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Eine kurze Geschichte über den Gral

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19.06.2001
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Eine kurze Geschichte über den Gral

Eine kurze Geschichte über den Gral

Vom dunklen Dämmerraum schreibe ich. Sanftes Licht spiegelt sich in den Spiegeln zur Anderwelt. Der astrale Barkeeper schüttet mir den Soma des Erinnerns ein und ich entschließe mich, heute nur zu schreiben, nicht zu denken.
Über den Gral wollte ich schreiben (doch wer bin ich, irgendetwas zu wollen, ich, der Unwürdigste im Universum, das nach einer von Dalis letzten verbürgten Aussagen ein umgestülpter Handschuh ist.
Friede über Euren Feuern, Menschenkinder!
Ach ja, der Gral!
Ich habe jede Menge Bücher über den Gral gelesen. Indes, ich werde nun keines zu Rate ziehen, um das Gelesene wieder aufzufrischen. Was mir im Gedächtnis heften geblieben ist, möge genügen, der Rest sei Tand, schmückendes Beiwerk.
Es ist die Schule der Götter, von der ich mich erdreiste zu berichten, ich, Kreatur einer Laune des ewig Unerkannten, Amen, gepriesen sei sein Name. Allein, mir fehlen die Worte, den rechten Beginn zu wagen.
O Göttin, gestatte mir eine Vision!
Komm! Schließe die Augen und folge mir!
Siehst Du nicht auch eine Wüste? Von der Hitze unzähliger Jahre geborstene Felsen, Schluchten, gegraben von längst versiegten Rinnsalen. Heilige Felsenberge, flirrend in der Mittagsglut.
Israel! Heiliges Land! Hier wanderte einst der Schöpfer, hier wird er wieder wandern, gesegnet sei der Sand unter Deinen Füßen, Wanderer! Hier weiß das Auge nicht zu unterscheiden zwischen natürlichen Verwerfungen und Ausschüttungen und den Resten und Sedimenten längst vergangener Völker und Zeiten.
Doch! Dort oben, an einer Felsenkuppe, sind deutlich die Reste eines uralten Gemäuers auszumachen. Ein halb verfallener Fensterbogen öffnet sich zu einem weiten Tal, sichtbar über Meilen hinweg. Auf dem Sims des Fensters sitzt ein Mann und schaut auf die Ebene, die in der Ferne von steinernen Felsen begrenzt wird. Wenn er lange auf diese Felsen starrt, dann formen sich daraus Gesichter und das Gestein gewinnt Persönlichkeit, Leben für den einsamen Mann. Im Laufe der Jahre hat er es gelernt, mit diesen stummen Götzen zu leben, die ihr Antlitz in all dieser langen Zeit nicht um einen Deut verändert haben.
Nachts, wenn der Vollmond die weite Ebene in sein fahles Licht tauchte, war es manchmal, als würden Geister durch die Luft schweben und in seltenen Momenten schien die ganze Wüste zu beben vor verhaltenem Leben. Dann seufzte der Mann und schickte all dies zurück in sein Herz, aus dem immer wieder Illusionen aufstiegen, denen er sich immer schwerer entziehen konnte in seiner selbstgewählten Einsamkeit.
Denn er wartete. Wartete auf den Einen.
Er wußte, daß dieser kommen würde. Eines Tages. Er wußte weder den Tag noch die Stunde, doch eines Tages würde das ewige Gesetz die Schritte jenes Menschen durch die Ebene lenken, und dann wäre er zur Stelle, um das Ritual zu vollziehen.
Denn er hatte geschworen, dies zu tun, damals bei seiner Einweihung zum Priester des Obersten Gottes, der auch Göttin war, der alles in einem war, von dem auch er ein Teil war, genau wie jene Felsen dort und die Sonne und die Ebene und der Sand. Damals, bei seiner Einweihung, da hatte er dies alles verstanden und die Wahrheit hatte sich in sein Herz eingepflanzt, um nie mehr von dort zu weichen: Und aus diesem Grunde stieg in mancher Vollmondnacht sein Innerstes nach Außen und belebte die Ebene.
Wenn er zur Tag-und-Nacht-Gleiche die ganze Nacht durchwachte und zusah, wie sich das allnächtliche Schauspiel am Firmament vollzog, dann murmelte er manchmal den Namen, der ihm damals als Aufgabe und Mantram gegeben worden war: Melchisedek... Dann durchlief es ihn wie Feuer und der Kelch in seinem Herzen brannte und er wußte, daß es gut war, so wie es war.
