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Eine interessante Frau

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24.01.2015
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Eine interessante Frau

Eine interessante Frau

Zwei Frauen blickten durchs Gitter von ferne,
die eine sah Schlamm und die andere Sterne.


Die Menschenschlange vor dem Check-in Schalter im Flughafen Zürich war bereits lang, als ich mich hinten anstellte. Damit hatte ich zu dieser Jahreszeit nicht gerechnet. Vermutlich wollten alle vor dem Wintereinbruch noch etwas Sonne tanken. Als ich mich umschaute, sah ich eine Frau, die sich mit einem Rollator mühsam auf uns zu bewegte. Ihr ganzes Gepäck bestand aus einer Reisetasche. In diesem Moment ging eine Hostess auf die Frau zu und führte sie nach vorne zur Gepäckaufgabe. Was für eine nette Geste.

Im Flugzeug sass die Frau eine Reihe vor mir. Aus einem Gespräch mit ihrem Nachbarn vernahm ich, dass sie das gleiche Hotel gebucht hatte.
An einem der nächsten Tage trafen wir uns im Hotelgarten. Die Frau interessierte mich. Trotz ihrer Behinderung hatte sie eine starke Ausstrahlung. Sie wirkte ausgeglichen, heiter und gelassen. Sollte ich mich zu ihr setzen? Ich war unschlüssig. Vielleicht würde sie es als Belästigung empfinden. Plötzlich schaute sie auf und unsere Augen trafen sich. Sie lächelte und zeigte auf den leeren Stuhl an ihrem Tisch: "Kommen Sie und trinken Sie mit mir einen Kaffee. Ich heisse Susanna."

Ich staunte über ihre Offenheit. Sie erzählte von Ferien, die sie mit ihrem Mann früher hier verbracht hatte. Dabei zog sie ein kleines Fotoalbum aus ihrer Tasche und zeigte mir davon einige Bilder.
„Mein Mann ist vor zwei Jahren während einer Operation gestorben. Das war ein harter Schlag. Ich hätte ihn noch so gebraucht." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und so blieb es still zwischen uns beiden.
"Man muss loslassen können", sagte Susanna nach einer Weile, "und ich habe gedacht, dass mir das an dem Ort, wo wir sehr glücklich waren, besser gelingen würde."

Wir genossen die wohltuende Wärme der Sonne und die Schönheit des Gartens. Susanna konnte sich darüber freuen wie ein Kind.
"Seit ich durch die Krankheit in meinen Aktivitäten eingeschränkt bin, lebe ich viel bewusster und intensiver", erzählte sie. "Ich nehme Dinge wahr, an denen ich vorher achtlos vorbei gegangen bin: eine Blume am Wegrand, das Lächeln eines kleinen Kindes, das Singen eines Vogels, das Glitzern auf dem Wasser eines Sees oder wie hier auf dem Meer.“
Plötzlich war da ein verschmitztes Lächeln auf ihrem Gesicht und sie sagte: "Eigentlich habe ich das noch niemandem erzählt. Aber bei Ihnen empfinde ich eine Vertrautheit, die ich sonst kaum erlebe. Erzählen Sie mir etwas von sich."
Ihre direkte Art verwirrte mich und zog mich zugleich an.

Was sollte ich schon erzählen? Mit ihrem Schicksal verglichen, kam mir alles unbedeutend vor. Sie sah das anders. Sie interessierte sich für meine Kindheit, für mein Leben als Single und für meine Arbeit als freie Journalistin bei einer Zeitung.

