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Eine kranke Seele

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05.11.2005
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Eine kranke Seele

Das Zimmer sieht nicht so aus, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Es riecht auch nicht so.
Enge kann gemütlich sein, hier fühlt sie sich erdrückend an. Die altmodischen Bezüge der Holzstühle würden gut in das Wohnzimmer ihrer Großmutter passen, nicht aber in das Besuchszimmer der forensischen Psychiatrie.
Sie hatte es sich spektakulärer vorgestellt, mit mehr Metall und orangefarbenen Overalls, über der Szenerie ein Geruch von Plastik und kaltem Schweiß.
Hier aber steht nur ein Tisch mit vier Holzstühlen, deren Lehnen mit besagtem fragwürdigen Bezug überspannt sind, dahinter noch ein Tisch, an dessen Ende ein kleines Fenster in der Wand fahles Tageslicht herein lässt. Es ist ein grauer Tag.
Beklommen legen Vater und Tochter ihre Mitbringsel auf den hinteren Tisch, Pralinen und eine Tageszeitung.
Die Frau, die sie zu diesem Zimmer geführt hat, entschuldigt sich und sagt:
„Ich geh‘ ihn jetzt holen.“
Der Vater nickt zerstreut und als die Frau die Tür hinter sich schließt und der Schlüssel sich im Türschloss dreht, zuckt das Mädchen zusammen.
„Die hat uns eingesperrt.“
Der Vater stellt sich ans Fenster, mit dem Rücken zu ihr sagt er:
„Sie kommt schon gleich wieder.“
Es stimmt, keine fünf Minuten später dreht sich der Schlüssel erneut im Schloss, die Frau tritt ein, hinter ihr ein junger Mann.
Der Vater dreht sich um, geht auf ihn zu, schüttelt freudig seine Hand.
Das Mädchen betrachtet ihn aufmerksam. Der junge Mann ist groß, fettiges braunes Haar fällt in seine Stirn, er wirkt ungepflegt und aufgedunsen. Seine Augen sind schön, groß und blau. Hannes, habe eine kranke Seele, das hatte der Vater ihr erzählt. Platon sagt, die Augen sind der Spiegel der Seele.
Hannes Augen sind schön und trotzdem soll seine Seele krank sein.
Sie schüttelt seine Hand und sieht ihn an. Er weiß nicht, wer sie ist. Sie weiß, wer er ist. Aber sie kennt ihn nicht.
Sie versucht zu lächeln: „Ich bin Emma.“
Die Frau nimmt am Tisch hinter ihnen Platz, sie dürfen nicht alleine sein.
Der Vater sitzt Hannes gegenüber.
„Wie geht es Dir?“
Hannes mustert seine Hände. Emma auch. Sie sind grazil, lang und dünn. Richtige Frauenhände, die nicht zu seinem dicklichen Körper passen wollen.
„Die Gedanken gehen durcheinander.“
„Bekommst du Medikamente?“
„Psychopharmaka. Es macht mich langsam und schwer. Dreißig Kilo in sechs Monaten.“
Hannes sieht zur Uhr, die an der Wand hängt.
Er erzählt von der Zeit, bevor er hierher kam. Er sei auf der Straße gewesen.
Der Vater hatte ihr gesagt, Hannes hatte Geld gebraucht. Daher die vielen Frauen.
Hannes sieht erneut zur Uhr. Er macht das oft. Der Vater sackt jedes Mal ein wenig in sich zusammen. Bald sitzt er krumm da.
„Wie alt bist du?“ Emmas Stimme ist leise und heiser.
Hannes lächelt sie an.
„Dreiundzwanzig. Wie alt bist Du?“
„Zwölf.“ Emma lächelt.
Die Frau sagt:
„Bitte verabschieden Sie sich dann langsam. Die Zeit ist rum.“
Hannes steht auf, der Vater und Emma auch.
Sie schütteln die Hände.
Der Vater sieht aus als würde er sagen wollen, ‚Mensch, Junge. Warum bist du denn nicht zu mir gekommen?‘
Aber Hannes war zu ihm gekommen, der Vater hatte nur nicht die Tür aufgemacht.
Er sei ja gar nicht bei Sinnen gewesen, hatte der Vater ihr erklärt. Ihn hineinzulassen wäre gefährlich gewesen.
Aus den Augen des Vaters spricht Schuld.
Hannes sagt:
„Schön, dass ihr da wart.“
Dann sieht er zur Uhr.
Die Frau führt Hannes aus dem Zimmer, sie schließt hinter sich ab.
Emma und der Vater müssen warten, bis sie wiederkommt und sie hinausbringt.
Emma steht am Fenster, der Vater birgt das Gesicht in den Händen.
Als sie vor dem großen Haus stehen, schüttelt der Vater sich kurz.
„Papa, was hat Hannes gemacht?“
„Er hat Frauen wehgetan. Er hat das nicht böse gemeint. Seine Seele ist krank.“
Er legt den Arm um die Schulter seiner Tochter.
„Na, was hältst du von deinem Halbbruder?“
Emma sieht den Vater von der Seite an. Nasser Schnee fällt vom Himmel.
„Platon hat nicht Recht.“

 

Hallo Mücke,

ich mag die Idee deiner Geschichte wirklich sehr!