Als dann endlich, in seinem 78. Lebensjahr, der erschien, auf den er all die Zeit gewartet hatte, hätte er ihn fast nicht bemerkt, denn er war nahezu erblindet und obendrein blendete ihn die Sonne.
Doch dann war er sich sicher: dieser Mann vor ihm, dieser zerlumpte Kerl, der nach Schafsmist stank, mußte der Ersehnte sein. Kein Anderer hätte es geschafft, die alte Ruine zu betreten, denn auf ihr lag der Zauber der Mächtigen, der nur von eben diesem Mann durchbrochen werden konnte: Abram!
Melchisedek blinzelte und war ein wenig enttäuscht. Er hatte ein charismatische Lichtgestalt erwartet, einen hünenhaften Führer der Menschheit. Doch der Kerl vor ihm sah aus wie ein beliebiger Nomade. Schwarze, verfilzte Haare, gedrungener Körperbau, sonnenversengte Haut und unglaublich schmutzig. Das Schlimmste aber für Melchisedek war, daß der Mann einen Dolch trug. Und Melchisedek sah, daß der Dolch voller Blut war. Ein Grauen durchzuckte ihn: Dieser Mensch hatte ein Lebewesen umgebracht!
Abram bemerkte, daß der Alte vor ihm beim Anblick seiner Waffe zusammenzuckte, verstand aber nicht den Grund. Vorsichtshalber legte er eine Hand auf den Knauf. Er bemerkte ein mißbilligendes Funkeln in den Augen des Alten, aber auch das konnte er sich nicht erklären. Er stufte jedoch sein Gegenüber als ungefährlich ein, also schnallte er seinen Dolch ab und legte ihn vor sich hin.
"Wer bist Du?" fragte er. "Und was machst Du hier in dieser Einöde?"
Melchisedek blickte Abram unverwandt an. Dieser Mensch sollte entscheidend sein für den weitern Verlauf der Weltgeschichte? So, daß in ferner Zukunft einmal Menschen in Frieden zusammenleben würden, damit sie dem Gebot der Liebe folgen könnten, um dadurch einen Schritt weiterzukommen in ihrer äonenlangen spirituellen Entwicklung?
`Nun, ich habe sicher nicht den Überblick'. Dachte er bei sich. `Es wird schon richtig sein, so wie es ist'. Deshalb antwortete er: "Ich bin Melchisedek, Priester des Höchsten Gottes, und ich werde Dir Brot und Wein bringen!"
Abram seufzte auf. "Das ist wirklich nicht das Schlechteste. Ich habe noch eine gute Strecke vor mir. Ich habe kämpfen müssen und bin erschöpft. Diese verdammten Sodomiten machen einem das Leben zur Hölle!"
Melchisedek erschrak. "Du hast Menschen getötet?" rief er aus.
Abram blickte verwundert auf. "Die Sodomiten sind Bastarde und Arschficker! Die verstehen nur eine Sprache!" Er kapierte nicht im Geringsten, was der Alte hatte.
Melchisedek wurde bleich. Dieser Kerl unterschied sich wirklich in überhaupt Nichts von den anderen Strolchen in dieser Gegend. Doch er stöhnte nur und brachte Abram das Brot. Der nickte anerkennend und stopfte es sich in seinen fast zahnlosen Mund. Melchisedek schüttelte sich und ging, den Kelch zu holen. Er füllte den Kelch und sagte dann zu Abram: "Schau ihn Dir gut an, den Kelch! Weißt Du, was Du da in der Hand hältst?" Abram schaute sich den Kelch an, konnte aber nichts besonderes an ihm entdecken. "Es ist der Kelch des Bundes. Nimm und trink daraus und tu dies zum Gedächtnis Gottes!" Dies waren die Worte, die er sagen sollte. Sie hatten sich ihm eingebrannt im Laufe der Jahre. Wieder und wieder hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, wenn er sie endlich würde sagen können. Und jetzt, da es endlich so weit war, fühlte er fast so etwas wie Bedauern. Abram nahm den Kelch, schaute aber verwundert drein. Er konnte mit den Worten des Alten nichts anfangen und war langsam der Überzeugung, daß dieser einen Sonnenstich hatte. Was sollte das Gefasel vom Höchsten Gott? Er kannte schließlich Gott. Gott hatte zu ihm gesprochen und ihm befohlen, Stadt und Heimat zu verlassen, und hatte ihn letztendlich zu diesem Nomadendasein gedrängt, das ihm keinen sonderlichen Spaß bereitete. Aber es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, sich gegen die Befehle seines Gottes aufzulehnen, denn sein Gott war streng und hart und duldete keinen Widerspruch. Vor allen Dingen mochte er es nicht, wenn man sich mit den Göttern anderer Stämme einließ. Er überlegte sich, ob er nicht einfach den Kelch zurückgeben und sich dann aus dem Staub machen sollte ohne daraus zu trinken. Wer weiß, was hier für ein Zauber mit ihm geschah. Ihm graute schon vor der Stimme seines Herrn, die ihn in seinen Träumen heimsuchen würde. Er blickte den Alten an. In dessen Blick lag eine tiefe Traurigkeit, die Abram sich nicht erklären konnte. Er brummte mißmutig und leerte den Kelch mit wenigen Schlucken.
