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Eine interessante Frau
Eine interessante Frau
Zwei Frauen blickten durchs Gitter von ferne,
die eine sah Schlamm und die andere Sterne.
Die Menschenschlange vor dem Check-in Schalter im Flughafen Zürich war bereits lang, als ich mich hinten anstellte. Damit hatte ich zu dieser Jahreszeit nicht gerechnet. Vermutlich wollten alle vor dem Wintereinbruch noch etwas Sonne tanken. Als ich mich umschaute, sah ich eine Frau, die sich mit einem Rollator mühsam auf uns zu bewegte. Ihr ganzes Gepäck bestand aus einer Reisetasche. In diesem Moment ging eine Hostess auf die Frau zu und führte sie nach vorne zur Gepäckaufgabe. Was für eine nette Geste.
Im Flugzeug sass die Frau eine Reihe vor mir. Aus einem Gespräch mit ihrem Nachbarn vernahm ich, dass sie das gleiche Hotel gebucht hatte.
An einem der nächsten Tage trafen wir uns im Hotelgarten. Die Frau interessierte mich. Trotz ihrer Behinderung hatte sie eine starke Ausstrahlung. Sie wirkte ausgeglichen, heiter und gelassen. Sollte ich mich zu ihr setzen? Ich war unschlüssig. Vielleicht würde sie es als Belästigung empfinden. Plötzlich schaute sie auf und unsere Augen trafen sich. Sie lächelte und zeigte auf den leeren Stuhl an ihrem Tisch: "Kommen Sie und trinken Sie mit mir einen Kaffee. Ich heisse Susanna."
Ich staunte über ihre Offenheit. Sie erzählte von Ferien, die sie mit ihrem Mann früher hier verbracht hatte. Dabei zog sie ein kleines Fotoalbum aus ihrer Tasche und zeigte mir davon einige Bilder.
„Mein Mann ist vor zwei Jahren während einer Operation gestorben. Das war ein harter Schlag. Ich hätte ihn noch so gebraucht." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und so blieb es still zwischen uns beiden.
"Man muss loslassen können", sagte Susanna nach einer Weile, "und ich habe gedacht, dass mir das an dem Ort, wo wir sehr glücklich waren, besser gelingen würde."
Wir genossen die wohltuende Wärme der Sonne und die Schönheit des Gartens. Susanna konnte sich darüber freuen wie ein Kind.
"Seit ich durch die Krankheit in meinen Aktivitäten eingeschränkt bin, lebe ich viel bewusster und intensiver", erzählte sie. "Ich nehme Dinge wahr, an denen ich vorher achtlos vorbei gegangen bin: eine Blume am Wegrand, das Lächeln eines kleinen Kindes, das Singen eines Vogels, das Glitzern auf dem Wasser eines Sees oder wie hier auf dem Meer.“
Plötzlich war da ein verschmitztes Lächeln auf ihrem Gesicht und sie sagte: "Eigentlich habe ich das noch niemandem erzählt. Aber bei Ihnen empfinde ich eine Vertrautheit, die ich sonst kaum erlebe. Erzählen Sie mir etwas von sich."
Ihre direkte Art verwirrte mich und zog mich zugleich an.
Was sollte ich schon erzählen? Mit ihrem Schicksal verglichen, kam mir alles unbedeutend vor. Sie sah das anders. Sie interessierte sich für meine Kindheit, für mein Leben als Single und für meine Arbeit als freie Journalistin bei einer Zeitung.
Als wir ein anderes Mal zusammen Kaffee tranken, getraute ich mich zu fragen, ob sie sich nie gegen ihr Schicksal aufgelehnt habe.
„Am Anfang schon", sagte sie, "da war die Warum-Frage mein täglicher Begleiter. Aber mit der Zeit wandelte sich dieses Warum in ein Wozu. Und das ist für mich wie ein Wunder. Ich hätte genau so gut in der Warum-Frage versinken und eine verbitterte alte Frau werden können."
„Und, hast Du eine Antwort bekommen?“ Inzwischen waren wir beim Du angelangt.
Susannas Blick schweifte aufs offene Meer hinaus. Sie schaute einem Frachter nach, der langsam am Horizont verschwand. Dann sagte sie:
„Eine endgültige Antwort habe ich nicht erhalten und doch hat mich das Schicksal, wie Du es nennst, dazu geführt, dass ich mich mit der Frage auseinandersetzte: Wer bin ich eigentlich und welchen Wert hat mein Leben? In unserer Gesellschaft zeigt das Wertebarometer tief nach unten, wenn du chronisch krank bist und nichts mehr leisten kannst. Eines Tages habe ich dann angefangen, in der Bibel zu lesen. Etwas, das für mich früher undenkbar war. Und da machte ich eine Entdeckung. Gott sagt dort, dass er mich liebt und ich in seinen Augen wertvoll bin, ohne etwas leisten zu müssen. Das hat mich berührt."
„Hat sich dadurch in Deinem Leben etwas verändert?“, wollte ich wissen.
„Mein Selbstwertgefühl ist gewachsen. Ich bin nicht mehr so stark auf die Anerkennung anderer angewiesen und das ängstliche Sorgen im Blick auf die Zukunft ist kleiner geworden.
Soll ich Dir verraten, was ich mache, wenn es mir nicht gut geht?“, fragte Susanna nach einer Weile. Da war ich aber gespannt.
„Ich singe.“ Ich war verwirrt. Singen, das war das Letzte, an das ich dachte, wenn es mir schlecht ging.
„Früher habe ich in einem Chor gesungen“, erzählte Susanna. „Das hat mir Freude gemacht. Leider geht das wegen meiner Krankheit nicht mehr. Jetzt singe ich eben allein, obwohl meine Stimme heiser klingt. Ein Lied mag ich besonders gern. Ein Mann hat es geschrieben, der selber viel Schweres erlebt hat: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuss gehen kann.“
Auch die Psalmen sind mir eine Hilfe. Dort habe ich gelernt, dass man Gott alles klagen darf. Und oft erlebe ich, wie der Schalter umgedreht wird und ich aus dem Klagen herauskomme und ich danken kann für das Gute, das ich habe.“
Nach den Ferien ist der Kontakt mit Susanna geblieben. Sie ist mir eine echte Freundin geworden. Später musste sie ins Pflegeheim. Die Krankheit war stark fortgeschritten.
Hörbar singen konnte sie nicht mehr. So sang sie ihre Lieder, die ihr immer wieder neuen Mut und Kraft gaben, im Herzen weiter.
An einem kalten Novembertag klingelte bei mir zu Hause das Telefon. Es war Susanna. Für ein Gespräch war sie zu schwach. Sie musste nach Atem ringen, doch wollte sie mir unbedingt noch etwas sagen. Es war ein Satz aus ihrem Lieblingslied: „Er wird auch Wege finden, da dein Fuss gehen kann.“
Drei Tage später sah ich Susanna im Traum mit vielen Menschen einem grossen Licht entgegen gehen. Sie trug ein Ordensband über der Brust. Ihr Gesicht strahlte vor Freude.
Als ich am Morgen die Post aus dem Briefkasten nahm, war ihre Todesanzeige dabei.