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Eine kurze Traumreise
Eine kurze Traumreise
Hermes, Gott der Schreibenden, Reisenden und Handel treibenden, erschien mir im Traum und gab folgende Geschichte zum Besten:
In einem Lande weit im Osten, zwischen Afrika, Asien, Arabien und Europa, dort gab es einen Mann, alt und weise, welcher über das Schicksal vieler, sehr vieler Menschen gebot. Sein Wort war Gesetz. Wer ihm diente, stieg alsbald zum Himmel auf ; wer ihm aber widersprach, war des Teufels und landete in der Hölle. Sein Name war Koum.
In einem weiter östlich gelegenen Land, schon beinahe im Reich der Mitte, lebte ein anderer Mann. Sein Tun war einfach, denn er schrieb Sätze auf Papier und verkaufte es dann. Anscheinend müssen ihm die Sätze recht gut gelungen sein, denn er hatte immer regeren Zulauf. So kam es, daß er mit der Zeit einigermaßen bekannt und wohlhabend wurde und es sich sogar leisten konnte, überall in der Welt herumzureisen und andere Sitten und Gebräuche zu studieren. Dieser Mann hieß Rousg.
Nun begab es sich, daß Rousg einmal ein Buch erschuf, in welchem auch von Koum die Rede war. Jedoch, dieses Buch erzürnte den großmächtigen Potentaten so sehr, daß er in heftige Raserei und derbe Verwünschungen verfiel. Sein Gesicht verfärbte sich purpurn, sein Turban fiel ihm vom Kopfe, seine Haare sträubten sich, und sein langer Bart stand derart ab, daß er das ganze Gesicht seines Besitzers bedeckte.Vor Wut und Grimm schlotterte und zitterte dieser alte und weise Mann, was ihn noch älter, jedoch keineswegs weiser erschienen ließ. Außer sich vor Raserei sandte er alle Ratgeber und Höflinge, wie es sie bei einem solch mächtigen Manne in Scharen gab, fort und zog sich einen Tag und eine Nacht in eine kleine Kammer im entferntesten Winkel seiner Residenz zurück, um über seiner Entgegnung auf das böse Buch zu brüten.
Am nächsten Tag dann ließ er das Volk vor dem Palaste versammeln, holte seine Ratgeber und Höflinge zurück und ließ seinen Sprecher (er selbst hatte sich heiser geschrieen) laut und vernehmlich verkünden, daß
... der Schreiber Rousg des Todes ist, da er, verdorben durch
fremde Sitten und Gebräuche, schwere Schuld auf sich geladen
hat. Ein jeder Rechtgläubiger in aller Welt, der ihn antrifft, hat
das Urteil zu vollstrecken, das unser großer Herrscher in seiner
unendlichen Weisheit gnädigerweise dem üblen Giftspeier Rousg
zugedacht hat:
den Tod !
So hatte es der weise Koum beschlossen, und alsbald eiferten die Rechtgläubigen schon in aller Welt, den Dorn im Auge des alten Mannes zu entfernen und den gefährlichen Schreiberling Rousg ausfindig zu machen.
An dieser Stelle wurde der Traum ein wenig verschwommen und unklar. Ich hörte mich rufen: „Aber das wäre doch Mord !“.
„Nein,“ entgegnete mir Hermes, „denn alles, was der weise Koum befahl, war ja Gesetz, ein Mord aber wäre ungesetzlich gewesen.“
Sprach es, und fuhr fort, mir seinen Traum zu erzählen:
Der vielgereiste Rousg kannte nun allerdings viele Orte, an denen er sich verstecken konnte, sodaß die Anhänger Koums, die treu versuchten, den Todesbefehl auszuführen, gar nichts auszurichten vermochten. So verbrannten sie also die Schriften des Rousg, schikanierten seine Freunde und schlugen die Fenster der Läden ein, in denen es gewagt wurde, seine Bücher zu verkaufen. Sie mußten warten, bis der Dichter ihnen zwischen die Finger kam. Das aber geschah nie.
Der alte und weise Koum indessen, da nicht nur weise sondern auch alt, starb bald, und ein Nachfolger mit Namen Kamb folgte ihm nach, selbstverständlich ebenfalls weise, selbstverständlich ebenfalls alt.
Hob man, einsichtig, daß der Todesbefehl Koums nur einer zornigen Laune entsprang, diesen Befehl nun wieder auf ? Zeigte sich vielleicht Reue ? Wurde möglicherweise inzwischen der Sinn (beziehungsweise Unsinn) jenes anachronistischen Ausfalls erkannt ?