Dann sprang er entsetzt zurück. Ein Getränk wie dieses hatte er noch nie getrunken! Es war, als habe sich ein Vorhang aufgetan in seinem Geist. Ein blendend helles Licht war mit einem Mal in seinem Kopf! Ihm wurde schwindlig und die ganze Wüste um ihn schien zu schwanken. Er stürzte auf den Alten und wollte ihn packen. "Du hast mich vergiftet!" schrie er. Doch Melchisedek wich zur Seite und fing den Kelch auf, der Abram aus der Hand geglitten war. Abram stürzte auf einen Stein und blieb regungslos liegen. In seinem Innern hatte ein Stern zu leuchten begonnen. Dieser Stern wurde immer heller und begann, ihn von Innen her zu verbrennen. Dieses Brennen war jedoch nicht unangenehm. Es war wie eine Läuterung. Als würde alles Böse, aller Haß aus ihm herausgebrannt.
Abram keuchte. Das Licht in ihm wurde heller und heller. Es war ihm als sei er selbst zu einem Stern am Firmament geworden. Für einen kurzen Augenblick war es, als sei ein Schleier von ihm genommen, und er fühlte, wie er mit unendlich vielen anderen Sternen um eine riesenhafte Zentralsonne kreiste und langsam, ganz langsam, in einer unendlichen spiralförmigen Bewegung auf diese Sonne zuschwebte. Dieses Gefühl war so überwältigend, daß er nicht verstehen konnte, wie man ohne die Kenntnis dieses Gefühls überhaupt existieren konnte. Das Überwältigendste jedoch war die Erfahrung der Liebe, die diese zentrale Sonne verströmte. Diese Erfahrung war derart gewaltig, daß es ihm die Tränen in die Augen trieb und er halb besinnungslos in den weichen Sand sank.
Er vergrub das Gesicht in den Händen und blieb lange Zeit regungslos liegen, starrte dann mit weit geöffneten Augen in den Himmel, der begonnen hatte, sich rot zu verfärben, da die Sonne sich anschickte, ihre Nachtfahrt anzutreten.
Melchisedek sagte nichts in der ganzen Zeit. Er wußte noch von seiner eigenen Initiation, was sich in Abram abspielte und er spürte, daß es nicht an der Zeit war, zu reden.
Schließlich, die ersten Sterne waren schon erschienen am gewaltigen Himmelsgewölbe, stand Abram auf und schaute Melchisedek in die Augen. Der, der nun Melchisedek anschaute, war ein anderer, als jener, der noch am Mittag vor ihm gestanden hatte, die Waffe in der Hand. Es schien, als sei der Mann innerhalb der wenigen Stunden um Jahre gereift.
Sie blickten sich lange an und es war eine Kommunikation ohne Worte. Sie gehörten nun beide dem selben Bund an.
Schließlich sagte Abram: "Was mache ich nun mit diesem Wissen? Du, Du hast Deine Aufgabe erfüllt, doch was soll ich machen? Soll ich zu meiner Herde und meiner Frau zurückkehren?"
Melchisedek lächelte. "Meine Aufgabe ist noch lange nicht erfüllt. Sie ist so alt wie die Schöpfung und ich werde sie noch für viele Generationen wahrnehmen. Der Mensch ist ohne Anfang und Ende. Er kehrt immer wieder, bis es hier nichts mehr für ihn zu tun gibt. Aber bis dahin ist es noch eine lange Zeit. Kehre Du ruhig zu Deinem Stamm zurück. Du hast die Stimme Gottes schon des Öfteren vernommen. Du wirst sie auch in Zukunft vernehmen." Auch Melchisedek stand auf.
