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Eine Herbstliebe lang
Er hat gesagt, er werde sterben. Irgendwann in ferner Zukunft. Früher als ich. Ich glaubte ihm nicht.
Drei Jahre sind vergangen, nachdem diese Worte gefallen sind.
Die Zukunft hat mich eingeholt. Ungesagtes steht zwischen mir und seinem Sarg. Ich bin nur eine Randfigur. Seine Familie steht im Vordergrund. Sind die, die die Hand geben. Sind die, die Trost gespendet bekommen, sind die, die zum Leichenschmaus gehen. Sind die, die weinen.
Meine Tränen sind verschüttet. Quellen nicht hervor. Bleiben in der Tiefe, in der ich sie vor Jahren begraben habe. Ich blinzele durch meine Sonnenbrille. Der Sarg ist schlicht.
Er hatte mir ins Ohr geflüstert, er tritt besser aus der Kirche aus. Unsere Körper waren heiß und wund gescheuert. Mein Gesicht brannte von seinen Küssen. Wie auch meine Scham. Der Gedanke an einen Kirchenaustritt war mir unheimlich. Ich dachte an die feierliche Zeremonie beim Tod meiner Oma. Das Ave Maria in der Kirche schallte erhaben über unsere Köpfe hinweg in den Himmel.
Wer sollte denn die Grabrede halten, wenn nicht ein Pastor?
Der Redner ist gut. Besser als ich es erwartet hatte.
Den Mann im Sarg habe ich bis zum Wahnsinn geliebt. Er hatte mich verlassen.
Klammheimlich.
Eines Morgens wachte ich auf. Er fickte mich. Verbissen. Ich schmollte kussbereit. Er rollte sich von mir. Ich hörte die Tür zuklappen. Ich stand auf, sah durchs Fenster, wie er in ein Auto stieg. Am Steuer saß eine blonde Frau.
Ich hörte auf, zu existieren.
Ich lernte ihn zu der Zeit kennen, als mein Studium an der Uni in Hamburg begann, mich tödlich zu langweilen. Ich hatte die Nacht durch gemacht und mich nervte der Gestank von Wodka und Zigarettenqualm. Es war noch früh am Morgen, als ich meinen Rucksack packte und zum Bahnhof fuhr. Ich wollte in die nächstbeste Bahn einsteigen. Egal wohin. Der Zug nach Sylt war fast leer. Ich ließ mich in den Sitz fallen. Ich sah durch die Scheibe auf den Bahnsteig. Ein paar Tauben pickten nach Zigarettenstummeln. Eine Frau im grauen Regencape umflatterte aufgeregt ihre Küken, bis sie diese endlich samt deren Gepäck in dem Waggon nach Dagebüll untergebracht hatte. In meinem Abteil blieb es ruhig. Der Zug ruckte.
Überall waren Plätze frei, doch der Kerl musste mir gegenüber Platz nehmen. Mit jammernder Miene, betrachtete der Kerl seinen Daumen. Eine halbe Stunde später pellte er mit diesem Daumen ein Ei.
Ich köpfe meine Eier immer. Ich habe auch immer ein Schweizer Taschenmesser zur Hand.
„Darf ich?“
Die Klinge trennte das Obere vom Unteren.
„Bitte.“
Der Kerl starrte auf die zwei Hälften.
„Nun essen Sie doch!“
Der Kerl hatte ein schmales Gesicht und schwarze, leicht fettige Haare. Er starrte abwechselnd auf die Eihälften und auf mein Messer. Der Zug wurde langsamer. Meine Hände zitterten. Das Ei fiel zu Boden.
„Tut mir leid.“
„Ich habe noch ein zweites.“
Er reichte mir das Ei und ich köpfte es.
„Danke! Haben Sie auch einen Löffel an dem Wundermesser?“
Ich wurde rot. Natürlich nicht. Er pellte das Ei und biss hinein.
„Kein Salz?“
Er schüttelte den Kopf. Er wusste sich zu benehmen. Mit vollem Mund beglotzte er mich.
Um seine Augen herum waren Fältchen. Sie lachten mich an.
Wenige Stunden später lagen wir im Hotelzimmer. Engumschlungen und nassgeschwitzt berührte der Kerl meine Seele.
Ich hätte aufstehen und fortgehen können. Mich anziehen und das Hotelzimmer verlassen. Doch stattdessen versank ich in einem Strudel.
Es ebbte. Die Nacht war pechschwarz. Wir gingen an den Strand, traten auf Muscheln und Krebsgetier, die das zurückweichende Meer frei gelegt hatte. Die Schwärze des Wassers war unheimlich. So stellte ich mir das Blindsein vor. Ich tastete nach seiner Hand.
Er nahm sie und führte meine Finger an seine Lippen. Ich stolperte. Ich war über einen toten Seehund gefallen. Angeekelt wälzte ich mich ich mich über den Sand. Wollte fort von diesem kalten Fleisch. Ich jammerte, er griff mir zwischen die Oberschenkel.
Muscheln und Krebsgetier zerschrammten meine Haut am Hintern, als er auf mir lag. Ich konnte ihn nicht sehen, nur fühlen. Und hören. Ich breitete meine Arme aus. Ich öffnete mich in dieser Dunkelheit, wie ich es nie zuvor gewagt hatte. Der Wind und das Meer brausten.
