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Eine kleine Netzmusik
Ein offener Brief
(Ähnlichkeiten mit diesem oder anderen lebenden oder toten Literatur-Foren sind rein zufällig)
Mein lieber Neffe,
wie schon in meinem letzten Brief angekündigt, habe ich nun endlich den Schritt in die Welt der digitalen Kommunikation gewagt.
Nachdem ich mich zu meiner Überraschung erfolgreich durch die Installationsanweisungen des Internet-Anbieters gekämpft hatte, bin ich vor Freude erst einmal minutenlang wie ein Verrückter durch die Wohnung gehüpft.
Du wirst dir jetzt vermutlich an den Kopf greifen und mir heimlich gute Besserung wünschen, aber ich bin nun mal ein Kind jener Zeit, in der Mobiltelefone, Computer und E-mails noch nicht erfunden waren und in der die Kunst des Briefeschreibens noch gepflegt wurde. Zum Ausgleich gab es dafür nicht nur die freie Liebe, sondern obendrein jede Menge freie Parkplätze in der ganzen Stadt.
Um das Wichtigste vorweg zu nehmen: Dein Onkel Lupus ist seit kurzem kein unbekannter Schriftsteller mehr! Diese Zeiten der Anonymität sind endgültig vorüber, denn ich bin vor zwei Wochen stolzer Online-Autor bei >www.geilegeschichten.de< geworden. Seitdem sitze ich lauernd wie eine Spinne im Netz und habe mich bei den Kollegen als Kritiker mindestens so beliebt gemacht wie Marcel Reich-Ranitzky. Aber lass dir nun mein erstes Abenteuer im virtuellen Kosmos schildern.
Es war ein höchst aufregender Abend für mich. Anmelden, Passwort, Einloggen; mir stand schon der Schweiß auf der Stirn, noch bevor ich die Bestätigung über meine neue Mitgliedschaft in der exquisiten Gilde der Online-Kurzgeschichtenschreiber erhalten hatte.
Nach einer Weile vorsichtigen und ehrfurchtsvollen Navigierens im unbekannten Kosmos hatte ich plötzlich das gesuchte Texteingabe-Fenster des Autoren-Forums auf meinem Monitor.
Aber nun, da ich endlich bis zu jener Website vorgedrungen war, brach mir erst recht der Schweiß aus allen Poren. Aus Gründen der Neugierde und der Vorsicht entschloss ich mich, erst einmal einige der Konkurrenz-Beiträge auf der Homepage zu lesen. Ich wollte nicht blinden Auges meine beste Kurzgeschichte auf das Schafott der Öffentlichkeit schicken.
Also las ich wahllos etliche Texte und war mehr als erstaunt.
Unglaublicher Schrott, war mein erster Eindruck; ungezählte Manuskriptseiten voll mit literarischem Sperrmüll. Da kann ich doch locker mithalten, dachte ich, also nichts wie `ran an den Speck!
Markieren, Kopieren, Einfügen und „klick“ – schon stand meine erste Manuskript-Veröffentlichung im Netz. Unübersehbar, makellos formatiert und für jedermann lesbar. Meine Geschichte, ganz oben auf der Liste der Neuerscheinungen!
Es ist eine völlig abgedrehte, phantastische Erzählung über einen Samurai, mühsam verfasst in einem elaborierten Sprachstil. Für einen Aufmerksamkeit erregenden Einstieg – quasi mit Paukenschlag - schien mir dieses kurze, literarische Kleinod am geeignetsten. Na ja, jedenfalls noch bis vor zwei Tagen.
Das Echo der unbekannten Leserschaft war äußerst verhalten, um nicht zu sagen, es gab überhaupt keines. Sowohl mein Beitrag als auch ich als neuer Autor schienen einfach Luft für diese Online-Menschen zu sein.
Mir war sofort klar, dass ich die Aufmerksamkeit dieser anonymen Brüder und Schwestern auf eine besondere Weise kitzeln musste, um sie auf das großartige neue Talent in ihren Reihen hinzuweisen.
Also entschloss ich mich, einige Beiträge meiner hartnäckig schweigenden Konkurrenz per Antwort-Funktion öffentlich zu rezensieren; mit freundlichen Worten natürlich, aber in der Substanz durchaus kritisch.
Das war endlich ein gelungener Stich in’s Wespennest!
Umgehend hagelten mir die Protestmails aufgebrachter, beleidigter und missverstandener Autoren und Autorinnen auf den Monitor.
Allerdings hatte ich schlafende Hunde geweckt, die sich wider Erwarten nicht lustvoll-kritisch in meinen literarischen Beitrag verbissen, sondern in die virtuellen Waden des anmaßenden Kritikers.
Dieweil schaufelten schreibende Kolleginnen und Kollegen aus allen Teilen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz mit erstaunlichem Fleiss unentwegt neue Beiträge in’s Netz, was zur Folge hatte, dass meine schöne Geschichte mit erschreckendem Tempo auf der Neuigkeiten-Liste der Website nach unten rutschte und in kürzester Zeit über deren Rand hinweg in’s virtuelle Nichts abgestürzt sein würde. Und das, ohne auch nur eine einzige Zeile der Kritik oder eines Kommentars mit in den Tod zu reissen!