"Doch wisse von dem Anderen!"
"Was meinst Du?"
Melchisedek deutete auf den Kelch in seiner Hand. "Es gibt auch den schwarzen Gral! Hüte Dich davor, aus jenem zu trinken, denn er bedeutet Tod und neues Leiden! Der Andere kann sich gut verstellen, und wenn Gott zu Dir spricht, wirst Du oft nicht merken, ob wirklich er es ist oder der Andere. Du kannst noch so initiiert sein. Auf dieser Welt liegen Täuschung und Wahrheit so dicht beinander, daß ein Mensch oftmals außerstande ist, sie voneinander zu unterscheiden. Ein Hinweis sei Dir hier gegeben. Gott würde Dir nie zum Töten raten, er würde nie den Haß oder den Streit lehren. Wenn Du also etwas derartiges vernimmst, dann sei Dir gewiß, es ist der Andere. Was er auch für Tricks unternehmen mag, wie sehr er sich auch verstellt, glaube ihm kein Wort!"
Dann reichte Melchisedek Abram den Dolch, der die ganze Zeit im Sand gelegen hatte. "So!" sprach er. "Und jetzt gehe hin und opfere Deinen Sohn!"

*


Stellen wir nun auf schnellen Vorlauf: Der Zauber wurde genommen von jener Ebene und der Ruine auf der Anhöhe. Melchisedek zog in eine geselligere Gegend und machte sich noch ein paar schöne Tage bevor er die Ebenen wechselte. Die Ruine verfiel mehr und mehr, bis auch der Torbogen verschwand. Die Menschen, die sich nach etlichen Jahrhunderten hier niederließen formten aus dem Staub der alten Steine neue und bauten eine Stadt, die größer und schöner war als alle Städte in der Gegend: Jerusalem!
Spulen wir weiter mit ganz schnellem Vorlauf, denn uns interessiert nicht die Geschichte des biblischen Volkes (nachzulesen in der Bibel), sondern die des Grals. Dieser wurde nach unendlich langer Zeit von Einem in den Händen gehalten, einem in der Ordnung des Melchisedek: Das neue Oberhaupt des Ordens, seit drei Jahren initiierter Sohn Gottes.
Das Ritual umfaßte dieses Mal mehrere Zelebranten, insgesamt dreizehn, eine Zahl, die seit jeher für Tod und Wiedergeburt gestanden hatte, und es war dieses Mal in den Ausmaßen eines Mysterienspiels angelegt worden. Es fand statt im mystischen Obergemach, einem heiligen Raum, der wiederum unter dem Zauber der Oberen stand, die nun alle hier versammelt waren, um den Ritus einzusetzen, der seine Kraft im neuen Äon entfalten sollte um zum Segen zu werden für viele.
Dieses Mal tranken sie alle aus dem Kelch, der langsam von Einem zum Anderen gereicht wurde, während er, der Stern des Neuen Zeitalters, die heiligen Worte sprach: Dies ist der Kelch des Neuen, des Ewigen Bundes!
Er war gekommen, die Opfer zu beenden, dem Haß, dem Leiden, dem Totschlag, der Sinnlosigkeit ein Ende zu bereiten, und, vor allem den Menschen die Angst zu nehmen, damit sie wieder aufblicken konnten als Sterne. Wisset Ihr nicht, daß Ihr Götter seid?
Er war sich bewußt: Dieses war genau der Ort, an dem vor langer, langer Zeit ein halbverfallener Torbogen gestanden hatte, und wenn er die äußeren Augen schloß und nach Innen sah, war alles noch da, die Ruine, die Ebene und die Felsen, jene steinernen Wächter am anderen Ende des Tales. Jerusalem, die geschäftige Metropole, in der Tag für Tag die Römer patroulierten, versank und wurde wieder zu Salem, dem Ort des Friedens.
Und er, er war der Hohepriester von Salem, eingesetzt von Gott. Und er war ohne Anfang und ohne Ende, gleich Melchisedek und all den Anderen...
Später, im Garten außerhalb der Stadt, als die Anderen schliefen, bekam er selbst Angst. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu, bedrohlich schlich sie näher, schien in jedem dunklen Schatten zu lauern, um ihn in einem unbedachten Moment anzuspringen wie ein mordlüsternes Tier. Er war trotz aller Einweihungen Mensch geblieben, mit allen Ängsten, Wünschen und Hoffnungen. Menschlich war er. Nichts menschliches war ihm fremd. Doch gleichzeitig war er auch Gott. Wie ein Januskopf schaute er nach hüben und drüben und war doch in beiden Welten gleichzeitig.