Es flutete. Die Wellen umspülten meine Beine und ich erwachte. Blassgrau erhob sich der Morgen. Er war fort. Ich trollte mich zurück ins Hotel und trank mit einem Achselzucken den Wein aus der Minibar leer. Ein Kerl hatte mich gebumst. Es war schön gewesen und geil. Mit diesem Gedanken schlief ich auf dem Fußboden ein.
Er fickte mich sanft von hinten. Sprach leise mit mir. Es war wie Einschlafen und Träumen zugleich.
„Wo warst du?“
Er starrte mich an, mit seinen lachenden Augen.
„Bei meiner Frau.“
Ich drehte mich zu ihm und küsste seine Kehle. Zog sein Gesicht in meinen Schoß.
„Ich komme in die Hölle.“
Er murmelte es leise. Ich spürte seine Tränen auf meinem Bauch. Seine Zunge glitt abwärts. Wie eine Schaufensterpuppe lag ich auf diesem kalten Boden. Die Poren meiner Haut verschlossen sich kurz, um sich anschließend wieder weit zu öffnen.
„Gott vergibt dir, du armer Sünder!“
Ich kochte über.
Seine Haare waren zerwühlt. Er lehnte mit nacktem Oberkörper an der Wand und erzählte.
Erzählte mir von seiner Frau, seinen zwei Kindern, seiner Arbeit. Er war Steuerberater. Sprach von Treue und Monogamie. Und er zeigte mir Bilder.
Dreimal blond und scheu blickt die Familie in die Kameralinse.
Ich beobachtete ihn, wie er das Bild betrachtete. Es machte mir Angst.
Der Kerl auf dem Bild trägt ein blondes Mädchen auf den Schultern. Der Kerl auf dem Bild grillt mit einem blonden Jungen Würstchen am offenen Lagerfeuer. Der Kerl auf dem Bild steht neben einer blonden Frau, ganz in Weiß, und lächelt siegesgewiss ins Kameraobjektiv. Die blonde Frau auf dem Bild hat die Lider halb geschlossen, den Blick nach unten gerichtet, auf den rosa Strauß in den Händen. Auf dem letzten Bild steht sie seitwärts vor einem Spiegel und betrachtet einen überdimensional großen Bauch.
Er ist Vater von Zwillingen. Ich gab ihm die Bilder zurück.
„Hat deine Frau dir die Eier mitgegeben?“
Er nickte. Ich strich ihm über den Kopf. Sein Haar wurde bereits schütter.
„Und was war mit dem Daumen?“
„Geklemmt beim Kofferschließen.“
„Tollpatsch!“
„Sagt meine Frau auch immer.“
„Liebst du sie?“
Er spreizte meine Beine. Berührte meine Brüste.
„Ihr Busen ist zu klein. Nicht so schön wie deiner.“
Sein Haar war schwarz, mit silbernen Fäden durchzogen. Er war über fünfzig. Er hatte Falten um die Augen und seine Hodensäcke hingen ein wenig. Es war geil. Sein Schwanz war fett. Er befriedigte mich. Mehr wollte ich nicht. Seine Frau konnte ihn behalten.
So dachte ich.
Ich nahm einen Job als Zimmermädchen in einem Hotel in Westerland an. Meine Familie wußte nur, ich war auf Sylt, vielleicht ein Semester Pause vom Studium, um die Kasse aufzubessern.
Die Tage waren sehr heiß und die Insel ächzte unter der Last der Tagesgäste. Ich war fix und fertig. Ich wollte am Abend an den Strand. Sangria trinken und er wich mir aus.
Statt mit mir zu vögeln, erzählte er von seiner Ehe und seiner Scham und das machte mich rasend. Ich beschimpfte die Art, wie seine Hemden gebügelt waren und nannte ihn einen Arsch. Heulte. Behutsam wischte er meine Tränen fort.
Hand in Hand den Flutsaum entlang. Die Gischt schäumte und flog über den Strand. Übermütig jagte ich den Silbermöwen hinterher. Die Haut überzogen mit Sonne und Sand. Klare Sicht bis zum Horizont. Da sagte ich es ihm. Ich wollte ihn,ganz, und nicht mit dem Kopf woanders. Er sagte, er wäre zu alt. Ich lachte. Küsste seine Brust und zog ihn in die Dünen. Seine Fingerspitzen klopften leicht gegen meinen Oberschenkel, als ich mich an ihn schmiegte.
Der Sommer ging seinem Ende zu.
Er fickte mich zum Abschied. Im Halbschlaf, wie ich es so gerne mochte. Meine Brüste spannten. Er küsste meine Brustwarzen, saugte an ihnen. Flüsterte mir ins Ohr, wie sehr er mich liebte. Und ich liebte ihn. Bis ich das Ticket fand: Hamburg Hauptbahnhof, Fensterplatz und die Adresse einer Klinik.
Drei Jahre später bin ich einer Zeitungsanzeige mit schwarzen Rand gefolgt und kondoliere der blonden Frau. Höre, wie seine Tochter fragt:
„Mama, wer ist das?“
Endlich kann ich weinen.