Als wir ein anderes Mal zusammen Kaffee tranken, getraute ich mich zu fragen, ob sie sich nie gegen ihr Schicksal aufgelehnt habe.
„Am Anfang schon", sagte sie, "da war die Warum-Frage mein täglicher Begleiter. Aber mit der Zeit wandelte sich dieses Warum in ein Wozu. Und das ist für mich wie ein Wunder. Ich hätte genau so gut in der Warum-Frage versinken und eine verbitterte alte Frau werden können."
„Und, hast Du eine Antwort bekommen?“ Inzwischen waren wir beim Du angelangt.
Susannas Blick schweifte aufs offene Meer hinaus. Sie schaute einem Frachter nach, der langsam am Horizont verschwand. Dann sagte sie:
„Eine endgültige Antwort habe ich nicht erhalten und doch hat mich das Schicksal, wie Du es nennst, dazu geführt, dass ich mich mit der Frage auseinandersetzte: Wer bin ich eigentlich und welchen Wert hat mein Leben? In unserer Gesellschaft zeigt das Wertebarometer tief nach unten, wenn du chronisch krank bist und nichts mehr leisten kannst. Eines Tages habe ich dann angefangen, in der Bibel zu lesen. Etwas, das für mich früher undenkbar war. Und da machte ich eine Entdeckung. Gott sagt dort, dass er mich liebt und ich in seinen Augen wertvoll bin, ohne etwas leisten zu müssen. Das hat mich berührt."

„Hat sich dadurch in Deinem Leben etwas verändert?“, wollte ich wissen.
„Mein Selbstwertgefühl ist gewachsen. Ich bin nicht mehr so stark auf die Anerkennung anderer angewiesen und das ängstliche Sorgen im Blick auf die Zukunft ist kleiner geworden.
Soll ich Dir verraten, was ich mache, wenn es mir nicht gut geht?“, fragte Susanna nach einer Weile. Da war ich aber gespannt.
„Ich singe.“ Ich war verwirrt. Singen, das war das Letzte, an das ich dachte, wenn es mir schlecht ging.
„Früher habe ich in einem Chor gesungen“, erzählte Susanna. „Das hat mir Freude gemacht. Leider geht das wegen meiner Krankheit nicht mehr. Jetzt singe ich eben allein, obwohl meine Stimme heiser klingt. Ein Lied mag ich besonders gern. Ein Mann hat es geschrieben, der selber viel Schweres erlebt hat: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuss gehen kann.“
Auch die Psalmen sind mir eine Hilfe. Dort habe ich gelernt, dass man Gott alles klagen darf. Und oft erlebe ich, wie der Schalter umgedreht wird und ich aus dem Klagen herauskomme und ich danken kann für das Gute, das ich habe.“

Nach den Ferien ist der Kontakt mit Susanna geblieben. Sie ist mir eine echte Freundin geworden. Später musste sie ins Pflegeheim. Die Krankheit war stark fortgeschritten.
Hörbar singen konnte sie nicht mehr. So sang sie ihre Lieder, die ihr immer wieder neuen Mut und Kraft gaben, im Herzen weiter.

An einem kalten Novembertag klingelte bei mir zu Hause das Telefon. Es war Susanna. Für ein Gespräch war sie zu schwach. Sie musste nach Atem ringen, doch wollte sie mir unbedingt noch etwas sagen. Es war ein Satz aus ihrem Lieblingslied: „Er wird auch Wege finden, da dein Fuss gehen kann.“

Drei Tage später sah ich Susanna im Traum mit vielen Menschen einem grossen Licht entgegen gehen. Sie trug ein Ordensband über der Brust. Ihr Gesicht strahlte vor Freude.

Als ich am Morgen die Post aus dem Briefkasten nahm, war ihre Todesanzeige dabei.

 

Schön, mal wieder was von Dir zu lesen,

liebe Marai,
und noch schöner, dass Paul Gerhardt in dem zitierten Gedicht/Kirchenlied quasi den Kommentar zu dieser unaufgeregt und solide erzählten Geschichte gibt:

„Dem Herren musst du trauen,
Wenn dirs soll wohlergehn,
Auf sein Werk musst du schauen,
Wenn dein Werk soll bestehn.
Mit Sorgen und mit Grämen
Und mit selbsteigner Pein
Läßt Gott ihm gar nichts nehmen,
Es muß erbeten sein“,

selbst wenn auf mich an anderer Stelle in seinem Werk gemünzt sein könnte

„Ich leider als ein Sündenkind
Bin von Natur zum Guten blind,
Mein Herze, wann dirs dienen soll,
Ist ungeschickt und Torheitvoll“*,

denn zwo Flusen heb ich auf,

Check- in
ohne Leerstelle zwischen Bindestrich und in, nebst einem Komma vorm Infinitiv lass ich nachtragen
Eines Tages habe ich dann angefangen[,] in der Bibel zu lesen.