Doch da war die Angst!
Sie kroch zwischen den Steinen empor, fiel wie ein Schleier aus der schwarzen Nacht auf ihn hernieder und bedeckte ihn ganz und gar.
Und dann sah er ihn:
Den schwarzen Kelch!
Wie eine Vision schwebte er vor ihm, ungreifbar, doch von einer schemenhaften Wirklichkeit.
Und er kam immer näher.
Jesus lief zu den Anderem, doch die schliefen und schienen nichts von seiner Seelenqual zu merken.
"Warum müßt Ihr mich gerade jetzt alleine lassen!" murmelte er resigniert. Doch er flüsterte nur. Er wollte sie nicht aufwecken. Er ahnte, was sie würden durchmachen müssen in der nächsten Zeit. Und als er in den schwarzen Kelch schaute, sah er, was die Zeit bringen würde. Und er erschauerte.
Vater! Laß diesen Kelch an mir vorübergehen! Er sah das Leid und Elend über tausend und nochmal tausend Jahre hinweg. Er sah, wie sie weitermorden würden und kämpften und nicht vor den abscheulichsten Verbrechen zurückschrecken würden. Und er schrie in sich hinein und biß sich auf die Lippen, als er spürte, daß ein Großteil dieser Abscheulichkeiten in seinem Namen geschehen würde.
Er bedeckte seine Augen, doch etwas zwang ihn hinzusehen. Er durfte sich nicht abwenden.
Und dann sah er die Wenigen...
Und er packte den Kelch und leerte ihn bis zur Neige.

*

Spulen wir ein wenig weiter, nicht viel, nur bis zum nächsten Morgen. Da sitzt der Besitzer des Hauses, in dessen oberen Gemach am vorigen Tage das Ritual stattgefunden hatte, an seinem Tisch und betrachtete den Kelch, der von den Dreizehn zurückgelassen worden war. Es war ein schön gearbeitetes Stück und es schien schon sehr alt zu sein. Aus irgendeinem Grunde, den er jedoch nicht näher bestimmen konnte, faszinierte ihn der Kelch und er wand nur ungern sein Interesse von ihm ab und der Dienerin zu, die aufgeregt hereingestürzt kam.
"Sie wollen ihn kreuzigen!" rief sie außer Atem. "Den Barabas, den alten Hurenbock, wollen sie freilassen und ER wird gekreuzigt!"
Sie begann zu weinen. Der Jude stand auf. Unglauben stand in seinen Augen. Die Dienerin schluchzte. "Warum nur, Josef, warum?" Er hat doch keinem Menschen etwas getan!"
Er zuckte mit den Achseln. "Ich weiß es nicht!" Er ging zur Türe, den Kelch in den Händen. "Ich werde sehen, was ich tun kann!"
Draußen wogte eine Menschenmenge, durch die kaum ein Durchkommen war. Er verbarg den Kelch unter seinem Kaftan und ging in die Richtung, aus der die meisten Menschen kamen. "Ich muß jemanden aus seiner Gruppe finden!" dachte er bei sich . "Ich muß ihnen den Kelch zurückgeben!" Er zwängte sich durch die Gassen, die noch heißer waren als an den anderen Tagen, zumindest schien es ihm so, er kam kaum voran, so schwierig war es, gegen die wogende Menschenmenge anzuschwimmen, doch schließlich öffnete sich die Gasse vor ihm und er gelangte durch ein Stadttor ins Freie.
Der Weg stieg an und vor ihm sah er die Gruppe der Gekreuzigten. Von den Jüngern war keiner zu sehen. Die Menschenmenge hatte sich verzogen, die Legionäre interessierten sich nicht für ihn. Aus einem unerklärlichen Grund stand er mit einem Male ganz alleine zu Füßen des Gekreuzigten. Er blickte an ihm empor. Er war vollständig nackt und blutete aus mehreren Wunden. Sie mußten ihn geschlagen haben. Die Augen starrten ins Leere. Er schien nicht mehr bei Bewußtsein zu sein. "Gut für ihn." dachte Josef bei sich und wünschte ihm ,daß er es auch nicht mehr erlangen mochte. Ein Stöhnen von einem der anderen Kreuze war zu hören. Die Römer waren in irgendein Würfelspiel vertieft. Sie machten etwas derartiges fast alltäglich mit, es gehörte bei ihnen zur Routine. Die Gründe, aus denen jemand gekreuzigt wurde, wußten sie in den meisten Fällen nicht einmal. Sie hatten nur darauf zu achten, daß die Verurteilten auch oben blieben, bis das Urteil vollstreckt war.