Auf alle drei Fragen lautet die traurige Antwort: NEIN ! Und so mußte sich der gehetzte Rousg, der nicht einmal ein Untertan des Koum gewesen war, auch weiterhin verstecken, mußte öffentliche Orte meiden und war vom Leben so abgeschnitten wie ein gefangener Fisch vom Wasser.
Hier hörte Hermes auf, zu erzählen und richtete seinen Blick auf mich (wie ich träumte), sagte jedoch nichts.
„Was erwartest Du ?“ fragte ich.
Er blieb stumm, doch begann mir eine Erinnerung im Hirn aufzuleuchten.
„Sag mal, dieser Rousg, jener vielgereiste Dichter, ist das nicht ...?“
„Stimmt genau.“ schmunzelte Hermes, um meine Gedanken wissend.
Er fing nun an, zu verblassen, kaum daß mir die Erkenntnis gekommen war.
„Hermes ! Du bist doch nicht hergekommen, nur um mir diese Geschichte zu erzählen ! Was soll das alles ? Was willst Du ?“
Hermes blickte verschlagen. „Das erfährst Du gleich. Ich muß nun jedoch gehen, es gibt noch andere Aufgaben. Zeus wird schon ungeduldig !“ Blasser, stetig blasser wurde er.
„Gib mir doch wenigstens ein Zeichen, einen Wink, was ich Deiner Meinung nach tun soll !“
„Kommt noch, kommt noch...“ hörte ich den Götterboten murmeln, dann sah und hörte ich ihn nicht mehr.
Mein Traum war allerdings noch nicht zuende. Es war nicht getan mit Hermes‘ Verschwinden.
Ich träumte, vom Boden abzuheben, zu schweben, und zwar durch das geschlossene Fenster meiner Parterrewohnung hindurch. Ich empfand dies als eine höchst unangenehme Erfahrung, die ich nicht zu bald wiederholen zu müssen hoffte. Nun glitt ich durch die kalte, frische, schneereiche Februarluft.
Bevor ich hier weitererzähle, möchte ich kurz etwas aufklären:
Vielleicht fragst Du Dich, geneigter Leser, warum ich kein Zeichen der Verwunderung, der Überraschung, des Erstaunens schildere, und mich das Erscheinen des Hermes ganz und gar nicht erschreckte ?
Es ist so, daß sich dieser Olympier schon längere Zeit, und zwar seit meinem siebzehnten Lebensjahr, in meine Träume stiehlt. Jawohl, stiehlt sage ich, denn ich habe ihn nie dazu aufgefordert, geschweige denn eingeladen ! Somit kenne ich diesen Vorgang schon in allen Einzelheiten, und er verursacht mir auch keine Panik mehr.Das Einzige, was ich regelmäßig von diesen „Mirakeln“ zurückbehalte, sind zwei Tage gräßlichster Halsschmerzen. Nur gut, daß solche Überfälle immer mit einem Abstand von Jahren, manchmal aber auch Monaten, erfolgen.
Warum Hermes gerade mir erscheint, was er mir in früheren Begegnungen offenbarte, das alles zu erzählen, würde hier zu weit führen. Darum, mit Deiner gütigen Erlaubnis, möchte ich jetzt weiter von meinem Traumerlebnis berichten:
Ich schwebte also, wie gesagt, durch die kalte Luft....Ja, natürlich nur im Traum !
Schwebte durch die Kälte und Dunkelheit jener Februarnacht über dem Straßenverkehr empor, immer schneller werdend in Richtung Osten.
Ich befand mich in so großer Höhe, daß ich die Konturen der Kontinente erkennen konnte,
und da ich von Europa nach Asien flog, muß es ja wohl Osten gewesen sein, wohin der mir auferlegte Kurs mich führte. Ist die Frage damit beantwortet ? Gut !
Mit ziemlicher Geschwindigkeit bewegte ich mich also auf Asien zu. Irgendwann glaubte ich, voll im Flug befindlich, und fasziniert von meiner fabelhaften Aussicht, plötzlich ein unmenschliches Gelächter zu vernehmen, das jedoch schnell wieder verklang. Ein Traum war es eben, da passieren die unerklärlichsten Dinge !
Über einem Land, gelegen zwischen Afrika und Asien, Arabien und Europa, wurde ich merklich langsamer, und ich begann, an Höhe zu verlieren. Wie stets, wenn ich vom Himmel zur Erde herniederging, verspürte ich einen stärker werdenden Druck auf meinen Ohren, verbunden mit einem Knacken, das klang, als ob Plastik geknickt wurde. Es gelang mir, durch regelmäßiges Schlucken und Atmen, den Druck auszugleichen. Ein Kaugummi wäre mir in dieser Situation sehr nützlich gewesen, doch da ich all dies nur träumte, war mir jede materielle Banalität verwehrt. Ab einer gewissen Höhe, es mögen vielleicht zwanzig bis dreißig Meter über der Erdoberfläche gewesen sein, machte es Plopp ! , und meine Ohren waren wieder frei.