Wie immer gern gelesen vom

Friedel,
der noch ein schönes Wochenende nebst angenehmeren Hundstagen als heute wünscht!


*Aus: P.Gerhardt.: Herr, aller Weisheit Quell und Grund

 

Lieber Friedel,

Natürlich gilt das auch für mich: "Ich leider als ein Sündenkind bin von Natur zum Guten blind...."

Herzlichen Dank, dass Du die Geschichte gelesen hast. Und danke für die Korrektur.

Die zweite Strophe des Liedes, die Du aufgeschrieben hast, ist schon für viele eine Hilfe geworden. Für mich auch.

Auch Dir wünsche ich ein schönes Wochenende.
Marai

 

Hallo Marai,

erst mal ein kelines Fehlerchen:

„Früher habe ich in einem Chor gesungen“, erzählte Susanna..
Zwei Punkte sind einer zu viel.

Und sonst kann ich die Geschichte von vorne bis hinten unterschreiben. Vom Warum zum Wozu kommen - in wie vielen Gesprächen habe ich diesen befreienden Weg weitergegeben. Es hat mich sehr gefreut, diese Erkenntnis auch bei Dir zu lesen. Gerade war die Pflegerin da und wir kamen auch unf dieses Thema und haben uns mehrere Minuten unterhalten können. Und so zieht Deine Geschichte Kreise.
Noch kann ich in den Gottesdienst mit Rollstuhl und dort laut mitsingen, aber zu Hause singe ich im Kopf oder besser gesagt es singt in meinem Kopf. Meistens Lieder mit dem Thema "In mir ist Freude in allem Leide."

Sehr gerne gelesen.

Liebe Grüße

Jobär

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Jobär,

Dass Du zum Inhalt der Geschichte ja sagen kannst, freut mich sehr. Das zeigt mir, dass Du die Warum- und Wozu-Frage selber durchbuchstabiert hast. Dieser Prozess ist nicht einfach und ich denke, er ist nicht ein für alle Mal abgeschlossen. Dass Du diese Erfahrung in Gesprächen weitergeben kannst, finde ich wunderbar.

Du schreibst, dass es in Deinem Kopf singt. Das finde ich jetzt sehr interessant, da ich eine ähnliche Erfahrung mache. Seit Jahren lebe ich mit einer chronischen Schmerzkrankheit und singen ist für mich Therapie. Schon zu Hause haben wir viel gesungen und dadurch habe ich als Kind viele Lieder auswendig gelernt, wie z.B. das Lied "Befiehl du deine Wege", von Paul Gerhardt.

Ab und zu steigen diese Lieder in mir auf, ohne dass ich danach suche. Und ich habe den Eindruck: Es singt in mir. Diese Lieder sind für mich ein Schatz und eine Hilfe.

Lieber Jobär, ich danke Dir für Deine Worte und wünsche Dir weiterhin alles Gute. Möge es in Dir noch lange singen!

Liebe Grüsse
Marai

 

Liebe Marai,
es hat mich gefreut, in deinem Text das Lied von Paul Gerhardt zu finden, mit dem ich groß geworden bin. Meine Familie war evangelisch und lebte am katholischen Niederrhein in der Diaspora.
In der kleinen - ehemals evangelischen - Grundschule, die ich besuchte, hing eben dieses Lied (ich glaube, es waren die ersten drei Strophen) an der Wand und wir Kinder konnten es, wenn wir denn wollten, jeden Tag lesen.
Die ‚selbsteigne Pein’ hatte es mir angetan. Pein war irgendwie noch klar, aber ‚selbsteigne’, nein das habe ich nicht verstanden, eigentlich bis heute nicht.
Um die Pein, das Leiden geht es auch in deiner Geschichte. Die gepeinigte Frau, von der du erzählst, hat einen Weg gefunden, ihr Selbstwertgefühl zurückzugewinnen und mit ihrem Leiden fertig zu werden. Ihr hilft der Glaube an Gott und – ganz alltäglich – auch das Singen.