Jetzt konnte Josef in der Nähe auch die Angehörigen des Gekreuzigten erblicken und einige der Jünger. Auch sie hatten ihn gesehen, schienen jedoch keine Notiz von ihm zu nehmen. Er überlegte sich, ob er zu ihnen gehen solle, um ihnen den Kelch zu geben, doch dann dachte er, daß es vielleicht besser sei, nicht mit den Kumpanen eines Verbrechers zusammen gesehen zu werden. Vielleicht konnte er auch so einiges für sie tun. Den Kelch würde er ihnen später zukommen lassen. Außerdem, er war kein Anhänger dieser merkwürdigen Sekte und hatte auch nicht vor, einer zu werden. "Der Erlöser," seufzte er. Ja, der würde jetzt wohl nicht da hängen.
Er verließ den grauenvollen Ort und begab sich zum Palast des Pilatus. Er spürte den Kelch unter seinem Gewand. Jetzt ärgerte er sich, daß er ihn mitgenommen hatte. Im Palast wurde er schnell vorgelassen, denn er kannte Pilatus gut, schließlich war er, Josef von Arimathea, einer der angesehensten Bürger in der Stadt. Daher bereitete es ihm auch keine Schwierigkeiten, bei Pilatus zu bewirken, daß der Gekreuzigte ein würdiges Begräbnis bekommen solle in einem Felsengrab außerhalb der Stadt. Ein Grab, daß er eigentlich für sein eigenes Begräbnis vorgesehen hatte.
Dann ging er nach Hause.
Erst als er die Türe hinter sich geschlossen hatte, wagte er es, den Kelch unter seinem Gewand hervorzuholen.
Er erschrak, als er bemerkte, daß sich sein Inneres verändert hatte. Er war nach wie vor leer, doch er schimmerte im Innern blutrot, und als er näher hinsah, war es, als sei er mit einer nebulösen, roten, fast gasförmigen Flüssigkeit gefüllt.
Gebannt schaute er in den Kelch. Er konnte sich dieses Phänomen nicht erklären. Er fühlte mit den Fingern, doch der Kelch schien trocken. Normal besehen war der Kelch leer, doch aus einem bestimmten Blickwinkel heraus schien er randvoll zu sein mit jener unbestimmbaren Flüssigkeit.
Er roch an dem Kelch.
Und dann führte er ihn an seine Lippen...
Es war, als würde ein Universum in seinem Kopf explodieren. Er schien aus seinem Körper herauskatapultiert zu werden und befand sich mit einem Male über seinem Haus und über der Stadt. Er wurde immer höher gesogen, die Erde unter ihm wurde kleiner und eine tiefblaue, fast schwarze Dunkelheit umgab ihn.
Dann blickte er um sich und sah, daß er nicht alleine war.
Er war gebettet in Leben, in unendliches, pulsierendes, freundliches Leben. Um ihn herum waren freundlich gesinnte Wesen, und es war, als würden sie ihn freudig begrüßen. Das Verblüffendste für ihn war: Die meisten schien er zu kennen. Es war, als sei er lange Zeit von ihnen getrennt gewesen, um sie nun wiederzufinden. Und er freute sich: Und sie freuten sich, daß sie sich wiedergefunden hatten.
Und da war noch jemand.
Er wußte, daß sie ihn anschaute. Er konnte sie nicht genau lokalisieren, denn hier schien es weder Zeit noch Raum zu geben, zumindest schienen Zeit und Raum anderen, ihm unerklärlichen Gesetzen zu folgen.
Sie schaute ihn an und er fühlte sich geborgen in ihrem Blick.
Und er spürte ihre Liebe, ihr Zutrauen und Wohlwollen.
Dann schwebte er mit ihr durch diesen raumlosen Raum und nun sah er vor sich ein Licht, ein freundliches, gütiges Licht, und auf das schienen sie nun zuzukreisen in langen Windungen eines Spiralarmes eines galaktischen Nebels...
Er riß die Augen auf, denn es rüttelte ihn jemand am Arm.
"Herr! Was ist mit Euch?" Seine Dienerin hatte sich über ihn gebeugt.
