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Eine kurze Geschichte (2011-2018)
Ich sah die beiden schon, als ich an der Station wartete. Es regnete, er hielt ihr den Schirm und stand selbst im Regen. Sie stiegen eine Tür weiter vorne ein als ich – schweigend. Er – groß, nicht schlank, Kurzhaarfrisur, Lederjacke – ließ ihr den Vortritt. Sie – klein, weibliche Figur, mittellanges Haar – ließ sich mit einer Mischung aus Genervtheit und Müdigkeit auf einen Platz sinken. Er setzte sich schweigend neben sie. Dann fuhr die Straßenbahn an und sie schwiegen ein bisschen. Ich saß hinter ihnen. Er starrte sie ein wenig von der Seite an. Seine Gefühle schienen gemischt zu sein, eine Melange: Ärger, Zorn, Unverständnis, ein Hauch Liebe. Ich konnte die Unterhaltung der beiden nicht hören, aber ich sah seine sich bewegenden Lippen. Verschlafen blickte sie ihn an und antwortete einsilbig.
Die Straßenbahn blieb stehen. Menschen steigen aus, steigen ein, niemand schenkt den beiden Beachtung.
Er spricht sie wieder an. Sie sehen aus wie ein altes Ehepaar, aber da ist etwas Anderes. Sie sind kein Paar. Mehr.
Ihre eine Gesichtshälfte, die ich sehen konnte, zeigte Züge von Müdigkeit. Sie war ihn müde. Und er wusste es, aber er wollte es nicht wahrhaben.
Die nächste Haltestelle. Ich beobachte die beiden weiter. Menschen steigen aus und andere steigen ein. Niemand schenkt ihnen Beachtung, niemand achtet auf mich. Es geht weiter.
Wir fuhren dahin. Die beiden schwiegen. Es schien, als hätten sie einander nichts zu sagen. Aber offensichtlich war etwas unausgesprochen zwischen ihnen. Die nächste Station war in Sicht, er startete erneut einen Versuch, eine Konversation aufzubauen. Sie antwortete lebendiger. Offensichtlich stand ihr eine Befreiung von ihren Qualen unmittelbar bevor. Während die beiden sprachen, schien sich etwas verändert zu haben. Ich konnte es nicht bewusst wahrnehmen, es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Nicht lange genug, um es zu verstehen, aber lange genug, um es zu fühlen.
Er sagt etwas zu ihr. Die Hälfte seines Gesichts, die ich sehe, sieht traurig aus. Seine Mundwinkel sind nach unten gezogen. Für den Bruchteil einer Sekunde zuckten sie. Sie sieht ihn kurz an, dann wieder geradeaus. Er sagt etwas zu ihr, gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und steigt aus. Sie sieht ihm nicht hinterher, dreht sich demonstrativ zum Fenster. Ich sehe eine Träne in ihrem linken Augenwinkel, aber ihr Gesicht ist wie versteinert. Wir stehen an der Ampel, die Fenster sind offen. Ober uns dröhnt die Bahn. Plötzlich ein ohrenbetäubendes metallisches Quietschen, so als würde ein kilometerlanger Güterzug innerhalb einer Sekunde zum Stehen kommen. Es verstummt. Für eine Sekunde ist alles still. Jemand schreit auf. Die Türen schließen sich, war fahren weiter.
Sie heißt Stefanie. Er hieß Martin.