Von hier, so dachte ich, kann es nur noch bergauf gehen. Dies war mein Dritter klarer Gedanke an diesem Tage. Ich lehnte mich zurück und sah den Himmel. Er war mit gewaltigen Wolken bedeckt und alles war in Bewegung. Ein einzelner gold-gelber Sonnenstrahl hatte sich den Weg durch die jetzt nicht mehr geschlossene Decke gebahnt.
[ 08.05.2002, 23:54: Beitrag editiert von: philipp634 ]