Worüber ich aber die ganze Zeit nachdenken muss:
"Seine Augen sind schön, [...]"
"Platon sagt, die Augen sind der Spiegel der Seele."
"'Platon hat nicht Recht."'

-> Laut Platon hätte Hannes also eine schöne Seele. Emma sagt, das stimmt nicht.
Eine kranke Seele kann also nicht schön sein?

Mir gefällt die Geschichte aber darüber würde ich nochmal nachdenken...

 

Hey,

Danke sehr für die schnelle Kritik.
Ja, ich habe auch mit Platon gehadert.
Aber dann dachte ich, dass sie sich mit so etwas beschäftigt, zeigt, dass ihr Charakter tiefer geht. Dennoch ist sie mit der Situation überfordert, daher folgert sie, eine kranke Seele ist etwas negatives. Negatives kann nicht schön sein. Hannes Augen sind schön, seine kranke Seele ist schlecht, Platon hat Unrecht.
Es ist einfach gedacht, aber sie ist ja auch erst vierzehn!
Allerdings sollte ich das dem Leser wohl noch deutlicher machen, ist notiert.

Liebe Grüße!

 

Hej Mücke,

mir hat die Geschichte gefallen, auch wenn es hier und da kleinere Ungereimtheiten gibt. Ich finde sie vom Aufbau her gut gelungen und sie ist klar und einfach geschrieben.

Das Zimmer sieht nicht so aus, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Es riecht auch nicht so.
Enge kann gemütlich sein, hier fühlt sie sich erdrückend an. Die altmodischen Bezüge der Holzstühle würden gut in das Wohnzimmer ihrer Großmutter passen, nicht aber in das Besuchszimmer der forensischen Psychiatrie.
Sie hatte es sich spektakulärer vorgestellt, mit mehr Metall und orangefarbenen Overalls, über der Szenerie ein Geruch von Plastik und kaltem Schweiß.
Hier aber steht nur ein Tisch mit vier Holzstühlen, deren Lehnen mit besagtem fragwürdigen Bezug überspannt sind, dahinter noch ein Tisch, an dessen Ende ein kleines Fenster in der Wand fahles Tageslicht herein lässt. Es ist ein grauer Tag.
Für mich eine Super-Einleitung, weil ich mich trotzdem sofort in der Geschichte befinde.
Altmodisch ist nicht gleich fragwürdig.

Beklommen legen Vater und Tochter ihre Mitbringsel auf den hinteren Tisch, Pralinen und eine Tageszeitung.
Die Mitbringsel spielen später keine Rolle mehr. Wozu haben die beiden sie mitgebracht? Ich meine, warum baust Du sie nicht ein, wenn Du sie schon erwähnst?

Die Frau, die sie zu diesem Zimmer geführt hat, entschuldigt sich und sagt:
"Frau" klingt unspezifisch. Aber das war weder die Putzfrau, noch die Heimleitung, noch eine Besucherin.

Der Vater sagt, der junge Mann, Hannes, habe eine kranke Seele. Platon sagt, die Augen sind der Spiegel der Seele.
Hier wird nicht klar, ob der Vater es dort in diesem Raum oder ob sonstwo gesagt hat. Ich würd da 'nen Absatz machen und das zeitlich klären.

Vater sagt, Hannes brauchte Geld. Daher die vielen Frauen.
Hier wieder. Erklärt er es seiner Tochter in diesem Moment?

Da bleibt einiges offen. Emma sieht ihren Halbbruder zum ersten Mal, aber welche Bedeutung der Besuch für den Vater hat, bleibt unklar. Er könnte sich ebenso gut rechtfertigen als auch offenbaren wollen, oder auch eine Verbündete suchen.

Das mit Platon und der kranken Seele ist nicht eindeutig. Du sagst (Platon sagt):
1.Die Augen sind der Spiegel der Seele.
Emma stellt fest:
2.Hannes hat (wunderschöne) Augen.
Daraus schlussgefolgert sie entweder:
Seine Seele kann nicht krank sein.
Oder: Platon spinnt.
Oder beides?

Aber in der Geschichte präsentierst Du mir jedenfalls einen kranken Hannes. Vllt ist die kurze Erwähnung von Geldproblemen und Frauen, denen er weh getan hat zu vage. Ehrlich gesagt, ich kann mir dazu nichts vorstellen ...

Hab ich gerne gelesen.

LG
Ane

 

Hey Mücke,

Sie hatte es sich spektakulärer vorgestellt, mit mehr Metall und orangefarbenen Overalls, über der Szenerie ein Geruch von Plastik und kaltem Schweiß.

Das ist schön. Durch die Beschreibung, wie es eben nicht ist, entsteht ein Bild, wie es ist.

Der Vater nickt zerstreut und als die Frau die Tür hinter sich schließt und der Schlüssel sich im Türschloss dreht, zuckt das Mädchen zusammen.
„Die hat uns eingesperrt.“

Das fand ich auch stark. Das begreift man erst gar nicht, dass man hier auch weggeschlossen wird, obwohl man doch eigentlich nichts getan hat. Dass das wegen der Sicherheitsvorschriften passiert - und dann spürt man eigentlich erst, wie sich solche Vorschriften anfühlen.