Er blickte verwirrt um sich und wurde sich gewahr, daß er zusammengesunken an seinem Tisch gelegen hatte. Der Kelch lag neben ihm. Sie mußte denken, daß er betrunken sei.
"Ich, ich habe die Shekina gesehen und bin mit ihr geflogen!" murmelte er. Dies schien in der Dienerin die Vermutung zu bestärken, daß ihr Herr nicht ganz nüchtern war, aber dies war ihm im Moment vollkommen egal. Er wußte nun ganz genau, was er zu tun hatte: Den Kelch sicher verstauen und warten, vierzig Tage lang...

*

Drei Jahre später landete ein reicher Jude mit einer beachtlichen Gefolgschaft, unter der sich auch eine junge Frau mit einem kleinem Kind befand, im römischen Hafen von Massila an der provencalischen Küste. Der Jude zog einige Tage nach Westen, wobei er sich lobend über den Straßenzustand der römischen Straßen äußerte. Irgendwo in Südgallien, nahe an den Pyrenäen, kaufte er ein kleines Anwesen, ließ sich dort mit seiner Gefolgschaft nieder (die junge Frau mit ihrem kleinen Kind war auch dabei), und harrte der Dinge. Er amüsierte sich königlich mit der jungen Frau, war sie doch einst eine Hure gewesen und war obendrein in die Geheimnisse der Sexualmystik eingeweiht. Dem Kind ging es prächtig. Es war übrigens nicht das Kind von Josef von Arimathea, und wir wollen es ganz offenlassen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war.
Josef lernte die Sprache der Einheimischen, um sich besser mit ihnen verständigen zu können. Sie gehörten dem Volk der Kelten an und waren ihrerseits lange Zeit gewandert, bis sie sich in jenem sonnigen Gestade niedergelassen hatten. Doch das war mittlerweile schon einige Generationen her und sie fühlten sich sehr wohl dort und gediehen ihrerseits prächtig. Josef gewann schnell ihr Vertrauen. Ihm fehlte die Arroganz der römischen Eroberer und er interessierte sich ernsthaft für die Sitten und Riten der Kelten. Vor allem mit dem Druiden führte er lange Gespräche. Dieser erzählte ihm eines Tages von dem Kessel des Bron, der in einer nebligen Festung im Norden von neun heiligen Jungfrauen bewacht wurde und der dem darin Badenden wundertätige Kräfte verleihen solle.
An einem Tag im Frühjahr durfte Josef an einem Fest teilnehmen, in dem ein kultischer Kessel eine zentrale Rolle spielte. Zu Beginn der Dämmerung wurde ein großer Kessel auf einer Waldlichtung aufgestellt und ein Feuer unter ihm entfacht. Der Druide rührte darin eine Lake mit verschiedenen Kräutern an. Schließlich wurde das Feuer gelöscht, so daß die Lake abkühlen konnte. Andere Lichter wurden angezündet und Männer und Frauen begannen nun, um den Kelch herum zu tanzen, während Trommel und Flöte eine immer wilder werdende Melodie spielten. Josef schaute dem Treiben zuerst distanziert zu, wurde jedoch schnell von der wachsenden Ekstase angesteckt und begann mitzutanzen. Seinen Höhepunkt erreichte das Fest, als die einzelnen Zelebranten nacheinander in den Kessel stiegen, kurz untertauchten und sich danach auf die Wiese legten, um sich erschöpft auszuruhen. Der Druide erlaubte auch Josef, in den Kessel zu steigen. Dabei hörte Josef, wie die Anderen einen Spruch murmelten:
"Heiliger Kessel, befrei ihn von der Fessel!"
Er tauchte unter. Die Lake roch aromatisch und schmeckte etwas bitter. Danach legte er sich erschöpft in das warme Gras und schloß die Augen.
Fast augenblicklich begannen die Visionen.
Sie waren nicht von Ruhe und Frieden getragen, wie jene Visionen, die er gehabt hatte, als er aus dem anderen Kelch getrunken hatte. Es begann vielmehr mit einer wilden Verfolgungsjagd: Er war ein Hase und wurde von einer durchgedrehten Hexe gejagt. In seiner Angst verwandelte er sich in einen Fisch, doch sie war noch immer hinter ihm her. Sie verwandelte sich immer genau in das Tier, das genau seine Spezies zu fressen geschaffen war. Er wurde zum Spatz, da verwandelte sie sich in einen Adler und hetzte ihm nach. Schließlich wurde er zu einer Mücke, doch da war sie schon eine Amsel auf Insektenjagd. Letztlich wandelte er sich in eine Forelle, da wurde sie zu einem Stör und fraß ihn.