Meine Landung erfolgte auf einem großen Platz, dessen Mittelpunkt ein Brunnen war. Dieser Brunnen fontainisierte unablässig eine rote Flüssigkeit, die allem Anschein und dem Geruch nach Blut war. Ich mußte mich, obgleich im Traumwandel befangen, sehr zusammenreißen, um mich nicht in den nächstbesten Busch zu übergeben. Am Ort und zum Zeitpunkt meines Reisebeginns war es Nacht ; hier, am offensichtlichen Zielpunkt gleißte die Morgensonne des Orients. Sie bestrahlte Dutzende von Menschen, in deren Mitte ich gelandet war. Niemand schien mich jedoch in meinem Aufzug, als eigentlich rechtschaffen schlafender Okzidentale im Schlafanzug, zu bemerken, geschweige denn von meinem spektakulären Auftauchen Notiz zu nehmen. Hin und wieder schielte mancher aber in Richtung eines großen Palastes, dessen Balkon prachtvoll mit farbigen Tüchern, sowie Gehängen aus Perlen und Papier geschmückt war. Ich beobachtete alte und junge Menschen, die in Gespräche vertieft, teils auf Bänken, teils am Beckenrand des Blutbrunnens saßen – Frauen und Männer, deren Gesichter die Zeichen versteckter Verzweiflung, Kummer und Gram, Resignation oder auch selten aufblitzenden Trotzes zeigte.
Unvermeidlich an Orten wie diesem sah ich auch Soldaten. Scheinbar unachtsam schlenderten sie in ihren staub- oder lehmfarbigen, immergrau wirkenden Uniformen über den Platz.
Im Lande des Koum befand ich mich nun, wie mir immer klarer wurde, an der Stätte, an welcher jene unheilvolle Todesbefehl gegeben worden war. Nicht nur, daß Hermes mich in meiner Nachtruhe gestört, ja, mich mit seiner Geschichte malträtiert hatte. Nun zwang er mich auch noch an den Ort des Geschehenen. Zwar reiste ich nur im Traum umher, doch empfand ich dies nicht minder anstrengend als wenn es tatsächlich geschehen wäre.
Ich träumte, daß der Brunnen, der soeben noch frisches Blut in die Höhe gespritzt hatte, mit einem Schlag gefror. In meinem Traum liefen alle Schiffe, die nach fernen Ländern ausgelaufen waren, dort Handelswaren zu verkaufen, unverrichteter Dinge wieder in den Heimathafen ein, vollbeladen mit nicht losgewordenen Gütern. Von den Quellen des Schwarzen Goldes träumte ich, daß sie versiegten und daß die riesigen Pumpen, gigantischen Hämmern gleich, die auf das ausgepresste Land einschlugen, bremsten und regungslos über dem heißen Sand verharrten. Und ich träumte, daß den Soldaten all ihre Waffen unzusammensetzbar in den Staub auseinanderfielen. Schreiber träumte ich, die in diesem Lande wohnten, die kein einziges Wort mehr schrieben, die so lange schwiegen, bis der Todesbefehl zurückgenommen und eine öffentliche Entschuldigung ausgesprochen wurde.
In diesem Land, das sein Lachen zu vergessen haben schien, träumte ich von einem sich brausend erhebenden Gelächtersturm, der alle Menschen, Frauen, Männer und Kinder erfaßte und alle Schleier, ob stofflich, ob gedanklich, von den Köpfen fortriß. Immer weitere solcher Bilder träumte ich, in immer schnelleren Abfolgen, bis sie sich in einem einzigen Wirbel, einem Bildertaumel zusammenballten und vereinigten.
Auf dem Gipfel der Halluzinationen sah ich einen alten und weisen Mann von dem prunkvollen Balkon herab sich an die fröhlich summende Menge wenden, noch mit Lachtränen in den Augenwinkeln. Er breitete seine Arme aus, um Ruhe zu gebieten. Dann fing er an, etwas zu verkünden.
Leider bekam ich nicht mehr mit, was dieser Mann zu sagen hatte, denn hier endete mein Traum abrupt, als das schnarrende metallische Rattern meines Weckers mich aus dem Schlaf riß. Als ich mich endlich aus den Tiefen des Schlafes emporgeschwungen hatte, bemerkte ich, daß ich den Wecker falsch gestellt hatte und zu spät zur Arbeit kommen würde.
Nächste Woche werde ich dann in der Zeitung lesen, wie es ausgegangen ist. Es war immer so mit Hermes‘ Träumen.