Richtige Frauenhände, die nicht zu seinem dicklichen Körper passen wollen.

Das ist gut, dass Du das nochmal in anderer Form anbringst, dass an Hannes was nicht zusammenzupassen scheint. Augen und Seele nicht, Hände und Körper.

Hannes sieht erneut zur Uhr. Er macht das oft. Der Vater sackt jedes Mal ein wenig in sich zusammen. Bald sitzt er krumm da.

Dieses zur Uhr schauen, wie, wann hab ich hier endlich meine Zeit abgesessen, dieser stumme Vorwurf an den Vater, der den auch spürt.

Sie schütteln die Hände.

Ja, eine schöne unpersönliche Geste zwischen allen und doch persönlich genug, als das sie sie verbindet.

Aber Hannes war ja zu ihm gekommen, der Vater hatte nur nicht die Tür aufgemacht.

Das ist mir dann doch ein bisschen zu knapp abgehandelt. Eine klare Aussage, keine Frage, aber hier würde ich gern etwas mehr erfahren über die beiden. Aber das ist jetzt ganz persönliche Neugier. Ich denke nur, da könnte die Geschichte gewinnen, funktionieren tut sie ja schon.

Emma sieht den Vater von der Seite an. Nasser Schnee fällt vom Himmel.
„Platon hat nicht Recht.“

Ich weiß gar nicht, warum alle so Probleme damit haben. Ich fand den Schluss sehr logisch.
Bis dahin hat Hannes schöne Augen, dito auch eine schöne Seele. Nun, da sie jetzt weiß, er hat Frauen weh getan, täuschen die eben. Es ist nichts Schönes daran, wenn man Frauen vergewaltigt oder mordet oder schlägt, ich weiß ja jetzt nicht, was er genau getan hat. Auch wenn er krank ist, an diesem Fakt ist nichts Schönes.

Also, ich fand es stimmig. Die Bilder, das Szenario, die Aussage.
Gern gelesen, Fliege

 

Hallo,

Vielen Dank für die weitere Kritik.
Ich habe hier und da etwas verändert, aber Platon muss für mich drin bleiben, tut mir Leid.
Für mich macht es Sinn und ist zentral, um den Widerspruch zwischen Hannes Augen und seiner Seele, seiner Krankheit und seinem Wesen zu verdeutlichen.

Viele Grüße.

 

Ahoi Hoi!

Man sieht die Szenerie ein wenig durch die naiven Augen Emmas, das gefällt mir, genauso wie die ganzen Gegensätze. Nicht nur an Hannes, sondern auch im Raum scheint sich alles zu widersprechen.

Er weiß nicht, wer sie ist. Sie weiß, wer er ist. Aber sie kennt ihn nicht.
Sehr schön! Sie hat zwar von ihm gehört, aber wirklich kennen tut sie ihn nicht.

Der Vater hatte ihr gesagt, Hannes brauchte Geld.

Bin mir nicht sicher, aber würde nicht eher "Hannes hatte Geld gebraucht" passen? Sonst würde es ja heißen Hannes bräuchte im jetzigen Moment Geld.

Der Vater sieht aus als würde er sagen wollen, ‚Mensch, Junge. Warum bist du denn nicht zu mir gekommen?‘
Aber Hannes war zu ihm gekommen, der Vater hatte nur nicht die Tür aufgemacht.
Er sei ja gar nicht bei Sinnen gewesen, hatte der Vater ihr erklärt. Ihn hineinzulassen wäre gefährlich gewesen. Mit Hannes sei es so, erst wenn er vollkommen am Ende sei werde er es schaffen sich aus eigener Kraft aufzurichten. Und nur dann werde er aufrecht stehen bleiben können.
Aus den Augen des Vaters spricht Schuld.

Dieser Absatz scheint nicht recht zusammen zu passen. Zunächst gibt der Vater wohl nach außen vor, da gewesen zu sein. Dann wird das Gegenteil geschildert, danach sofort wieder die Stellungnahme des Vaters, die recht abweisend klingt. Dann spricht wieder die Schuld. Für meinen Geschmack etwas zu viel des Guten.

Das Thema Augen und Platon zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte, interessant. Aber Platons Zitat hätte ich vielleicht eher am Anfang irgendwo eingefügt oder an anderer Stelle noch eine Referenz zu dem Thema gemacht.

Lg

 

Hey Frankiestein,
Danke fürs Lesen und Deinen Kommentar.
Schön, dass dir die Geschichte gefällt.
Ich habe deine Zeitkorrektur übernommen, das klingt so auf jeden Fall besser.
Die Sache mit Platon muss ich mir nochmal durch den Kopf gehen lassen, wenn es du Beginn Erwähnung findet, würde es der Geschichte wahrscheinlich mehr Struktur geben. Da muss ich aber erstmal ein bisschen rumprobieren.
Liebe Grüße und einen schönen Sonnensonntag!

 

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