Der Stör jedoch wurde fast sofort von einem Fischer gefangen und in einen Kessel geworfen. Genau in jenen Kessel, in den er vorhin gestiegen war.
Josef öffnete die Augen. Die Vision war vorbei. Der Druide saß bei ihm. "Nun weißt Du mehr über unser Volk, als Dich tausend Weise hätten lehren können." sagte er.
Josef nicke. Er hatte gehört, daß die Kelten keine Schrift kannten und ihre Geschichte nicht aufzeichneten. Jetzt konnte er auch den Grund verstehen.


*


Weiter in unserer Geschichte: Einige Jahrhunderte sind vergangen. Die Kirche hat sich überall in Westeuropa etabliert, die Kelten sind fast vollkommen von der Bildfläche verschwunden, im Sog der Völkerwanderung einfach in den anderen Völkern aufgegangen, ihr Mythos ist verschwunden und es gibt auch keine Aufzeichnungen über ihn, der letzte Druide liegt schon lange unter der Erde (sein Körper zumindest), Kessel wurden im Allgemeinen nicht mehr verehrt.
Überall entstehen Kirchen (seltsamerweise zumeist genau da, wo auch schon die alten heidnischen Kulte ihre Tempel hatten), in Südfrankreich gibt es auffallend viele Kirchen, die der heiligen Maria Magdalena gewidmet sind, und in einem Dorf nahe den Pyrenäen behaupten die Bewohner allen Ernstes, sie würden von Jesus Christus abstammen. Gerade hier, in Südfrankreich, gelingt es vielen sogenannten Häresien fuß zu fassen: Die Albingenser, die Katharer und jede Menge anderer Sekten, die merkwürdige eigene Anschauungen entwickeln, manche schon arg verschroben, das muß man zugeben (Nicht alles, was die offizielle Kirche bekämpft, wird automatisch zu etwas Gutem und Wahren).
In der Pyrenäenburg Montsegur hielten die Katharer einige Monate den päpstlichen Heeren stand, bis sie sich schließlich ergaben, um augenblicklich niedergemetzelt zu werden. Es hält sich jedoch die Mär, daß sich einige wenige der Katharer durch einen geheimen Gang haben retten können, und sie sollen einen Gegenstand bei sich gehabt haben, der für sie von zentraler Bedeutung gewesen sein muß, und man munkelt, das genau dieser Gegenstand der Grund gewesen war für den Haß der Kirche und die Angst, die dahintersteckte.
Ungefähr zu selben Zeit entstanden weiter nördlich seltsame Geschichten von lobesamen Recken und reinen Thoren, die sich aufmachten, den Gral zu suchen, der von den Templeisen in der Gralsburg Montsalvach gehütet wird, und der das Blut Christi enthalten soll. Man sagt, wer aus dem Gral trinkt, der weiß was. Was, weiß man nicht so genau, aber es würde zur Heilung des ganzen wüsten Landes beitragen. Neun Jungfrauen, so erzählt man, sollen den Gral umschreiten und würden ihn mit ihrem Atem erwärmen, und der König des Grals sei der sagenhafte Fischerkönig Amfortas, der an einer Wunde an seiner Seite leide, die ihm ein römischer Hauptmann namens Longinus beigebracht haben soll, und ein Schwert und ein Stein spielen in fast allen Versionen der merkwürdigen Geschichte eine Rolle. Sehr merkwürdig das Ganze.
Unzählige Geschichten gibt es über den Gral (Das Wort, so die Ethymologen, leitet sich vielleicht von sang real ab, was auf französisch wahres Blut heißt und sich auf das Blut Christi bezieht).
Eine kleine Geschichte will ich zum Abschluß noch zitieren, weil sie vielleicht einen Hinweis gibt.
Worauf?
Ja, auch das kann man nur im Dunkeln lassen. Die Geschichte steht ursprünglich im Gralsroman "Perlesvaus". Ich zitiere sie nach John Matthews, Der Gralsweg, Knaur, 1987, S.7.
"...Der Gralsroman "Perlesvaus" endet damit, daß das wundersame Gefäß entschwindet, um nie mehr am bisherigen Platz aufzutauchen, während der Ritter Perceval fortzieht in unbekannte Länder und die Gralsburg fortan leersteht und langsam verfällt. Die Leute fragen sich noch eine Weile, was das woh

 

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