Sie hat damit nicht nur eine Möglichkeit gefunden, ihre Klagen anzubringen, sondern darüber hinaus kann sie auch danken – etwas, was einem Nichtgläubigen verwehrt ist. Wem sollte er danken für seine Gesundheit, sein langes Leben? Das ist der Preis, den wir für die Aufklärung zahlen. Ich habe meinen Frieden damit gemacht, freue mich über jeden Tag, den ich gesund und zufrieden erleben kann. Lebe aber auch mit dem Wissen, dass alles mit meinem Tod zu Ende sein wird. Manchmal finde ich den Gedanken sehr schade. Aber ein Zurück zum Glauben kann ich mir nur sehr schwer vorstellen.
Umso glücklicher kannst du, liebe Marai, über deine Glaubensgewissheit sein. Wie du in deiner Geschichte zeigst, stärkt sie den gläubigen Menschen in Zeiten der ‚Pein’ und zeigt ihm Wege aus ihr hinaus.

Ich wünsche dir einen schönen Tag.
barnhelm

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo barnhelm ,

Vielen Dank für Deine Rückmeldung. Dass das Lied von Paul Gerhardt an der Wand Deiner Schule hing, finde ich erstaunlich. Wo gibt es heute noch so was!

Ja, die "selbsteigne Pein", gibt einem schon Rätsel auf. Ich denke, dass Paul Gerhardt damit ausdrücken wollte, dass wir mit all unserem Sorgen und Abmühen und sogar mit tapfer durchgestandenem Leiden, Gott nicht zwingen können, uns etwas zu geben. Alles ist bei ihm freies Geschenk. Aber wir dürfen ihn bitten.

Du schreibst: "umso glücklicher, liebe Marai, kannst du über deine Glaubensgewissheit sein."

Das war nicht immer so. Ich bin mit einem strengen Gottesbild aufgewachsen. Jahre später, als ich in den Evangelien sah, wie Jesus mit den Menschen umging und hörte wie er sagte: "Wer mich sieht, sieht den Vater", veränderte sich in einem längeren Prozess mein Gottesbild.

Ich erkannte, dass Gott mich liebt und so annimmt wie ich bin und dass er dafür keine Gegenleistung fordert. Das war für mich befreiend.

Liebe barnhelm, ich danke Dir für Deine Wort und wünsche Dir alles Gute.
Marai

 

Hallo Marai,

ich habe deine Geschichte, die zum Nachdenken anregt, gerne gelesen.
Es ist für mich etwas schwierig, hierzu etwas zu sagen. Inhaltlich völlig okay, nachvollziehbar, nachdenklich, positiv.
Erzähltechnisch stört mich, dass du zuviel runtererzählst. Sind zwar Dialoge drin, aber es wäre schön gewesen, du hättest etwas mehr die Krankheit dieser Frau beschrieben. Wie äußerte sie sich? Das kam mir zu wenig rüber und ich konnte daher zu wenig "fühlen".

Gruß, Freegrazer

 

Hallo Maria,

Danke für den Kommentar. Ich bin an folgender Aussage von Dir hängen geblieben:
"Fülle meinen Verstand bis zum Bersten voll, dann wird es dir sicherlich gelingen, mich traurig zu stimmen."

Liebe Maria, das war nicht meine Absicht, mit dieser Geschichte jemand traurig zu stimmen. Ich wollte einfach von meiner Freundin Susanna erzählen, die trotz schwieriger Situation nicht verbitterte, sondern Gott vertraute.
Übrigens, sie war weder Zeugin Jehovas noch eine extreme Gläubige, sondern eine einfache Frau, die versuchte ihren Glauben im Alltag zu leben.

Danke für den Zuspruch: Kopf hoch! Den kann ich brauchen.

Eine gute Woche wünscht Dir
Marai

 

Hallo Freegrazer,

Es freut mich, dass Dich die kleine Geschichte zum Nachdenken anregt. Und danke, dass Du sie überhaupt gelesen hast.
Vielleicht sollte ich tatsächlich etwas mehr über die Krankheit von Susanna, die übrigens meine Freundin war, erzählen. Ich denke darüber nach. Danke für den Tipp.

Alles Gute wünscht Dir
Marai

 

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