Nicht mit mir, dachte ich grimmig und beteiligte mich umgehend mit einer weiteren Kurzgeschichte an der Schauflerei.
Du wirst es schon erraten haben, mein lieber Neffe; es geschah wieder nichts, keine Reaktion, auch nicht am nächsten Tag, obwohl meine Geschichte in’s „Board“ ganz sicher wie ein vollgetankter Jumbojet in einen Wolkenkratzer eingeschlagen hat.
In meinem Herzen begann spürbar schlechte Laune aufzukommen.
Da erschlossen sich mir rein zufällig und vor allem rechtzeitig weitere Feinheiten der Website-Navigation. Ich entdeckte nämlich die Funktion >Autorenlounge<, das ist so etwas ähnliches wie die Künstler-Garderobe hinter der Bühne. Ich loggte mich sofort ein und stieß dort auf folgende vertrauliche Mitteilung:
Singender Wolf
Liste deiner Geschichten und deren Bewertung:
1. > Der illustrierte Samurai <
Benotungen: keine.
Bemerkungen: keine.
Anzahl der Leser: 13.
Ich war völlig überrascht. Mein Glaube an die Solidarität der schreibenden Mehrheit war schlagartig wieder hergestellt!
Die zweite meiner Kurzgeschichten verzeichnete gar einen Zugriff von dreiundzwanzig neugierigen Lesern. Dreiundzwanzig Leser in nur acht Tagen, das musst du dir einmal vorstellen! In der Summe waren das sechsunddreißig Interessenten, also zehn mal mehr, als ich je in meinem privaten Freundeskreis im Laufe von drei Jahren habe rekrutieren können.
Es gab also hinsichtlich der Leserschaft tatsächlich eine deutliche statistische Signifikanz, die eine aufsteigende Tendenz auswies.
„Heiliger Bill Gates, ich danke dir“, flüsterte ich überwältigt und sann sofort darüber nach, wie ich nun weiter vorgehen sollte, um meinen Bekanntheitsgrad als neuer Autor möglichst dramatisch zu steigern.
Leider fiel mir dann trotz reiflichen Nachdenkens nichts Dümmeres ein, als umgehend eine weitere Geschichte zu veröffentlichen. Es war einfach zu verlockend und ich fühlte mich dabei so sicher und allmächtig wie ein Heckenschütze; ein paar Mausklicks, und schon staunt das überraschte Millionenpublikum auf’s Neue.
Dieses mal stellte ich eine saftigderbe Persiflage über den aktuellen TV-Rummel „Deutschland-sucht-den-Superstar“ in’s Netz; Titel:
DER STARPRODUZENT
Am nächsten Tag hatte sich zwar die statistische Signifikanz insgesamt weiterhin verstärkt, aber die Anzahl der Leser meines ersten Beitrages stagnierte plötzlich. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass mich eine leichte Panik erfasste!
Spätestens in zwei Tagen würde mein erstes Manuskript, an das ich so viele Erwartungen geknüpft hatte, von der Neuigkeitenliste verschwunden sein; einfach vergessen und im Orkus einer fremden Festplatte verschwunden, für immer unrezensiert.
Ich nahm erst einmal ein heisses Bad, um in Ruhe über diese bedrohliche Leser-Stagnation nachzudenken.
Ein Mangel an literarischer Qualität konnte wohl kaum die Ursache des Desasters sein, das war für mich von vorne herein natürlich völlig ausgeschlossen. Es lag vermutlich auch nicht am fehlenden Willen, einer vorübergehenden Leseschwäche oder gar am schlechten Geschmack des Publikums.
Das Badewasser wurde schon langsam kalt, als ich schließlich zu der Erkenntnis gelangte, dass ich schlicht und einfach die Grundregeln der Promotion missachtet hatte.
Wie Schuppen war es mir plötzlich von den Augen gefallen:
ES IST DER TITEL, DUMMKOPF!
Noch im Bademantel bin ich an den Computer gestürzt, um die Überschrift meiner Kurzgeschichte online zu editieren. Jede Minute war jetzt kostbar angesichts des drohenden Absturzes in die virtuelle Sondermülldeponie für überflüssige Literatur.
Das war vermutlich die genialste Entscheidung, die ich als Autor im Zusammenhang mit meinen Veröffentlichungen jemals getroffen habe.
Innerhalb eines Tages konnte ich nicht nur die enorme Anzahl von achtundachtzig Lesern für meine letzte Geschichte interessieren, sondern auch die Quote für meine übrigen Beiträge war rasant angestiegen. Plötzlich wurde ich als Schriftsteller nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch noch online mit jeder Menge virtueller Lorbeeren bedacht.
Andy Warhol hatte schon Recht; jeder Mensch hat einmal im Leben seine fünf Minuten der Berühmtheit.
Es grüßt dich herzlich,
dein Onkel Lupus
PS.: Fast hätte ich vergessen, den genialen neuen Titel zu erwähnen. Die Geschichte heißt seit gestern schlicht und einfach:
>DER SUPERSTAR-FICKER<