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Eine kranke Seele
Das Zimmer sieht nicht so aus, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Es riecht auch nicht so.
Enge kann gemütlich sein, hier fühlt sie sich erdrückend an. Die altmodischen Bezüge der Holzstühle würden gut in das Wohnzimmer ihrer Großmutter passen, nicht aber in das Besuchszimmer der forensischen Psychiatrie.
Sie hatte es sich spektakulärer vorgestellt, mit mehr Metall und orangefarbenen Overalls, über der Szenerie ein Geruch von Plastik und kaltem Schweiß.
Hier aber steht nur ein Tisch mit vier Holzstühlen, deren Lehnen mit besagtem fragwürdigen Bezug überspannt sind, dahinter noch ein Tisch, an dessen Ende ein kleines Fenster in der Wand fahles Tageslicht herein lässt. Es ist ein grauer Tag.
Beklommen legen Vater und Tochter ihre Mitbringsel auf den hinteren Tisch, Pralinen und eine Tageszeitung.
Die Frau, die sie zu diesem Zimmer geführt hat, entschuldigt sich und sagt:
„Ich geh‘ ihn jetzt holen.“
Der Vater nickt zerstreut und als die Frau die Tür hinter sich schließt und der Schlüssel sich im Türschloss dreht, zuckt das Mädchen zusammen.
„Die hat uns eingesperrt.“
Der Vater stellt sich ans Fenster, mit dem Rücken zu ihr sagt er:
„Sie kommt schon gleich wieder.“
Es stimmt, keine fünf Minuten später dreht sich der Schlüssel erneut im Schloss, die Frau tritt ein, hinter ihr ein junger Mann.
Der Vater dreht sich um, geht auf ihn zu, schüttelt freudig seine Hand.
Das Mädchen betrachtet ihn aufmerksam. Der junge Mann ist groß, fettiges braunes Haar fällt in seine Stirn, er wirkt ungepflegt und aufgedunsen. Seine Augen sind schön, groß und blau. Hannes, habe eine kranke Seele, das hatte der Vater ihr erzählt. Platon sagt, die Augen sind der Spiegel der Seele.
Hannes Augen sind schön und trotzdem soll seine Seele krank sein.
Sie schüttelt seine Hand und sieht ihn an. Er weiß nicht, wer sie ist. Sie weiß, wer er ist. Aber sie kennt ihn nicht.
Sie versucht zu lächeln: „Ich bin Emma.“
Die Frau nimmt am Tisch hinter ihnen Platz, sie dürfen nicht alleine sein.
Der Vater sitzt Hannes gegenüber.
„Wie geht es Dir?“
Hannes mustert seine Hände. Emma auch. Sie sind grazil, lang und dünn. Richtige Frauenhände, die nicht zu seinem dicklichen Körper passen wollen.
„Die Gedanken gehen durcheinander.“
„Bekommst du Medikamente?“
„Psychopharmaka. Es macht mich langsam und schwer. Dreißig Kilo in sechs Monaten.“
Hannes sieht zur Uhr, die an der Wand hängt.
Er erzählt von der Zeit, bevor er hierher kam. Er sei auf der Straße gewesen.
Der Vater hatte ihr gesagt, Hannes hatte Geld gebraucht. Daher die vielen Frauen.
Hannes sieht erneut zur Uhr. Er macht das oft. Der Vater sackt jedes Mal ein wenig in sich zusammen. Bald sitzt er krumm da.
„Wie alt bist du?“ Emmas Stimme ist leise und heiser.
Hannes lächelt sie an.
„Dreiundzwanzig. Wie alt bist Du?“
„Zwölf.“ Emma lächelt.
Die Frau sagt:
„Bitte verabschieden Sie sich dann langsam. Die Zeit ist rum.“
Hannes steht auf, der Vater und Emma auch.
Sie schütteln die Hände.
Der Vater sieht aus als würde er sagen wollen, ‚Mensch, Junge. Warum bist du denn nicht zu mir gekommen?‘
Aber Hannes war zu ihm gekommen, der Vater hatte nur nicht die Tür aufgemacht.
Er sei ja gar nicht bei Sinnen gewesen, hatte der Vater ihr erklärt. Ihn hineinzulassen wäre gefährlich gewesen.
Aus den Augen des Vaters spricht Schuld.
Hannes sagt:
„Schön, dass ihr da wart.“
Dann sieht er zur Uhr.
Die Frau führt Hannes aus dem Zimmer, sie schließt hinter sich ab.
Emma und der Vater müssen warten, bis sie wiederkommt und sie hinausbringt.
Emma steht am Fenster, der Vater birgt das Gesicht in den Händen.
Als sie vor dem großen Haus stehen, schüttelt der Vater sich kurz.
„Papa, was hat Hannes gemacht?“
„Er hat Frauen wehgetan. Er hat das nicht böse gemeint. Seine Seele ist krank.“
Er legt den Arm um die Schulter seiner Tochter.
„Na, was hältst du von deinem Halbbruder?“
Emma sieht den Vater von der Seite an. Nasser Schnee fällt vom Himmel.
„Platon hat nicht Recht.“